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ОглавлениеDRITTES KAPITEL
Dröhnendes Gelächter, begleitet von frenetischem Applaus, erfüllte die Bar Tabac, während die vier Travestie-Darsteller eine Show im Innern der Kneipe abzogen. Eigentlich wollten sie in ihrer Pause bloß Zigaretten kaufen, wurden aber durch deftige Kommentare der Gäste dazu ermuntert, eine Sondereinlage zu geben. Sie waren wie Variété-Mädchen gekleidet, mit Pfauenfedern am Hintern, was sie noch grotesker wirken ließ. Durch die Tischreihen scharwenzelnd, machten sie die männlichen Gäste auf provozierende Weise an. Einer von ihnen, zurechtgestylt wie Marilyn Monroe, tätschelte einem älteren Mann den Kopf und flötete:
»Na, mein Süßer, ich habe das starke Gefühl, daß du allmählich in das Metallzeitalter kommst...«
»Metallzeitalter...?« rätselte das Publikum. »Wieso...? Warum...? Noch nie gehört...!«
»Silber in den Haaren...« ließ sich Marilyn die Pointe auf der Zunge zergehen, »Gold auf den Zähnen... Und Blei in den Beinen...!«
Das Publikum bog sich vor Lachen und übertrieben mit ihren Hintern wackelnd, verließen die Spaßvögel die Bar Tabac.
Joan und Victor saßen am Tisch, gerade dabei, Geld zu zählen, was aber momentan nicht möglich war, weil sie von Lachkrämpfen geschüttelt wurden.
»Die machen immer so einen Scheiß...!« stöhnte Joan und hielt sich den Bauch.
»Du kennst sie?« fragte Victor
»Ja. Sie treten in einem Travestie-Night-Club auf. Gleich ein paar Ecken weiter. Manchmal kommen sie herein, weil ihnen die Luft im Club zu ›schwül‹ ist, wie sie sagen. Aber ich glaube eher, daß sie hergeschickt werden, um ein bißchen Reklame zu machen. Ist ja auch egal. Auf alle Fälle gibt es immer einen Mordsspaß, wenn sie da sind.«
»Sie waren wirklich Spitze! Zum Schießen!«
In diesem Moment betrat Felipe die Bar und setzte sich zu den beiden.
»Ich habe schon von weitem mitbekommen, was los war«, grinste er. »Das Gelächter konnte man fast bis zum Marktplatz rauf hören.«
»Die bringen aber auch Leben in die Bude! Ich bin sonst kein großer Freund von derartigen Shows, doch die haben mich voll überzeugt.« Victor war begeistert, wie schon lange nicht mehr. »Was ich dich fragen wollte... Kannst du mir ein paar Flamenco-Läufe beibringen? Ich will dir beileibe keine Konkurrenz machen, aber ich habe auch einige spanische Lieder, wie zum Beispiel ›Granada‹, im Repertoire. Da würde natürlich eine spanisch klingende Introduktion das Ganze enorm aufwerten.«
»Dann mal los! Aber dafür zeigst du mir auch, wie man Blues spielt...«
Während Victor und Felipe zusammen übten, wurden sie von einem geschniegelten, aber nicht unsympathisch wirkenden, südländischen Typen mit unergründlichen Augen, aufmerksam beobachtet...
* * *
Diesen Freitagabend würden Joan und Victor so schnell nicht vergessen. Die Stadt war erfüllt von brodelndem Leben, der Tag versprach, ein gutes Geschäft zu werden. Joan war mit Victor übereingekommen, für dreißig Prozent der Einnahmen sammeln zu gehen. Diese Arbeitsteilung machte Victor beweglicher, denn er konnte dadurch wesentlich mehr Restaurants und Plätze bespielen und es kam mehr Geld herein – mehr als die dreißig Prozent ausmachten. Das war auch darauf zurückzuführen, daß Joan ein umwerfendes Talent hatte, Charme und Sex gezielt beim Sammeln einzusetzen, was reichlich Früchte trug. Und so bildeten sie eine Symbiose, die tadellos funktionierte. Joan hatte zum ersten Mal ihn ihrem Leben eine Aufgabe, die sie richtig erfüllte und ihr Selbstvertrauen wuchs von Tag zu Tag.
