Читать книгу Der Straßenmusikant - Alexander Smokov - Страница 4
ОглавлениеERSTES KAPITEL
Das Mercedes-Cabrio verlangsamte seine Fahrt, ein kurzer, prüfender Blick des Fahrers zu der etwas abenteuerlich aussehenden Gestalt am Straßenrand – der Wagen kam vollends zum Stehen. Wortlos lud der Tramper seine Habseligkeiten, einen vollbepackten Trekking-Rucksack und einen Gitarrenkoffer, auf die Rückbank und fläzte sich dann in den Beifahrersitz. Der Fahrer, der das Treiben seines Gastes amüsiert verfolgt hatte, richtete mit leicht spöttischem Ton das Wort an ihn:
»Du hast es ja ziemlich eilig, obwohl du noch gar nicht weißt, wohin ich fahre. Ist jemand hinter dir her?«
»Blödsinn!« erwiderte der Tramper und grinste den Fahrer belustigt an. »Mir ist bloß dieses beschissene Kaff an dieser noch beschisseneren Küstenstraße auf den Keks gegangen. Man braucht ja eine Ewigkeit um von hier wegzukommen. Mein Ziel ist St. Tropez, aber wenn das nicht möglich ist, macht es auch nichts – Hauptsache, ich habe ein paar Kilometer zwischen mir und diesem unmöglichen Nest gebracht.«
Der Fahrer lachte kurz auf und fuhr los. Der Tramper besah ihn sich zwischen den Augenwinkeln etwas genauer, weil er ihm irgendwie bekannt vorkam: ein auf den ersten Blick sympathisch wirkendes Gesicht, eingerahmt von durch Sonne und Salzwasser gebleichtem, blonden Haar, breite Schultern und muskulöse Arme. Aber der beginnende Bauchansatz unter seinem vorteilhaft geschnittenen T-Shirt ließ auf ein ausschweifendes Leben schließen. Die undurchdringliche Sonnenbrille über den Augen machte es unmöglich, zu erkennen, ob sein Gesicht, auf den zweiten Blick immer noch sympathisch war.
»Du siehst aus, als hättest du eine ziemliche Strecke hinter dir«, stellte der Fahrer fest.
»So kann man es auch nennen – von Paris über die Schweiz, Österreich und Italien bis hierher.«
»Du machst den Eindruck, als ob du deine Gitarre nicht nur zum Spaß in der Gegend herumschleppst. Bist du Profi oder Amateur?«
»Im Prinzip beides. Ich habe das Singen und Gitarrespielen eigentlich mehr zum Spaß gelernt, aber zur Zeit schlage ich mich so recht und schlecht als Straßenmusiker durch. Das hat den Vorteil, daß man unheimlich viel Routine bekommt.«
»Kann man denn davon leben?«
»Es funktioniert. Aber nur, wenn man auf gewisse Annehmlichkeiten, die man sich als normal arbeitender Mensch so leistet, verzichtet.«
»Und die wären?« fragte der Fahrer interessiert und hupte einen entgegenkommenden Wagen an, in dem ein hübsches Mädchen saß, das ihm freudig überrascht zuwinkte.
»Geregeltes Einkommen, eigene Wohnung, Anspruch auf Stempelgeld, Renten- oder Krankenversicherung. Von Urlaubsgeld oder dreizehntem Monatsgehalt gar nicht zu reden. Und wenn es dir nichts ausmacht, jeden Tag aufs neue eine Unterkunft oder zumindest einen Platz zu finden, von dem dich die Bullen nicht wegjagen, dann kannst von dir behaupten, für dieses Leben geboren zu sein.«
»Diese Art zu leben wäre nichts für mich. Ich könnte auf derartige Weise nicht existieren. Ein Minimum an Komfort müßte ich schon haben, um in dieser Welt zu überleben. So ohne alles – schaffst du denn das auf die Dauer?«
»Ich schon«, antwortete der Tramper mit nachsichtigem Lächeln. »Aber deinem Habitus nach zu schließen, stammst du aus einer begüterten Familie, die dich zeitlebens in einen Glassturz gesetzt hat, um sämtliche Unannehmlichkeiten von dir fernzuhalten. Daher kommt dir meine Lebensweise im ersten Moment ziemlich abenteuerlich und romantisch vor. Einesteils würdest du gerne mal von zuhause ausreißen und alle Brücken hinter dir abbrechen, andererseits möchtest du aber keinesfalls deine gewohnte Kreditkarten-Sicherheit missen, für den Fall, wenn etwas schiefgeht. Und genau das ist es, was dich von einem echten Abenteurer unterscheidet: Du verläßt dich auf deinen finanziellen Hintergrund, mit dem du aufkommende Probleme zwar nicht löst sondern ganz einfach nur beseitigst. Das kann ein jeder Arsch, wenn er Geld hat! Dazu gehört nicht viel! Aber den Mut zu haben und nur auf seine Fähigkeiten vertrauend, Knall auf Fall das wohlbehütete Elternhaus zu verlassen, um ins Ungewisse zu ziehen – das setzt doch ein gewisses Maß an Selbständigkeit voraus.« Der Tramper blickte Yannick prüfend an. »Verdammt nochmal! Ich überlege schon dauernd, wo ich dich einordnen soll, weil mir dein Gesicht so bekannt vorkommt! Jetzt weiß ich es! Du bist ja selbst Musiker! Du bist Yannick Delaye – der Schlagerfuzzy! Ojeh...! Und bei so jemandem fahre ich mit...!«
»Ist es die Tatsache, daß ich zwanzig Centimes mehr in der Tasche habe, als du – daß du so darauf reagierst«, fragte der Mercedesfahrer köstlich amüsiert, »oder magst du ganz einfach nur meine Musik nicht?«
»Ich weiß es nicht genau. Auf alle Fälle ist es kein Neid. Vielleicht stört mich die oberflächliche Art, mit der sich du und deinesgleichen in der Öffentlichkeit präsentieren. Leute die, wie du so schön gesagt hast, zwanzig Centimes mehr in der Tasche haben, gehören für mich zu einer anderen Welt. Einer Welt von der ich mich eigentlich fernhalten will, weil sie in meinen Augen lächerlich und bedeutungslos ist.«
»Ich kann mir schon denken, auf was du hinauswillst. Du bist so eine Art von Revoluzzer, der gegen alles Front macht, woran sich die Leute erfreuen, weil du dich im Grunde genommen noch nicht genau festgelegt hast, gegen wen oder was du eigentlich kämpfen willst.«
»Ich kämpfe in erster Linie gegen die Dummheit der Menschen – meine eigene eingeschlossen – da bin ich ganz ehrlich. Und wenn du mal objektiv bist, dann wirst du zugeben müssen, daß es in deinen Kreisen eine ordentliche Portion davon gibt. Ich spreche von dummen, nicht von ungebildeten Menschen. Wenn ich mir diese Leute so ansehe, dann wundert es mich schon sehr, wie weit es viele von ihnen trotz ihrer Borniertheit gebracht haben. Aber vielleicht ist das die Charakteristik eueres Standes, daß ihr euch gegenseitig auf die Beine helft, genauso wie ihr euch untereinander vermehrt – da müssen sich ja auf die Dauer Schäden einstellen.«
»Du riskierst ja eine recht kesse Lippe, mein Freund.« Yannick Delaye war nicht aus der Fassung zu bringen. »Ich persönlich kann dich recht gut verstehen, aber du solltest aufpassen, daß du nicht von einem, der weniger Spaß versteht als ich, eins draufbekommst. Weißt du, ich habe früher auch mal so ähnlich wie du gedacht, bin aber zu nichts gekommen, weil ich ständig die Probleme anderer Leute vor die meinen stellte. Als ich selbst mal in der Bredouille saß, haben es eben diese Leute mir gedankt, indem sich mich links liegen ließen. Und so habe ich wieder ein bißchen dazugelernt. Heute verkehre ich in den Kreisen, die ich vor noch gar nicht so langer Zeit verachtete. Das bringt mir ein gutes Image und ich habe mein gesichertes Auskommen. Und wenn du auf meine seichten Lieder anspielst, die ich zum Besten gebe – da kann ich dir nur sagen, daß die Mehrzahl der Leute dies hören will. Oder glaubst du, meine Plattenumsätze kämen von ungefähr? Fünf Goldene Schallplatten beweisen die Beliebtheit meiner Songs!«
