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Schönwalde, Brandenburg

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April 1945

Ich werde mich für immer an die braune Uniform erinnern. Eine braune Jacke, eine braune Hose. Ich erinnere mich an nichts sonst, nicht daran, ob er ein freundliches Gesicht hatte oder ein fieses.

Ich weiß, er ist ein Familienvater aus dem Dorf, wohnt im letzten Haus vor der großen Wiese, danach führt die Straße durch den Wald nach Basdorf. Er ist einer von einer Handvoll SA-Männern in unserem Dorf. Die letzten Jahre hat er mit seinen Kumpanen über das Dorf gewacht. Nein, Angst und Schrecken haben sie hier nicht verbreitet, dafür waren sie zu eingebunden in die Dorfhierarchie, und es gab ja auch niemanden, den sie jagen konnten. Er war einfach immer da, nicht gut anzusehen, mein Vater hat ihn gemieden, so wie er alles mied, das mit Hitler zu tun hatte. Doch nun spürt der Mann, dass es zu Ende geht. Er fährt auf dem Fahrrad durch unsere Siedlung, ich höre ihn, bevor ich ihn sehe, weil er in seiner Hand diese Glocke hält und ständig und vernehmbar bimmelt.

Er ruft: »Schönwalde wird geräumt. Die Russen sind schon über die Oder. Schönwalde wird geräumt.«

Dann fährt er weiter. Wer gerade weiter hinten im Garten ist, wird es nicht hören. Aber was sollen wir schon im Garten machen? In unserem Garten liegt eine Brandbombe. Seit gestern Mittag. Gestern war Hitlers Geburtstag.

In den letzten Jahren sind wir häufig im Keller gewesen oder im Bunker weiter hinten in der Straße. Es gab viele Luftangriffe, die schweren Flieger, die großen Bomben. Nebenan in Basdorf ist die Bramo, das Werk der Brandenburger Motorenwerke, zu BMW gehören sie, und sie bauen dort Flugzeugtriebwerke und reparieren Flugmotoren. Die Briten bomben über unseren Dörfern und manchmal sind wir tagelang nur im Keller.

Dann kamen die Tiefflieger. Ziemlich plötzlich, der Alarm hatte uns nur drei Minuten gegeben. Es waren kleine Flugzeuge, ich habe eines gesehen, direkt über uns. Die Brandbombe landete im Garten und zündete nicht. Sie hätte auch nichts anrichten können, in diesem Jahr hatten wir nichts angebaut.

Zweiundzwanzig Meter. So weit lag sie vom Hauseingang entfernt. Zweiundzwanzig Meter weiter westlich. Dann wäre unser Haus abgebrannt.

Ein Splitter des Angriffs traf meine Schulfreundin in die Brust, sie war auf dem Weg zu ihrer Mutter, mitten auf der Dorfstraße. Sie schaffte es noch bis zu ihrem Haus, dann brach sie zusammen. Sie kam ins Krankenhaus, sie konnte nicht mit uns fliehen.

Die Russen. Einmal im Monat bin ich im Kino gewesen, mit Elfriede, auch 44 noch, als das Kriegsende weit weg schien, und wir, die Deutschen, auf der Siegerstraße. Meine Chefin, bei der ich das Pflichtjahr absolviert hatte, steckte mir immer eine Reichsmark zu. »Aber sag es niemandem, Ilse«, sagte sie immer. Das Kino lag in der Dorfmitte, ein flacher Bau. Wir waren sechzehn, wir durften nicht in die Filme. Aber ich kannte den Vorführer, den Vater meiner besten Freundin. Er ließ uns durch die Hintertür hinein.

Vor dem Film kam immer Die Deutsche Wochenschau. Da sprachen sie über die Russen. Über die Barbaren, die Unmenschen aus dem Osten. Die uns vernichten wollten. Dass Hitler das nicht zulassen würde. Er habe alles unternommen, seine Truppen kämpften für uns und unser Volk. Die Erfolge im Osten seien fundamental. Ich sah mit großen Augen zu. Nun waren die Russen schon über die Oder.

Die letzten Wochen spürten wir im Dorf, dass alles anders werden würde. Wir waren kopflos. Alle. Jung und Alt. Die Alten, weil sie all das schon einmal erlebt hatten, keine dreißig Jahre war das her. Und wir, weil wir spürten, dass die Alten nicht mehr schliefen.

Niemand schloss sein Haus ab in diesen Tagen, das Chaos hatte schon begonnen. Am Hitlergeburtstag waren ein paar Italiener zu uns gekommen, ohne anzuklopfen. Sie waren von den Badoglio-Truppen, raunten sie in der Siedlung, Soldaten, gesandt von Mussolinis Nachfolger, niemand wusste, auf welcher Seite sie nun standen. Sie quartierten sich im Keller ein und kochten Nudeln in unserem Heizkessel. Ich habe einen Blick riskiert und gesehen, wie die weißen Teigwaren in der Brühe schwammen, in denen ich sonst die Sachen meiner Stiefmutter und meine eigenen wusch. Sie verschwanden am nächsten Morgen wieder, an dem Tag, an dem auch wir fliehen sollten.

Unseren Wagen haben wir schon gepackt. Einen Handwagen. Wir haben keinen Pferdewagen, weil wir keine Pferde haben. Wir sind zu zweit. Meine Stiefmutter und ich. Martha und Ilse.

Fritz, mein Vater, ist schon mehr als ein halbes Jahr weg. Er ist Zimmermann, ein guter Handwerker. Er ist irgendwo vor Stettin, als Teil der Operation Todt muss er Brücken mit Holz verschalen. Und meine Tante und meine Cousine Elfriede sind schon abgehauen, vor einer Woche. Sie sind mit Wehrmachtssoldaten auf dem Weg nach Westen. Wir haben ausgeharrt, bis heute.

Auf unserem Wagen liegen ein Federbett, ein Kopfkissen und zwei kleine Koffer. Wir haben die Hoffnung, irgendwo einen Ort zu finden, an dem wir ein Federbett gebrauchen können. Dann sind da noch ein paar Schuhe, zwei Kleider, ein paar Dosen eingemachte Bohnen, zehn Eier, das ist es. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Aber da alle in dieselbe Richtung gehen, gehen wir einfach hinterher. Und dann kommt Jan.

Und dann noch die Liebe

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