Aber an jenem Abend sollte alles anders kommen. Auf dem Weg zum Hafen hörten sie schon von weitem Akkordeonklänge, die sie anfangs allerdings noch nicht beachteten. Viele Musikanten kamen nach St. Tropez. Manche blieben für längere Zeit, andere wiederum zogen nach kurzem Aufenthalt weiter. Neue Gesichter und auch Klänge gehörten zur Tagesordnung. Und so schritten sie die Hafenstraße ab, einen freien Platz suchend, an dem sie ihre allabendliche Tour beginnen konnten. Es war keiner zu finden. Die ganze Straße entlang saßen Zigeunerkinder auf Campingstühlen und spielten Akkordeon. Der Abstand zwischen ihnen betrug nicht mehr als dreißig Meter, so daß sich die Musik überschnitt, was ihrer Konzentration anscheinend keinen Abbruch tat. Ihr klägliches Repertoire bestand aus nur vier Liedern: »Trink, Brüderlein, Trink« – »Kalinka« – »Viva España« und »Schneewalzer«. Die Interpretation – falls man diese traurige Darbietung überhaupt so nennen konnte – war schlichtweg eine Katastrophe. Und wer seine Ohren etwas anstrengte, hörte ohne weiteres den identischen Stil heraus, der auf eine gemeinsame Schule schließen ließ. Aber was das Faß zum Überlaufen brachte, war ihre übertrieben mitleiderregende Art, sich zu präsentieren. Wie sie so dasaßen, mit ihren großen, rehbraunen Augen – verschüchtert dreinguckend, der Körper eine rachitische Haltung einnehmend – machten sie den Leuten glauben, alles Leid der Welt durchgemacht zu haben. Und der Obolus, den sie einheimsten, war nicht bloß auf ihre miserable Musikdarbietung zurückzuführen. Diese abgefeimt widerliche Zurschaustellung scheinbar menschlichen Elends – die Kinder machten bei genauerem Hinsehen einen durchaus wohlgenährten und gesunden Eindruck – diente nur dem einzigen Zweck, nämlich den gutgläubigen Menschen das Geld ohne nennenswerte Gegenleistung aus der Tasche zu ziehen. Victor verfluchte in Gedanken die Eltern für diese Art von Dressur und wandte sich angeekelt zu Joan:
»Das ist wohl das hinterfotzigste und abgebrühteste Theater, das ich je erlebt habe! Laß' uns bloß zu den anderen Plätzen gehen! Das ist ja eine Katastrophe! Die sind mit ihren Akkordeons so laut, daß sie den ganzen Hafen beherrschen – man hat keine Chance gegen sie!«
Und so begaben sie sich in die malerische Altstadt von St. Tropez, um die übrigen Restaurants abzuklappern. Doch sie erlebten eine böse Überraschung: Überall, wo sie hinkamen, waren Zigeunerkinder am Werk. Hatten sich festgebissen und langweilten das Publikum mit ihren vier Liedern. Da in St. Tropez das ungeschriebene Gesetz herrschte, zu warten, bis der Auftritt eines Musikanten beendet war, konnten sie natürlich nichts dagegen unternehmen. Es wäre auch vergebliche Liebesmüh' gewesen, denn das Musikgewirr, welches die Kinder mit ihren Ziehharmonikas verbreiteten, würde sich auf jeden anderen Musikanten störend auswirken. Er wäre unfähig, seinen Vortrag in gewohnter Manier darzubieten.
Niedergeschlagen lenkten sie ihre Schritte in Richtung Bar Tabac. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einer Gruppe von drei Zigeunermädchen, die anscheinend als mobiles Einsatzkommando agierten. Sie zogen, dieselben Lieder singend und spielend durch die Straßen, wobei die Jüngste, ein niedlich anzusehendes Mädchen von etwa vier Jahren, tamburinschlagend tanzte und anschließend bei den Umstehenden mit unwiderstehlich kindlicher Anmut Geld einsammelte.
»Guck dir mal ihre Akkordeons an! Bei manchen fehlen sogar mehrere Tasten!« Joan war entrüstet. »Und mit diesem Müll versuchen sie, die Leute zu verarschen! Abzocke pur! Einfach widerlich! Das sind die besten Schauspieler, die mir jemals untergekommen sind!«
Victor und Joan steuerten im Gedränge der Massen die Bar Tabac an. Felipe stand am Eingang und rief ihnen zu:
»Kommt! Wir haben schon auf euch gewartet! Wir halten gerade eine Krisensitzung ab! Du kannst dir sicher denken, warum!«
Aufgeregtes Stimmengewirr empfing die drei, als sie den Innenraum der Bar Tabac betraten.