»Ach, gib nicht so furchtbar an!« Der Tramper machte eine abwehrende Handbewegung. »Da haben doch bestimmt etliche deiner Gegner zusammengelegt, um deine Platten ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen!«
»Das war der beste Witz seit langem!« Delaye schüttelte sich vor Lachen. »Du gefällst mir! Wenn du gerade Zeit und Lust hast, lade ich dich zu ein paar Drinks ein. Dann kannst du mir zeigen, was du draufhast. Ein Freund von mir hat hier in der Nähe, in Port Grimaud, einen Restaurant-Club. Dort trete ich auch manchmal auf. Du müßtest nur mal kurz vorspielen – vielleicht bekommst du bei ihm einmal pro Woche ein Engagement – wenn du gut bist.«
»Ich bin gut – oder wenigstens glaube ich es zu sein! Aber ich wollte eigentlich nach St. Tropez. Ein Musikstudent, den ich unterwegs getroffen habe, hat mir erzählt, daß dort das Geld auf der Straße liegt und man es bloß verstehen muß, es aufzuheben. Da frage ich mich doch, warum ich nicht gleich mein Zelt in St. Tropez aufschlage, anstatt einmal pro Woche in einem Club zu spielen.«
»Weil du hier die Gegend nicht kennst, sonst würdest du anders reden. Wenn du dich nämlich mal genau umsiehst, erblickst du eine jede Menge Billigtouristen, die das ganze Jahr über hart darauf gespart hatten, einmal zur Urlaubszeit in die Pfründe der High-Society einzubrechen, um die Puppen tanzen zu lassen. Von denen wirst du nicht viel erben, denn die werden hier ordentlich ausgenommen. Die sind heilfroh, wenn sie ihrem Urlaubsflirt einen Drink oder wenn es hoch kommt, ein Abendessen spendieren können, sozusagen als Entrée für Gratisbumsen. Um bei denen einigermaßen auf deine Kosten zu kommen, darfst du dir die Finger acht Stunden am Tag krummspielen, ganz abgesehen von deiner Stimme, die bei diesem Marathon auch nicht gerade besser wird. Und dann gibt es hier noch die Konkurrenz, die ja bekanntlich auch nicht schläft. Wenn du denkst, du brauchst dich nur hinzustellen und ein paar Liedchen zu trällern, bist du schief gewickelt. Das Publikum erkennt sofort, ob du etwas draufhast oder bloß ein billiger Absahner bist und honoriert es dementsprechend. Hier laufen jede Menge musikalische Genies herum, die alle zu Überleben versuchen, daß du dir manchmal ganz klein und häßlich vorkommen wirst. Und sollten all diese Perspektiven immer noch nicht ausreichen, um dich abzuschrecken, so kann ich dir weitere negative Seiten eines Straßenmusikerdaseins in St. Tropez aufzählen – zum Beispiel, daß dort eine strenge Ordnung vorherrscht.«
»Ordnung?« fragte der Tramper bitter. »Die gab es in Italien, wo ich gerade herkomme, auch. Dort hat man mich ein paarmal in den Knast gesteckt, weil ich mich geweigert, habe, die ansässigen Mafiapolizisten mit einem Teil meines Obolus zu schmieren. Sozusagen als ›Gewerbeschein für Straßenmusikanten‹, wie diese Schweine es ausdrückten.«
»Nein, diese Art von Ordnung habe ich nicht gemeint«, wehrte Delaye ein wenig betroffen ab. »In St. Tropez sind Straßenmusikanten gern gesehen und solange sie sich dem Gesetz entsprechend verhalten, haben sie nichts zu befürchten. Ich meine die Ordnung, die von den Straßenmusikern selbst aufgestellt wurde, nach dem alten Sprichwort: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Aber wenn du erst einmal da bist, wirst du schon verstehen, was ich meine...«
»Komm – ergehe dich nicht in vagen Andeutungen, sondern erkläre es mir!«
»Tja, weißt du...« Delaye ließ sich Zeit, um die Spannung ein wenig zu steigern. »Die guten Plätze, wo du echt Kohle verdienen kannst, sind in St. Tropez sehr rar, weil es eben ein Überangebot an Spitzenmusikern gibt. So ist es dort an der Tagesordnung, daß vor den wenigen Restaurants und Straßencafés, wo Darbietungen erlaubt sind, die Musiker sozusagen Schlange stehen, bis sie drankommen. Und nicht nur Straßenmusiker darfst du dort als deine Konkurrenz betrachten, sondern Tänzer, Clowns, Zauberer, Feuerspucker, Akrobaten und allerlei andere Artisten wirst du vorfinden. Daher sind diese Läden nach der dritten Darbietung meist schon abgegrast, weil die Gäste nicht so schnell wechseln.«
»Und was ist mit den sogenannten guten Läden? Warum darf man da nicht spielen?«
»Das versuchte ich dir schon vorher zu erklären... Es ist nämlich so, daß die Côte d'Azur nicht gerade eben auf dich gewartet hat. Da waren einige clevere Kerlchen schon etwas eher hier und haben sich die besten Läden reserviert. Und gerade eben in solch einen Laden versuche ich dich einzuschleusen, denn ohne Protektion geht hier gar nichts. – Übrigens, welche Art von Musik machst du denn eigentlich?«
»Folk, Blues, internationale Songs und manchmal auch Volkslieder aus dem alten Rußland.«
»Russische Volkslieder?« fragte Yannick Delaye erstaunt. »Wie kommst du denn dazu?«
»Mein Großvater mütterlicherseits war Rußlanddeutscher. Unter Stalin wurde er samt Familie nach Kasachstan deportiert, wo Großmutter starb. Mit meiner Mutter konnte er aber von dort in den Westen flüchten. Als ich noch klein war, brachte er mir einige Lieder aus seiner alten Heimat bei. Hätte er noch ein paar Jährchen länger gelebt, hätte ich es bestimmt zum Solisten bei den Don-Kosaken gebracht.«
Ein Schild kündigte einen Kreisverkehr mit verschiedenen Abfahrten, darunter auch die nach Port Grimaud, an.
»Also, was ist?« fragte Delaye. »Wir sind gleich da. Kommst du jetzt mit oder soll ich dich am Kreisel absetzen? Von dort sind es nur noch sechs Kilometer bis nach St. Tropez. Die schaffst du notfalls auch zu Fuß.«
»Nach all dem, was du mir erzählt hast, glaube ich, daß es doch besser ist, dein Angebot anzunehmen, denn in meiner Kasse herrscht zur Zeit ein bißchen Ebbe. St. Tropez läuft mir nicht weg.«
Die Küstenstraße über eine Ausfahrt des Kreisverkehrs verlassend, bog das Cabrio in eine kurze Straße ein, die zu einem riesigen Parkplatz führte. Rechts vom Parkplatz befand sich eine mittelalterlich anmutende Stadt, umsäumt von einer riesigen Mauer, die von einem Wassergraben umgeben war. Eine Brücke führte über den Graben zu einem Stadttor, das von zwei wuchtigen Türmen flankiert wurde. Die Straße teilte sich in zwei Spuren: links für Anlieger, rechts für Besucher und daher kostenpflichtig. Delaye ordnete sich in die linke Spur ein, hielt am Schlagbaum und zeigte dem Parkwächter in seinem Kabäuschen unaufgefordert seinen Dauerparkausweis. Die Schranke hob sich und der Wagen konnte passieren. Nach etwa fünfzig Metern fand sich eine freie Lücke und mit geübtem Schwung parkte Delaye den Wagen rückwärts ein.
»Mann, oh Mann«, rief der Tramper aus, als er den Wagen verließ, »das ist aber ein imposanter Kasten! Eine Stadt dieser Art habe ich noch nie gesehen! Und das ist Port Grimaud? Wann wurde es erbaut?«
»Moment mal!« rief Delaye. »Ich muß erst einmal die Kiste dichtmachen. Wenn du also schon mal dein Gepäck rausnehmen würdest...«
Der Tramper schnallte sich den Rucksack um und stellte den Gitarrenkoffer auf den Boden, während Delaye das Elektroverdeck nach vorne fuhr und den Wagen verschloß.
»Und nun zu deinen Fragen«, sagte er, als sie sich auf dem Weg zum Stadttor befanden. »Port Grimaud – man nennt es auch das Venedig Südfrankreichs – wurde 1965 erbaut. Ein Ingenieur hat sich damit einen Wunschtraum erfüllt. Frag' mich bloß nicht, wie der hieß – ich habe es vergessen.«
»Waaas?« rief der Tramper ungläubig aus. »Diese Burg wurde erst vor neun Jahren erbaut? Willst du mich verscheißern? Die sieht doch aus, als hätte sie mindestens dreihundert Jahre auf dem Buckel!«
»Ich hab's auch nicht geglaubt, als ich sie zum ersten Mal sah«, grinste Delaye. »Aber das Geniale daran ist, daß man zuerst Stahlschienen horizontal in den Meeresgrund getrieben und dann die Häuser darauf gebaut hat. Die ganze Stadt besteht sozusagen aus künstlichen Landzungen mit Reihenhäusern – dazwischen natürlich die Kanäle. Wie in Venedig. Zu jedem Haus gehört ein Bootsanlegesteg mit Ankerplatz – das ist im Preis mit inbegriffen. Und um den Eindruck, es wären Neubauten, zu verwischen, hat man aus der gesamten Umgebung die noch brauchbaren Steine von Abbruchhäusern aussortiert und hier zum Bau wiederverwendet. Das Resultat kann sich doch sehen lassen – oder nicht?«
»Von außen gesehen – alles schön und gut«, wandte der Tramper ein, »aber wenn die Stadt sozusagen aus Schutt und Asche besteht – wer möchte schon gerne darin wohnen?«
»Tz... Tz... Vom Bauen verstehst du wohl herzlich wenig, sonst würdest du nicht einen derartigen Stuß daherreden«, gab Delaye mitleidig lächelnd zurück. »Alte Ziegelsteine eignen sich viel besser für den Hausbau, weil sie nämlich noch sorgfältig von Hand gefertigt wurden. Zudem wurden für die Innenausstattung nur die besten Materialien verwendet. Oder glaubst du, die Leute, die hier wohnen, hätten ihr Geld in Bruchbuden investiert? – Da fällt mir gerade ein – jetzt kennen wir uns schon seit geraumer Zeit – und ich weiß noch nicht mal deinen Namen!«
»Ich heiße Victor. Victor Laforêt.«
»Victor... Laforêt… Klingt gut, der Name. Läßt sich was daraus machen... Und du wirst mich gefälligst beim Vornamen anreden, wie es zwischen guten Kollegen üblich ist! Wie ich heiße, weißt du ja bereits. Es stört mich nämlich, wenn du immer bloß ›Du‹ sagst.«
»In Ordnung. Wenn du darauf Wert legst... Yannick.«
Die beiden überschritten die Brücke und kamen zu einem Torwächterhäuschen, dessen Schranke heruntergelassen war. Als sie die Schranke seitlich beim Fußgängerweg passieren wollten, verließ eiligst ein uniformierter Wächter das Häuschen und trat mit wichtigtuerischer Miene auf sie zu:
»Bonjour, Monsieur. Darf ich Sie fragen, was Sie in Ihrem Koffer haben?«
»Eine Gitarre«, antwortete Victor leicht angesäuert. »Das sieht man doch! Oder glauben Sie etwa, das ist ein getarntes MG?«
»Aha! Und Sie wollen hier wohl Straßenmusik machen!« fuhr der Wächter unbeirrt fort. »Das ist leider verboten! Sie können die Stadt zwar gerne besuchen, aber Ihr Instrument müssen Sie hier abgeben. Beim Verlassen der Stadt erhalten Sie es selbstverständlich wieder zurück.«
»Darf ich Sie mal kurz unterbrechen?« mischte sich Yannick in den Disput und zückt einen Ausweis mit Lichtbild. »Ich bin Eigentümer einer Wohnung in dieser Stadt. Und nun ist Schluß mit den Fisimatenten! Dieser Herr ist mein Gast!«
»Das glaube ich Ihnen nicht!« zeterte der Wächter. »Ich erkenne Straßenmusikanten auf den ersten Blick – und er ist mit Garantie einer! Sie wollen ihm doch aus Mitleid bloß helfen, in die Stadt hereinzukommen! Das kann er ja – aber die Gitarre bleibt hier!«
»Das werden wir sofort hier an Ort und Stelle regeln«, knirschte Yannick, mühsam seine Wut unterdrückend, um dann sofort die hochnäsigste Miene aufzusetzen, zu der er fähig war. »Soweit kommt es noch, daß ich mir von Ihnen vorschreiben lasse, wen ich in meine Wohnung einlade und was die Person mitbringen darf! Sie haben doch in Ihrer Bruchbude sicher ein Telefon... Und genau von dem aus rufe ich jetzt den Bürgermeister, mit dem ich übrigens sehr gut bekannt bin, an.« Er zog aus seiner Brieftasche ein kleines Notizbuch hervor und blätterte darin herum. »Aha – da haben wir ihn schon. Na, ja – dann wollen wir doch mal sehen, wie er auf Ihre Impertinenz reagiert...«
»Aber das ist doch nicht nötig, meine Herren...« Der Wächter schrumpfte sichtlich um etliche Zentimeter. »Sie können passieren... Es ist doch nur... Sie müssen mich auch verstehen... Ich führe lediglich die Anordnungen der Stadtverwaltung aus... Ich wünsche Ihnen noch einen recht angenehmen Tag, meine Herren...«
»Staatlich domestiziertes, arschgeficktes Suppenhuhn!« knurrte Victor, als sie das Tor durchschritten. Ein halbersticktes Glucksen ließ ihn innehalten. Die Hände über den Bauch gekreuzt und vor Lachen nach Luft japsend, stand Yannick in verkrümmter Haltung da. Kopfschüttelnd kehrte Victor wieder um.
»Was hast du denn gefressen, daß du dich so komisch aufführst?« fragte er belustigt.
»Wo... ha-ha-ha... wo... ha-ha-ha... woher... ha-ha-ha... stammt denn... ha-ha-ha... dieser Spruch? Der ist ja... ha-ha-ha... total... ha-ha-ha... neu für mich... ha-ha-ha!«
»Das nennt man die Ausdruckswucht der deutschen Sprache. Hab' ich mal irgendwo gelesen«, erklärte Victor mit gewollt todernster Miene, worauf Yannick erneut einen Lachkrampf bekam.