»Die wollen uns fertigmachen! Werfen wir sie raus! – Nicht bloß rauswerfen, rausprügeln, so daß sie für alle Zeiten das Wiederkommen vergessen! – Wir sollten die Bullen einschalten! – Ach was, die kümmern sich doch nicht um unseren Scheiß! – Aber man nimmt uns doch unsere Existenz! Überall sind diese Ratten zugange! Es genügt ihnen nicht, daß sie den Hafen in Beschlag genommen haben! Nein...! Sie müssen auch noch den Rest der Stadt mit ihrer fiesen Musik überschwemmen! – Er hat recht! Überall sind diese Zigeunerbälger anzutreffen! Du findest keine ruhige Ecke mehr, wo du ungestört musizieren kannst! – Aber was können wir definitiv gegen sie unternehmen? – Nichts, wenn wir nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen wollen! – Das ist mir zu wenig, da muß etwas geschehen! – Hast du eine Idee? – Ja! Wenn wir geschlossen gegen sie vorgehen, wird es den Bullen ziemlich schwer fallen, etwas gegen uns zu unternehmen – zumal sie die Zigeuner auch nicht besonders lieben!«
»Hört doch mal bitte alle zu!« unterbrach Victor lautstark die Diskussion und unterstrich sein Ansinnen durch eine energische Handbewegung. »Die meisten von euch kennen mich wahrscheinlich noch nicht, aber ich bin genauso ein Straßenmusiker von echtem Schrot und Korn, wie ihr alle! Und wer es nicht glaubt, soll meinen Freund Felipe fragen! Aber das steht jetzt gar nicht zur Debatte! Meine Existenz ist genauso betroffen wie die euere, weil sich diese ›Invasoren‹, wie ich sie nenne, nicht an die ungeschriebenen Gesetze der Straßenmusiker halten! Darum teile ich euere Meinung, wenn ihr sagt, man müsse dieses Pack rauswerfen! Doch so leicht, wie ihr euch das denkt, geht das nicht! Ich habe nämlich die Mitleidsmasche dieser Kinder genau beobachtet! Die haben die Sympathien der Leute auf ihrer Seite, auch wenn sie – oder gerade weil sie die Kinder dieser ach so ungeliebten Zigeuner sind! Macht doch mal den Versuch, sie mit Gewalt aus der Stadt zu vertreiben – ihr werdet euer Blaues Wunder erleben! Ihr könnt musikalisch noch so gut sein – es wird kein Hund mehr von euch ein Stück Brot annehmen! Ihr seid dann erst recht erledigt! Und darauf spekulieren doch diejenigen, die hinter der ganzen Sache stecken! Sie wollen die Stadt einnehmen! Wie im Mittelalter! Also müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir unser Terrain zurückgewinnen können, ohne die Gunst des Publikums, von dem wir ja schließlich abhängig sind, zu verlieren! Und ich weiß auch schon, wie das zu bewerkstelligen ist!«
»Dann laß doch mal die Sau raus!« kamen die Zwischenrufe »Genau! Klugscheißen kann ich auch, aber eine zufriedenstellende Lösung zu finden, das doch ein anderes Kapitel!«
»Unsere große Schwäche ist«, Victor verschaffte sich mit einer energischen Handbewegung Gehör, »daß die meisten von uns akustisch spielen und singen. Mit Saiteninstrumenten, die nicht gegen die Lautstärke von Blas- oder Schlaginstrumenten anstinken können! Zu dieser Kategorie gehören eben auch die Akkordeons, die uns das Leben so sauer machen! Fazit ist: Wir müssen ganz einfach lauter sein! Erst dann wird es uns gelingen, sie aus der Stadt zu pusten!«
»Und wie sollen wir das bewerkstelligen, wenn ich fragen darf?« meldete sich Kevin Thornton, zu Wort. Er war der Leadsänger und Boß der Trinidad Steel Band. »Wir sind bestimmt nicht leise, aber wir haben bisher noch nie absichtlich Kollegen in die Pfanne gehauen! Doch dieses Mistvolk stört uns ganz empfindlich, wenn ich mal ganz ehrlich bin! Sie kennen keine Fairness und halten sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze! Ich sehe wirklich nur den Weg, sie mit Gewalt aus der Stadt zu treiben!«
»Damit würdest du uns allen schaden! Ich habe eine Idee, diesen Zustand ohne Prestigeverlust zu beenden. Aber dazu brauche ich deine Zustimmung, denn immerhin bist du, wie mir scheint, der Anführer der Straßenmusikanten von St. Tropez. Gib mir einen Tag – und du kannst das Problem abhaken. Ich möchte bloß nicht in aller Öffentlichkeit über mein Unternehmen reden, weil ich nicht weiß, ob jemand hier drinsitzt, der für die Gegenseite spioniert.«