»Ich dachte, du wärst Franzose?« Yannick wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ach ja... Dein Großvater war Rußlanddeutscher... Da hat er dir wohl außer den russischen Liedern auch ein paar Brocken Deutsch beigebracht.«
»Ganz so, wie du vermutest, ist es nicht. Ich bin deutscher Staatsbürger. In Saarbrücken geboren und zum größten Teil in München aufgewachsen. Mein Vater kommt aus Pontoise, das liegt in der Nähe von Paris. Als das Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg französisch besetzt war, hat er dort gearbeitet und ist dann auch geblieben, nachdem es 1957 wieder an die Deutschen zurückgegeben wurde. Schuld daran war meine Mutter, die sich vehement weigerte, mit ihm nach Frankreich zu gehen. Ich war damals erst drei Jahre alt. Seit der Flucht aus Rußland, traute sie sich nicht mehr in einem anderen Land zu leben, aus Angst davor, womöglich wieder eine Heimat zu verlieren. Und so stellte sie meinen Vater vor die Wahl – entweder zu bleiben oder aber allein nach Frankreich zurückzukehren. Sie hat sich durchgesetzt.«
»Dann bist du ja mehrsprachig aufgewachsen: Französisch, Deutsch und sogar etwas Russisch.« Yannick nickte anerkennend. »Du kannst wirklich von Glück sagen. Andere würden dich darum glühend beneiden.«
»Du weißt eben noch nicht alles: In der Schule belegte ich als Pflichtfach Englisch. Und dann hatte ich mich fast ein Jahr in Italien herumgetrieben...« gab ihm Victor spitzbübisch eins drauf.
Einen weiteren Torbogen passierend, kamen sie auf eine Brücke, die über einen Kanal führte und in ein weiteres Tor mündete. Dann standen sie auf dem Marktplatz, der zu Meerseite hin offen war. Eine Kirche auf einer künstlichen steinernen Insel, durch eine Brücke mit dem Platz verbunden, lenkte als erstes das Augenmerk des Betrachters auf sich. Die Häuserreihen, die den Platz auf drei Seiten umschlossen, besaßen Arkaden, in denen wiederum Restaurants und Läden untergebracht waren. Außerhalb der Arkaden, zur Platzmitte hin, hatten geschäftstüchtige Restaurant- und Bistrobesitzer Tische und Stühle aufgestellt, um den reichlich vorhandenen Touristen die notwendige Bewirtung zu ermöglichen. Die verbleibende Fläche des Platzes wurde von Eisenpfosten eingerahmt, die miteinander durch Ketten verbunden waren. Dort konnte man einige Leute beim »Boule« beobachten – dem Nationalspiel der Franzosen, das auch schon Konrad Adenauer in Italien spielte – nur mit dem kleinen Unterschied, daß man es dort »Boccia« nannte. Im Hintergrund des Platzes waren Landzungen zu erblicken, die durch Kanäle voneinander getrennt wurden. Die Häuser darauf besaßen alle Vorgärten mit gepflasterten Wegen zu den Bootsanlegestellen. Um diese Tageszeit ankerten schon etliche Yachten an den Liegeplätzen und bereicherten das ohnehin grandiose Bild noch zusätzlich.
»Und ich dachte, es würde ein Markt stattfinden!« rief Victor enttäuscht aus.
»Er hat den Namen nur pro forma«, erklärte Yannick, »weil er halt der einzige große Platz ist und zentral liegt. Markttage abzuhalten ist mit viel zu viel Lärm verbunden. Mich wundert schon sowieso, daß die Leute das Scheppern der Boulekugeln nicht stört.«
»Ganz schön spießig«, gab Victor seinen ersten Eindruck wider. »Eine Bilderbuchstadt. Wie vom Reißbrett. Sauber, vorzeigbar und absolut spießig. Trotz allem aber beeindruckend. Spock vom Raumschiff Enterprise würde sagen: faszinierend!«
»Es mag ja durchaus sein, daß diese Stadt spießig ist«, verteidigte Yannick sein Domizil. »Aber hier kann ich wenigstens ungestört meine Freizeit genießen. Sie ist genau das Gegenstück zu St. Tropez, wo der Rummel bis vier Uhr morgens oder wenn total Verrückte in der Stadt sind, manchmal auch noch länger dauert. Da ist es unmöglich, auch nur ein Auge zuzumachen. Die Narrenfreiheit wird über das Wohl der Bevölkerung gestellt, um abzusahnen, was es nur abzusahnen gibt.«
»Und alle halten die Schnauze. Niemand, der versucht, dagegen anzustinken?«
»Einige schon, aber sie können nichts ausrichten. Die Lobby derer, die die große Kohle einsacken, ist zu groß und Neubeginner zum Beispiel bekommen keinen Fuß in die Tür, weil die Alteingesessenen nichts vom großen Kuchen abgeben wollen. Eine richtige Mafia! Die stecken alle unter einer Decke und beherrschen die ganze Umgebung. Aber nach außen hin ist nichts zu davon sehen.«
»Und woher weißt du alles so genau?«
»Ich hatte vor kurzem die Idee, eine Boutique für Yachtzubehör zu eröffnen – als zweites Standbein sozusagen. Da ich glaubte, einigermaßen beliebt zu sein und auch sonst einen ziemlich großen Bekanntenkreis habe, rechnete ich mir prima Chancen aus, einen guten Umsatz zu machen. Leichter gedacht als getan. Nach fünf Anläufen bei der Stadtverwaltung warf ich das Handtuch. Diese Knilche haben mir nicht nur Steine, sondern richtige Granitbrocken in den Weg gelegt. Das kann sich selbst ein phantasiebegabter Mensch kaum vorstellen, was denen alles einfiel, um mich loszuwerden. Aber jetzt habe ich vom vielen Erzählen Durst bekommen. Laß uns endlich in den Club gehen!«
Nachdem sie einige Gassen durchwandert und eine schlanke Holzbrücke überquert hatten, kamen sie auf eine Asphaltstraße, die in Abständen von fünfzig Metern mit Bremsschwellen durchsetzt war.
»Das hat man sich hier gegen die Raser einfallen lassen«, bemerkte Yannick. »Wenn du hier einziehst, mußt du dich sogar im Kaufvertrag verpflichten, kein Radio auf dem Balkon zu spielen und auch anderweitig lärmbelästigende Betätigungen zu unterlassen. Wenn du das nicht vorab unterschreibst, kommt erst gar kein Vertrag zustande. – Nur noch ein paar Schritte, dann haben wir's geschafft!«
Die Fensterfront des Restaurants, vor der sie nun standen, machte einen gediegenen Eindruck. Durch die Scheiben konnte man die Umrisse von gemütlich anzusehenden, durch Weinranken abgeteilte Sitzecken erspähen. Über der Eingangstür, die mit einem Guckfenster versehen war, hing an zwei Ketten ein fast unauffälliges Metallschild mit der Aufschrift »Cabane« – zu deutsch »Hütte«.
Yannick trat als erster durch die Tür. Er sah sich suchend in dem fast menschenleeren Club um und steuerte dann, Victor im Schlepptau, auf die Bar zu. Ein Keeper, der gerade saubere Gläser in das Spiegelregal an der Wand einsortierte, drehte sich um – ein erfreutes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Sei gegrüßt, Yannick! Was führt dich schon so früh in unsere Lustburg?«
»Hallo Gérard! Ich suche Alain. Ist er zu sprechen?«
»Alain ist für kurze Zeit in seine Wohnung gegangen. Wenn du ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit opfern willst, dann setz dich her und leiste mir Gesellschaft. Trink etwas auf Rechnung des Hauses – bis dahin wird er bestimmt zurück sein.« Gérard blickte schalkhaft zu Victor und dann wieder zu Yannick. »Eh...! Wen hast du denn da mitgebracht? Den Jungen habe ich bei uns noch nie gesehen. Bist wohl zum anderen Ufer umgeschwenkt...?«
»Paß nur auf, daß ich dich nicht gleich vernasche!« spielte Yannick den Lüsternen. »Aber Scherz beiseite: des Jungen wegen will ich mit Alain sprechen.«
»Wenn ich mir die Gitarre so anschaue, nehme ich an, es geht um Musik...«
»Du hast es erfaßt. Mich interessiert es auch persönlich, was er so draufhat. Wer weiß... Vielleicht ist er ja sehr gut... Der Schuppen könnte auf alle Fälle mal wieder frischen Wind vertragen.«
»Du kannst ja schon mal dein Instrument auspacken«, wandte sich Gérard an Victor. »Was willst du trinken?«
»Ein schönes kühles Bier.«
»Und für dich natürlich auch – oder irre ich mich?«
Gérard betrachtet Yannicks Schweigen als Zustimmung und während er das Bier zapfte, packte Victor seine Gitarre aus und legte sie auf den Flügel, der in unmittelbarer Nähe der Bar stand. Dann besah er sich die Räumlichkeiten etwas genauer: Sitzbänke, Stühle und Tische waren im spanischen Stil gehalten und paßten hervorragend zu der übrigen Ausstattung des Raumes. Die Bar, ganz aus Palisanderholz und Messing gefertigt, verstärkte den Eindruck der Behaglichkeit. Eine Wand, bestehend aus einem Bambusgitter mit Efeu, verdeckte die Durchreiche und den Eingang zur Küche. Zwei Flügeltüren zur entgegengesetzten Seite der Bar führten in einen Garten mit Bootsanlegestelle. Einige Gäste saßen unter Sonnenschirmen beim Nachmittagscocktail – vermutlich die Eigner der PS-strotzenden Sechsmeter-Yachten, die am Steg vertäut lagen.
Gérard stellte die Biere auf die Theke und kaum hatten Yannick und Victor sich zugeprostet und einen Schluck getrunken, als ein mittelgroßer, etwas quirlig wirkender Mann den Club betrat. Er besaß pechschwarzes Haar – das Auffälligste an ihm jedoch war die Nase, die wie ein Erker aus seinem Gesicht ragte. »Der kann seinen Zinken bestimmt in einen Baum reinhacken und freihändig übernachten«, dachte Victor, ließ aber nach außen hin nicht erkennen, daß er sich über den Anblick des grotesk wirkenden Gesichts amüsierte.
»Hi, Alain!«« begrüßte Yannick den Patron. »Du siehst so aufgeregt aus.«
»Hi, Yannick...! Dazu habe ich auch allen Grund!« Alain fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar. »Vor einer halben Stunde rief mich Yves an und teilte mir mit, daß er sich bei einem Sturz das Handgelenk verstaucht hätte und daher nicht spielen könne, weil es angeschwollen wäre und bei jeder Bewegung furchtbar schmerzen würde. So einfach mir nichts – dir nichts. Du kennst ihn doch! Wahrscheinlich war er wieder einmal besoffen. Jetzt sehe ich ganz alt aus, denn heute abend habe ich einen Yachtclub zu Gast, dessen Vorstand den Termin schon vor drei Monaten gebucht hat. Die feiern ihr 25jähriges Bestehen und wollen es natürlich krachen lassen mit allem, was so dazugehört. Und Musik gehört nun mal eben dazu! Ausgerechnet heute!« Alain blickte Yannick schräge von unten herauf an. »Dein geradezu umwerfender und in letzter Zeit bei uns sehr selten gewordener Anblick läßt jedoch in mir eine grandiose Idee aufkeimen: kannst du heute nicht für Yves einspringen? Mann, ich zahle dir das Doppelte von dem, was Yves bei solchen Gelegenheiten bekommt! Ich weiß, das ist nicht gerade fürstlich entlohnt, aber um der alten Freundschaft willen bitte ich dich inständig: rette mich und meinen Club!«
»Ich würde dir ja sehr gerne aus der Patsche helfen, Alain...« Yannick hob abwehrend die Hände. »Ich bin nur leider nicht mehr in Form. Einen ganzen Abend stehe ich stimmlich nicht mehr durch. Das Lotterleben, das ich im Moment führe, hat doch ganz schön seine Spuren hinterlassen. Darum nehme ich derzeit nur Engagements an, bei denen ich nicht mehr als drei Songs trällern muß, weil ab dem vierten nur noch heiße Luft kommt. Am liebsten aber habe ich die Jobs, bei denen ich mit Vollplayback arbeiten kann.«
»Das ist für mich ohne Bedeutung!« Alain versuchte mit einer Handbewegung Yannicks Bedenken zu zerstreuen. »Der Name Yannick Delaye hat in der Branche immer noch einen sehr guten Klang. Die Yachtclub-Schickeria wird mich dafür beglückwünschen, daß es mir gelungen ist, dich extra für sie zum Auftreten zu bewegen – da spielt es doch keine Rolle, ob du in Form bist oder nicht.«
»Über eines bist du dir hoffentlich im Klaren: mein guter Ruf kann sehr schnell den Bach runtergehen, wenn ich den Abend nicht ohne abzusacken über die Runden bringe. Das Publikum ist nicht so blöde, wie du immer glaubst. Es merkt einem ganz genau an, ob er gut drauf ist. Und wegen eines relativ kleinen Jobs lasse ich mich nur ungern zum Affen machen – damit ist uns beide nicht gedient. Ich wäre hinterher stocksauer und du ebenfalls, weil ich so schnell in deiner Bude nicht mehr auftreten würde. Darum mache ich dir einen Vorschlag: mein Freund Victor Laforêt bestreitet das Hauptprogramm und ich setze mit drei bis vier Songs das Sahnehäubchen drauf. Wie das bei einem Stargastauftritt halt so üblich ist. Und wir beide teilen uns die Gage.«
»Also, mir ist dein Freund kein Begriff.« Alain musterte Victor in abschätzender, fast aufreizender Manier. »Vielleicht ist das eine Bildungslücke, aber ich habe echt noch nie von ihm gehört, geschweige denn was gesehen. Na ja... Wenn du ihn mir empfiehlst, muß er wohl sehr gut sein...«
»Das weiß ich selbst noch nicht so genau – ich kenne ihn erst seit einer Stunde... Aber das werden wir gleich feststellen...« Yannick wandte sich Victor zu. »Hey, Victor! Dein Typ ist gefragt! Nimm dein Wimmerholz und laß es krachen, daß ihm die Augen überlaufen!«
»Bei allem Respekt vor dir, Yannick!« ereiferte sich Alain. »Deine Verarsche ist wohl nicht mehr zu überbieten! Da schleppst du mir einen halbverhungerten Penner ins Haus, von dem du nicht weißt, was mit ihm los ist und um das Faß zum Überlaufen zu bringen, verlangst du auch noch von mir, daß ich ihn hier im Club auftreten lasse! Wenn ich vorhätte, mein Abendprogramm mit solchen Typen zu bestreiten, müßte ich nicht weit gehen – die ganze Côte d'Azur ist voll von diesen Clochards!«
Während dieser Tirade hatte Victor schon seine Gitarre eingepackt, seinen Rucksack aufgenommen und schickte sich gerade an, den Club zu verlassen, als Yannick ihn am Arm festhielt: »Warte einen Moment! Ich komme mit dir! Ich muß nur noch schnell die Zeche bezahlen – von einem Arschloch lasse ich mir nur höchst ungern was schenken!« Yannick warf einen Hundertfrancschein auf die Theke in Alains Richtung. »Den Rest kannst du dir unter die Vorhaut schieben!«
»Sofern da überhaupt noch etwas Platz hat...!« ergänzte Victor, hämisch grinsend. Lachend und ohne sich nur einmal umzudrehen, verließen die beiden Club.