»Du scheinst einen überlegenden Kopf zu besitzen«, sagte Kevin. »Das gefällt mir. Ich finde, daß du recht hast, was die Meinung des Publikums betrifft. Aber du mußt auch verstehen, daß viele Existenzen davon abhängen. Das Leben hier ist dermaßen teuer, daß es sich niemand leisten kann, länger als drei Tage zu pausieren. Mir liegt wirklich nicht daran, einen Krieg zu beginnen, doch wenn sie ihn haben wollen, sollen sie ihn bekommen, obwohl es mir wesentlich lieber wäre, wenn die Angelegenheit auf friedliche Weise geregelt würde. Darum gebe ich dir einen Tag Zeit, sie aus der Welt zu schaffen. Gelingt es dir nicht, starten wir morgen genau um Mitternacht eine Aktion!«
Victor, Joan und Felipe setzten sich an einen freien Tisch nahe der Küche. Imre, der an der Bar stand, gesellte sich, sein Glas in der Hand, zu ihnen. »Ich habe bereits alles mitbekommen, du brauchst mir also nichts mehr zu erzählen. Aber mich würde brennend heiß interessieren, wie du das Problem aus der Welt schaffen willst.«
»Als ich von Italien kam, hatte ich in Nizza haltgemacht. Dort sah ich einen Straßenmusiker, der auf einer Elektrogitarre spielte. Ihr werdet jetzt sagen: Na und? Das ist doch nichts Besonderes. Aber es ist sogar ganz was Besonderes, weil man dazu einen Verstärker braucht! Und er hatte einen! Jetzt werdet ihr vielleicht wieder sagen: Na und? So ein Ding haben doch viele Musiker. Richtig! Aber so ein Gerät benötigt Energie – und wo nimmt man die her, wenn man auf der Straße spielt?«
»Jetzt weiß ich endlich, auf was du hinauswillst!« Felipe schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und lachte. »Du hast vor, dir einen Verstärker zu besorgen! Und dazu einen von diesen superleisen Benzingeneratoren, die dir den nötigen Strom liefern!«
»Fast richtig!« Victor grinste schief. »Aber eben nur fast! Damit bist du ziemlich unbeweglich und außerdem kommt es dich viel zu teuer. Nein – der Gitarrist hatte sein Energieproblem viel eleganter gelöst. Er hatte sich einen dieser neuartigen Batterieverstärker zugelegt! Nicht viel größer als ein Kofferradio, aber wahnsinnig leistungsfähig. Mann, der hat alles an die Wand gespielt!«
»Aber woher willst du jetzt auf die Schnelle so einen Apparat bekommen?« fragte Joan. »In St. Tropez gibt es, soviel ich weiß, doch kein Musikgeschäft!«
»Wir fahren morgen in aller Frühe nach Marseille. Dort werden wir schon so ein Ding auftreiben.«
»Warum nicht nach Cannes?« warf Felipe ein. »Das liegt doch viel näher! Da gibt es einen Laden, in dem ich immer mein Gitarrenzubehör kaufe. Der hat auch Verstärker und Tonabnehmer im Angebot.«
»Aber keine Batterieverstärker! Ich kenne den Laden nämlich auch und war vor zwei Tagen erst dort, weil mir allmählich die Saiten ausgingen. Der Verkäufer wußte gar nicht, daß es so etwas gibt, als ich ihn interessehalber danach fragte.«
»Ihr braucht einen Stadtführer«, mischte sich Imre ins Gespräch, »sonst kann es sehr lange dauern, bis ihr den richtigen Laden findet. Ich habe früher mal in Marseille gewohnt und kenne mich daher sehr gut aus. Wenn ihr mich also dabeihaben wollt...?«
»Nichts lieber als das!« freute sich Victor. »Jede Hilfe wird dankbar ange-nommen!«
»Außerdem reist es sich in einem Mercedes mit Klimaanlage bei dieser Affenhitze viel besser. Ich hole euch also morgen um acht Uhr hier ab. Schlaft euch darum gut aus – damit ich auf euch Nachtlichter nicht zu lange warten muß...«
»Du hast es gerade nötig, zu reden!« rief Felipe hinter Imre her, als dieser die Bar verließ. »Selber ein Nachtlicht!«
* * *
Der Mercedes hielt vor einem Gebrauchtwarenladen. Das Quartett stieg aus. Der Besitzer, gerade dabei, die Markise zurückzukurbeln, blickte neugierig auf die späte Kundschaft.