Die Stille, die im Restaurant zurückblieb, wurde nach einigen Sekunden von Gérard unterbrochen: »Ich arbeite jetzt schon seit mehr als zwölf Jahren für dich und du konntest dich bisher immer auf mich verlassen, aber selbst auf die Gefahr hin, daß du mich jetzt feuerst, muß ich dir ganz einfach sagen, daß von allen Idioten, die mir in meiner bisherigen Laufbahn untergekommen sind, du so ziemlich der Größte bist! Zuerst bittest du Yannick auf Knien, daß er dir hilft, und dann putzt du ihn runter wie einen Gassenjungen, den man beim Äpfelklauen erwischt hat! Und dem Clochard, dem Penner, wie du ihn in deiner grenzenlosen Arroganz nanntest, hast du nicht mal den Hauch einer Chance gegeben, zu zeigen, was er kann! Also, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt ganz schnell meine Beine in die Hand nehmen und versuchen, die beiden noch zu erwischen, ehe sie fort sind, sonst kannst du den Abend endgültig vergessen – oder du holst dir dann als Notlösung wirkliche Penner ins Haus!«
Alain löste sich aus seiner Erstarrung und wieselte zur Tür. »Warum kann ich Trottel auch mein blödes Maul nicht halten!« jammerte er im Laufen. »Verfluchte Scheiße! Jetzt hab' ich alles total vermasselt!« Aber er hatte Glück. Die beiden waren noch in Sichtweite und er beeilte sich noch mehr, sie einzuholen.
»Wartet doch! Das könnt ihr doch nicht so einfach machen!« keuchte er, als er bei ihnen angelangt war.
»Wie du siehst... Wir können! Und wie wir können...!« höhnte Yannick, ohne den aufgeregt neben ihm herlaufenden Alain eines Blickes zu würdigen.
»Aber das Fest! Du hast mir versprochen zu singen!« stieß Alain schrill hervor.
Victor und Yannick blieben nun stehen. Yannick stach Alain mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Brust. »Versprochen habe ich gar nichts! Ich habe dir nur einen Vorschlag gemacht, den du in dümmster Manier zurückgewiesen hast! Damit ist die Sache für mich erledigt – und du auch!«
»Ich war wohl etwas geschafft von dem ganzen Ärger, der mir heute untergekommen ist«, sagte Alain und breitete Entschuldigung heischend die Arme aus. »Glaube mir, es war nicht so gemeint!«
»Nicht bei mir«, Yannick deutete mit dem Daumen auf Victor, »sondern bei ihm solltest du dich entschuldigen! Ich habe ihn nämlich nicht dazu überredet, hierherzukommen, damit du ihn aufs Übelste beleidigst! Und außerdem, das laß dir gesagt sein, bringst du mich dadurch ziemlich bei ihm in Mißkredit!«
»Also gut«, preßte Alain mit unaufrichtig-betretener Miene hervor, »es tut mir leid! Wollen Sie hiermit meine Entschuldigung annehmen, Monsieur?«
»Sie ist bereits angenommen. Ich bin so etwas gewöhnt«, antwortete Victor ohne einer Spur von Triumph in der Stimme.
»Dann ist die Sache hiermit vergessen«, sagte Yannick. »Du kannst also mit uns rechnen. Aber nur zu den vorhergenannten Bedingungen.«
»Abgemacht!« Alain sah man die Erleichterung im Gesicht an. »Dann kommt doch bitte wieder zurück in den Club. Ich möchte nämlich schon mal hören, was dein Freund auf musikalischem Gebiet so bringt, Yannick.«
»Ich denke, wir können das Vorspielen ausfallen lassen.« Victor blickte Alain verschmitzt lächelnd, aber nichtsdestotrotz unerbittlich an. »Allein schon dadurch, daß Sie uns engagierten, haben Sie Ihr Gespür für musikalische Attraktionen hinreichend bewiesen. Sie brauchen also heute abend nichts anderes tun, als uns anzusagen – den Rest machen wir schon.«
»Also gut«, versuchte Alain krampfhaft, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber selbst ein Blinder konnte den Frust verspüren, der ihm in den Augen abzulesen war. »Dann seid also bitte spätestens bis zehn Uhr da.« Er machte auf dem Absatz kehrt und begab sich, seine Niederlage durch einen würdevollen Gang kaschierend, zurück zum Club.
»Und der, sagst du, ist ein Freund von dir?« Victor spuckte angewidert aus. »Der dürfte normalerweise nicht mal meinen Gitarrenkoffer tragen...!«
»Ach was! So übel ist er nun auch wieder nicht! Er hat auch seine guten Seiten«, entgegnete Yannick. »Was soll's! Scheiß' drauf und schlag ein Ei drüber! Jetzt werden wir bei mir erst einmal gepflegt essen. Von dem ganzen Ärger habe ich nämlich einen Mordshunger bekommen...«
* * *
Victor nahm seinen Drink in Empfang und prostete Yannick zu. Von den Barhockern aus konnte man alles gut überblicken. Der Club hatte sich gefüllt und die Stimmung war heiter, ja fast ausgelassen. Die Kellner schwirrten durch die Tischreihen, beladen mit den erlesensten Köstlichkeiten, die das Haus zu bieten hatte. Es blieb Victor ein Rätsel, wieso bei dieser Hektik kein Zusammenprall zustandekam. Er besah sich verstohlen in dem Spiegel hinter der Bar: das blaue Hemd, die helle Hose und die schwarzen Lackschuhe standen ihm ausgezeichnet. Ein modischer Gürtel mit Schließe, die ein Hufeisen darstellte, rundeten das Bild ab. Immer, wenn er sich bewegte, schillerte sein Hemd in allen Farben – ein ausgezeichneter Showeffekt.
»Hast wohl eine Boutique geplündert – so wie du aussiehst!« frozzelte Gérard.
»Dafür habe ich derzeit keinen einzigen Sou über«, grinste Victor. »Nein, nein – ich darf die Klamotten aus Yannicks ›Schlanker Epoche‹, wie er es so schön nennt, auftragen. Er meint, ich würde mich bei Alains erlauchtem Publikum zum Hofnarren machen, wenn ich nicht standesgemäß angezogen wäre. Aber findest du nicht, daß ich gerade jetzt wie ein Hofnarr aussehe? Fehlt bloß noch die berühmte Kappe mit den Schellen auf dem Kopf...!«
»Jetzt führst du dich aber wirklich wie ein Hofnarr auf!« Gérard tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Ich weiß gar nicht, was du hast! Die Klamotten stehen dir doch blendend! Ich wäre froh, wenn ich nochmal so jung wäre, um so etwas tragen zu können!«
In diesem Moment trat Alain an die Bar. »Ah, ihr seid aber sehr pünktlich. Das finde ich äußerst positiv«, gab er sich jovial. »Willkommen in meinem Haus. Ich hoffe, ihr seid bestens mit allem versorgt. Nur keinen Bammel! Mehr als schiefgehen kann die Sache doch gar nicht!«
»Wann soll's losgehen?« fragte Yannick.
»Zuerst kommt noch eine Festrede, dann ist der offizielle Teil vorbei. Das dauert erfahrungsgemäß nicht länger als zwanzig Minuten. In dieser Zeit kann sich dein Freund einstimmen. Ich mache dann eine Ansage – das ist dann das Zeichen für ihn, anzufangen.« Alain wandte sich an Victor: »Besitzt du einen Künstlernamen, unter dem du auftrittst?«
»Ich habe noch nie daran gedacht, mir ein Pseudonym zuzulegen«, antwortete Victor geringschätzig.
»Was sagt man dazu?« gab sich Alain gespielt entrüstet. »Kein Künstlername! Da du aus München kommst, werde ich dich eben als ›Victor de Munich‹ ankündigen. Wie gefällt dir das?«
»Nicht besonders«, gab Victor zurück. »Aber das ist nicht so wichtig. Wenn du glaubst, es ist nötig, dann nur zu.«
Victor nahm seine Gitarre aus dem Koffer, um sie zu stimmen. Es war eine »Ovation« – das Geschenk seiner Mutter zum sechzehnten Geburtstag. Sie zog sich damit den Unwillen ihres Mannes zu, denn er war wie die meisten Väter der Meinung, der Sohn sollte einen »anständigen« Beruf ergreifen. Von Künstlern, egal, welcher Kategorie, hielt er nicht viel. Seiner Auffassung nach konnten sie sich nicht einmal das Salz in der Suppe verdienen und er war selbst dann nicht von seiner engstirnigen Meinung abzubringen, wenn man ihm die Beispiele bekannter und erfolgreicher Maler, Musiker und Schauspieler anführte, die mit ihrem Beruf Millionen verdienten. Für ihn zählten nur Werte, die man sich mit den Händen erarbeiten konnte. Seine Abneigung gegen das »Hungerleiderpack« wurde sogar noch verstärkt, nachdem Victor seine Lehre als Werkzeugmacher abgebrochen hatte, weil er glaubte, seine Künstlerfreunde hätten ihn zu diesem Schritt überredet.
Wie ein Film spulte sich die weitere Entwicklung des Geschehens in Victors Gedanken ab: die unbeherrschte Wut des Vaters, der ihn mit Gewalt zur Rückkehr an die Arbeitsstelle bewegen wollte; die verzweifelte Gegenwehr, die damit endete, daß der Vater mit dem Gesicht voran gegen die Kante des Gasherdes fiel und sich dabei eine Hasenscharte in die Oberlippe schlug; das Weinen der Mutter, die ihm half, die wenigen Sachen, die er für seine Reise ins Ungewisse benötigte, zu packen – und am Ende – die Vertreibung aus dem Paradies, wie es sein Vater wohl betitelt hätte. Der Auszug vollzog sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Pauken und Trompeten: ein Krankenwagen vor dem Mietshaus, zwei Sanitäter, die seinen Vater auf einer Trage die Treppe hinunterbugsierten – und die lieben Nachbarn... Sie reckten ihre Hälse aus den Fenstern, um ja kein Quentchen von dem Schauspiel zu verpassen. – Ein Zeigefinger, seinen Rücken antippend, versetzte ihn wieder in die Realität zurück.
»Du bist gleich dran«, vernahm er Yannicks Stimme. »Alain will mit der Ansage beginnen. Stimmt deine Gitarre?«
Victor ließ in Arpeggen drei Akkorde über die sechs Saiten durchlaufen und nickte zufrieden. »Stimmt, paßt und hat Luft. Von mir aus können wir anfangen.«
Der Restaurant-Club war plötzlich in Halbdunkel getaucht. Nur die kleine Bühne wurde von etlichen farbigen Scheinwerfern erhellt. Alain sprach die letzten Sätze seiner Ansage ins Mikrofon:
»...Ihnen einen jungen Mann vorstellen, von dem ich persönlich glaube, daß er in nächster Zeit von sich reden machen wird: Victor de Munich! Applaus für unsere neue Showhoffnung!«
Ein Vorspiel auf der Gitarre intonierend, schritt Victor von der Bar zum Podest, das die Bühne darstellen sollte und stellte sich hinter das Mikrophon. Mit »Hava Nagila«, einem israelischen Lied, das sich hervorragend dazu eignet, das Publikum gleich zu Anfang so richtig in Schwung zu bringen, begann er seine Darbietung. Er wirkte ausgesprochen gut auf die Zuhörer, die er mit seiner markig-sonoren Stimme augenblicklich in seinen Bann zog. Schlank, mit wohlproportionierten Schultern, schwarze Haare, geteilt durch einen Mittelscheitel, ein sinnlicher Mund in dem etwas kindlichen, aber auf eine gewisse Weise trotzdem männlich wirkenden Gesicht, das bei den meisten Frauen ein Gefühl zum Bemuttern und Verführen gleichermaßen erweckte. Die nervigen Hände mit den langen, schmalen Fingern, um die ihn jeder Pianist beneidete, griffen mit traumhafter Präzision die Begleitharmonien. Der fast hypnotisch anmutende Blick seiner graublauen Augen trug merklich dazu bei, seine Ausstrahlung zu steigern.
Alain und Yannick standen an der Bar und verfolgten den Auftritt gespannt mit. Für sie hatte es den Anschein, ein ganz anderer Mensch stünde vor ihnen. Das war nicht mehr der ungepflegte Penner, wie sie ihn noch vor kurzer Zeit erlebt hatten – nein, er hatte sich in einen gutaussehenden, ernstzunehmenden Künstler verwandelt und war gerade im Begriff, ihnen eine unvergeßliche Lektion zu erteilen.
Das Publikum hatte bei der zweiten Strophe begonnen, im Takt mitzuklatschen. Als Victor das Lied beendet hatte, zwang ihn der anhaltende Beifall zu einer halbminütigen Pause. Anschließend ließ er »Blowing In The Wind«, »La Mer« und »Strangers In The Night« folgen. Als er den ersten Auftritt mit »Katjuscha«, einem russischen Volkslied, im Krakowiak-Rhythmus gehalten, beendete, erntete er frenetischen Applaus, der kein Ende nehmen wollte.
Mit rudernden Armen versuchte Alain, sich Gehör beim Publikum zu verschaffen: »Nun beruhigt euch doch«, rief er, gegen die »Encore«-Rufe ankämpfend, »ihr könnt ihn später noch einmal hören!«
An der Bar angelangt, bestellte sich Victor einen Campari-Soda. Die Beifallsrufe waren abgeebbt und der Geräuschpegel bewegte sich wieder auf das Normalmaß zu. Ein von einem Ohr zum anderen grinsender Gérard stellte das Gewünschte vor ihm hin. Mit einem Seitenblick auf Yannick und Alain bemerkte er: »Ich hab's doch irgendwie im Urin gehabt, daß unser Musikus wie eine Bombe einschlagen wird.«
»Worauf du ganz genüßlich einen lassen kannst«, feixte Yannick zurück. »Jetzt drängt sich aber bei mir die Frage auf, wie ich gegen den Budenzauber, den er veranstaltet hat, anstinken soll. Der Junge hat mich in die Pfanne gehauen, noch ehe ich den Mund aufmachen konnte!«
»So schlimm wird's wohl nicht werden«, warf Alain ein. Der Verlauf des Gesprächs ließ in ihm die Befürchtung aufkeimen, Yannick könnte sich um seinen Auftritt drücken wollen, um eine Bauchlandung zu vermeiden. »Die Leute sind gut vorgeheizt und werden sich ganz bestimmt freuen, einen Yannick Delaye ganz exclusiv für sich zu haben – zumal du auch einige Zeit musikalisch nicht präsent warst.«
»Du mußt dir nicht in deine frischgebügelte Hose machen, lieber Alain«, spöttelte Yannick. »Ich werde sogar ganz bestimmt auftreten. Rein schon interessehalber, um zu sehen, ob ich alter Knochen beim Publikum noch gegen das junge Gemüse anstinken kann...«
Den Stein, der vor Alains Füßen zu Boden polterte, konnte man im ganzen Raum hören.
* * *
Die Glocke der nahegelegenen Kirche läutete den Beginn der vierten Morgenstunde ein. Victor und Yannick saßen vor dem Couchtisch, der mit Geldscheinen und nur ganz wenigen Münzen übersät war. Gefüllte Gläser und etliche geleerte Bierflaschen verrieten dem Betrachter, daß ein bißchen gefeiert wurde. Yannick nahm Victors Geldgurt, den dieser gerade gegen den geliehenen Gürtel austauschen wollte, in die Hand, besah ihn sich und nickte anerkennend.