Seit fast sieben Stunden befanden sie sich nun in Marseille. Bisher ohne Erfolg. Es war Ende Juli und die meisten Geschäfte waren wegen Betriebsurlaub geschlossen. Diejenigen Musikalienhandlungen, die geöffnet hatten, führten keine Batterieverstärker, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als auch sämtliche Elektronikhändler der Stadt abzuklappern.
Die vier betraten den Laden und der Besitzer trabte hinterher. Sie blickten sich prüfend in dem Geschäft, das wie eine Mischung zwischen einem Trödelladen und einem Elektronikgeschäft aussah, um.
»Guten Abend, meine Herrschaften«, begrüßte er sie und legte die Kurbel auf den Tresen. »Womit kann ich Ihnen zu so später Stunde noch dienen?«
»Wir brauchen einen tragbaren Verstärker«, sagte Victor ohne große Hoffnung. »Aber mit Batteriebetrieb. Ein Kollege von Ihnen gab uns diese Adresse, weil er meinte, Sie könnten so etwas führen.«
»Hm... Einen tragbaren, batteriebetriebenen Verstärker... Mal sehen... Bin gleich wieder zurück...« Der Händler drehte sich um, öffnete eine Tür und betrat den rückwärtigen Raum.
»Es ist aber auch zum Heulen!« wetterte Imre. »Als wenn sich die Scheißer alle abgesprochen hätten, genau in dieser Zeit Urlaub zu machen! Da können wir unter Umständen noch sehr lange suchen!«
»Bei dem Trödler hier sehe ich erst recht schwarz«, gab sich Felipe pessimistisch. »Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, daß der so ein Ding in seiner Rumpelkammer herumstehen hat!«
»Den Weg hätten wir uns sparen können!« Victor war mittlerweile stocksauer. »Seht euch doch bloß mal um! Dieser ganze Krempel, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat! Das ist ja hier schlimmer als auf dem Flohmarkt! Ich fürchte fast, es wird in St. Tropez Krieg geben!«
Just in diesem Moment betrat der Besitzer wieder den Laden und stellte einen Verstärker in der doppelten Größe eines Aktenkoffers auf die Theke. »Ein tragbarer Verstärker, meine Herrschaften!« strahlte er. »Bitte sehr... Wenn Sie ihn mal begutachten wollen... Vielleicht sagt er Ihnen zu.«
»Sind Sie sicher, daß der auch mit Batterien funktioniert?« fragte Victor verunsichert. »Der hat ja ein enormes Ausmaß!«
»Absolut«, lächelte der Besitzer nachsichtig und löste mit einem Schraubenzieher die Rückseite vom Gerät. »Sie haben mir doch genau erklärt, was Sie möchten – und hier ist es! Bitte, überzeugen Sie sich selbst!« Der Ladenbesitzer drehte die Rückseite um und legte sie auf den Tisch. Victor konnte nun zwei Metalleisten sehen, auf denen Batteriehalteklammern aufgenietet waren. Ein Kabel mit doppeltem Bananenstecker führte in den Verstärker. »Sie benötigen zwanzig Mono-Zellen«, erklärte der Besitzer stolz. »Damit können Sie das Gerät bei mittlerer Lautstärke ungefähr hundert Stunden betreiben. Nicht schlecht, was?« Er griff in den Verstärker und holte ein Netzkabel heraus. »Aber das ist noch nicht alles! Wenn Sie mal an einem Ort musizieren, wo Strom vorhanden ist, können Sie Batterie sparen, indem Sie ihn ganz einfach bloß ans Netz anschließen. Man kann ihn übrigens auch auf 110 Volt umschalten. Außerdem hat er einen Baß- und einen Höhenregler. Und was vielleicht für Sie noch sehr wichtig ist: Er besitzt zwei Eingänge. Sie können also zwei Instrumente gleichzeitig anschließen oder einen Tonabnehmer mit einem Gesangsmikrofon kombinieren. Und der Sound ist vom Feinsten – damit werden Sie sich mühelos gegen den Straßenlärm und lästige Konkurrenten durchsetzen...«