»Dein Geldgürtel verrät den geübten Reisenden.«
»Durch Schaden wird man klug«, resümierte Victor. »Früher hatte ich mal einen Brustbeutel. Aber der wurde mir im Mailänder Hauptbahnhof geklaut. Da habe ich mich doch saumäßig darüber geärgert und nach einer anderen Möglichkeit gesucht, mein Geld sicher zu verstauen.«
»Und du hast davon nichts bemerkt?«
»Nicht die Bohne. Einfach die Schnur durchgeschnitten, während ich auf dem Gitarrenkoffer gesessen bin und ein wenig gedöst habe. Die Schnur hat mir noch um den Hals gehangen – der Brustbeutel war futsch. Ich konnte ja noch direkt froh sein, daß man mir nicht die Gitarre unterm Arsch weggeklaut hat. Man behauptet doch immer, die Italiener wären so musikalisch...«
»Die Idee ist gut. Der Gürtel sieht ganz normal aus. Niemand vermutet auf der Rückseite ein Fach mit Reißverschluß, in dem Geldscheine Platz haben.«
»Man darf es nur niemanden wissen lassen, sonst ist der Vorteil dahin. Darum trage ich immer soviel Geld in der Hosentasche, wie ich glaube, zu brauchen. Und reicht es mal doch nicht, gehe ich auf die Toilette und fische ein paar Scheine aus dem Gurt – da sieht es niemand.«
»Bist ein schlaues Kerlchen. Tja, Erfahrung ist eben alles. – Sag mal, wieviel Kies hast du denn heute eigentlich eingefahren?«
»Zu den tausend, die Alain berappt hat, sind noch fast dreieinhalbtausend an Trinkgeld eingegangen. Hörerwünsche wurden besonders gut honoriert. Mann...! Du hast recht gehabt! Da würde es reichen, wenn ich bloß einmal die Woche spiele!«
»Den Dusel hast du nicht jeden Tag, das wirst du schon noch merken. Daß man dir heute soviel zugesteckt hat, ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Leute ständig nach etwas Neuem suchen und bereit sind, auch ordentlich was dafür hinzublättern. Ich hoffe, du hast nun kapiert, was ich damit meinte, als ich sagte, du sollst in Kneipen spielen, wo die ›Scheinwerfer‹ sich aufhalten – da schonst du Stimme und Nerven.«
»Das mag schon sein, aber auf die Dauer halte ich diese Typen nicht aus.« Victor zog eine Grimasse. »Ich möchte nämlich auch gerne vor normalen Menschen spielen. Menschen, denen meine Musik genauso gefällt, nur mit dem Unterschied, daß die darauf noch ehrlicher reagieren. Wenn die einem zwei Franc in den Hut werfen, dann bedeutet das für mich genausoviel wie ein Hunderter von solchen Typen, die glauben, sie hätten dich mit Haut und Haaren gekauft, wenn du ihr Geld annimmst.«
»Hmmm... Alles schön und gut.« Yannick nahm einen kräftigen Schluck Bier und überlegte kurz. »Also... Wenn du schon so gerne, wie du sagst, vor normalen Menschen spielst – warum beginnst du dann keine richtige Karriere? Bist du erst einmal so bekannt wie ich, kannst du deinen Wunschtraum verwirklichen und einen viel größeren Kreis von Menschen mit deiner Musik ansprechen, ohne dich prostituieren zu müssen. Logisch – oder?«
»Und wer, glaubst du, würde ausgerechnet mich produzieren wollen?« fragte Victor zweifelnd. »Bei all dem Überangebot an guten Musikern, wie du mir erst vor kurzem so schonungslos klargemacht hast?«
»Einen guten Produzenten zu finden, ist keine Schwierigkeit – dabei kann ich dir helfen, denn du besitzt alles, was einen guten Musiker ausmacht. Schwieriger wird es dann schon, dich beim Publikum gut zu verkaufen, weil du Lieder singst, die eine jede Menge anderer Sänger auch bringen – und damit bist du einer von vielen. Das ist jetzt beileibe nicht negativ gemeint – ich selbst hatte damals auch keine besseren Voraussetzungen, bis ich jemanden kennenlernte, der mir ein Lied verkaufte, mit dem ich meine Karriere startete. Und das gleiche brauchst du auch: Einen Hit! Einen Song, der so auf dich zugeschnitten ist, daß er deine Person, dein ganzes Wesen verkörpert. Ein Lied, das garantiert noch niemand vor dir je auf Schallplatte oder sonstwie öffentlich gesungen hat! Schreib es selber oder laß es komponieren – egal, wie du es machst – es muß zu dir passen!«
»Angenommen«, Victor kratzte sich nachdenklich am Kopf, »ich hätte eines Tages so einen Song, von dem ich glauben würde, es wäre das Nonplusultra... Was dann?«
»Dann setzt du dich sofort mit mir in Verbindung. Du wirst mir den Song vorführen – und wenn du es schaffst, daß ich meinen müden Arsch vor lauter Begeisterung vom Sessel hochbekomme, werde ich unverzüglich alles Nötige einleiten, das es dir ermöglicht, auf der Karriereleiter ein paar Sprossen höher zu klettern. Das ist ein Versprechen und kein Dampfgeplaudere aus einer weinseligen Stimmung heraus! Also – denk' daran, falls dir mal ein Lied über den Weg läuft und du nicht weißt, wie du es anstellen sollst, daraus Kapital zu schlagen. Ich bin immer für dich da!«
»Mann! Das willst du wirklich für mich tun?« Victors Begeisterung geriet beinahe zur Euphorie. »Das finde ich echt irre! Ich glaube zwar nicht, daß ich jemals in die Lage kommen werde, deine Dienste in Anspruch zu nehmen, aber allein schon das sichere Gefühl, daß du mir helfen willst, wenn es mal soweit ist, gibt mir wieder ein bißchen den Glauben an die Menschheit zurück. – Übrigens – was ich dir schon die ganze Zeit über sagen wollte: Ich habe dich und deine Art Musik zu machen, wirklich zu vorschnell beurteilt. Ich hätte mir es nie träumen lassen, daß mich ein Yannick Delaye – ein Schlagerfuzzy, wie ich dich noch vor kurzem bezeichnet habe, überzeugen kann, daß es auch Sänger gibt, die insgeheim einiges mehr können, als bloß das Publikum anzuheulen. Du hast ja wirklich eine jede Menge anderer Songs auf Lager!«
»Na ja...« Yannick war sichtlich verlegen. »Nachdem du so aufgedreht hattest, mußte ich ja irgendwie dagegenhalten. Ich lasse mich doch nicht von dir Grünschnabel auf meinem eigenen Terrain in die Pfanne hauen. Und was die Songs angeht... Jetzt, wo ich bekannt bin, kann ich es mir erlauben, auch mal etwas Anderes zu bringen – man kauft es mir ab. Jetzt, wo ich so ziemlich alles erreicht habe, kann ich es mir leisten, große Fêten zu veranstalten, bei denen ich Jam-Sessions mit anderen Musikern abhalte und das spiele, was mir wirklich Spaß macht. Mit den seichten Liedern verdiene ich mir nur den Lebensunterhalt. Du magst das vielleicht Prostitution nennen, doch wenn du selber mal in die Lage kommst, musikalisch etwas zu machen, was dir zwar viel Geld bringt, von dem du aber nicht absolut überzeugt bist, wirst du bestimmt an mich denken. Ohne Kies in der Tasche läßt es sich leicht ein Idealist sein, aber du wirst auch immer nur von der Erfüllung deiner Wünsche träumen. – So, nun haben wir genug gequatscht – ich hau mich in die Falle! Das Gästezimmer habe ich für dich hergerichtet. Und morgen kutschiere ich dich in dein heißersehntes St. Tropez... Gute Nacht...«