»Ich glaub's einfach nicht!« stöhnte Felipe fassungslos und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Mir fehlen die Worte! Woher haben Sie den Apparillo? Der wird doch bestimmt nicht serienmäßig hergestellt!«
»Das haben Sie richtig erkannt!« lächelte der Besitzer stolz. »Mein Sohn hatte ihn vor ungefähr drei Jahren gebaut. Er hat ihn vielleicht zehnmal benutzt, dann kam der Unfall, der ihm die linke Hand kostete. Tja... Da war's natürlich für immer aus mit dem Sambaspielen. Wissen Sie... Seine großen Vorbilder waren nämlich die Gitarristen Baden Powell und Charlie Byrd. Jede freie Minute hat er dazu benutzt, zu üben und die neuen Lieder anschließend dem Publikum auf der Straße zu präsentieren. Manchmal hat er auch dazu gesungen – fast wie Joao Gilberto. Aber weil seine Stimme nicht sehr laut war und die Gitarre allgemein dem Straßenlärm hoffnungslos unterlegen ist, kam er auf die Idee, einen Verstärker speziell für die Bedürfnisse eines Straßenmusikers zu bauen.«
»Ich kann ihrem Sohn gut nachfühlen, was ihm widerfahren ist«, sagte Victor und es war nicht bloß routinemäßig gemeint. »Ich wüßte nicht, was ich tun würde, wenn mir so etwas zustoßen sollte... Und was macht ihr Sohn jetzt?«
»Zum Glück hat er sich nicht unterkriegen lassen und sein Studium erfolgreich abgeschlossen. Er leitet nun eine kleine Firma als Elektronikingenieur und hat vor drei Monaten geheiratet. Ja, ja... Er hat diese schwere Krise bestens gemeistert – ein anderer wäre daran zugrunde gegangen.«
»Was soll das Gerät denn kosten?« fragte Victor und deutete auf den Verstärker.
»Zweitausend Franc.«
»Ich weiß, daß er es wert ist und ich möchte auch nicht, daß Sie den Eindruck haben, ich wäre kleinlich...« sagte Victor. »Aber bestimmt kennen Sie die lieben Nöte der Straßenmusiker...«
»Wenn ich sie nicht kenne – wer sonst?« lächelte der Besitzer verstehend. »Darum gebe ich Ihnen noch zwei erstklassige Gitarrentonabnehmer, ein exzellentes Gesangsmikrofon mit Ständer und zwei komplette Batteriesätze dazu. Aber dann möchte ich mit Ihnen nicht mehr weiterfeilschen müssen. – Haben Sie zufällig Ihre Instrumente dabei?«
»Aber sicher! Sonst können wir doch gar nicht ausprobieren, ob das, was wir kaufen, auch in Ordnung ist.«
»Dann bringen Sie sie herein. Ich werde Ihnen die Tonabnehmer anbringen und sie können den Verstärker gleich testen.«
»Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig zurück, sonst gibt's Krieg...« lamentierte Felipe, als sie den Trödelladen verließen.
* * *
Es war kurz vor 23 Uhr, als das Quartett in St. Tropez ankam. Das Bild hatte sich nicht verändert: wo man auch hinblickte – Zigeunerkinder mit ihren Akkordeons! Victor und Felipe stellten sich gegenüber der Bar Tabac auf die Straße – genau zwischen zwei der Zigeunerjungen und packten, die Vorfreude genießend, ihre Instrumente aus. Mit ein paar Handgriffen schlossen sie die Gitarren an den Verstärker an – ein kurzer Sound-Check – und ab ging die Post! Der Rumba dröhnte durch die Straße, daß den Knaben fast die Ohren abfielen. Sie versuchten dagegen anzukommen, indem sie lauter spielten, doch Victor bückte sich nur kurz, drehte den Lautstärkeregler höher – und das alte Verhältnis war wieder hergestellt. Nach fünf Minuten gaben sie entnervt auf und verließen die Szene. Weiter ging's – hundert Meter. Das gleiche Spiel. Eine Sevilliana, rassig, aufpeitschend – und vor allen Dingen laut! Das gleiche Ergebnis: die Jungen klappten ihre Campingstühle zusammen, schwangen ihre Akkordeons auf den Rücken und machten sich aus dem Staub. Nun zahlte es sich aus, daß Victor bei Felipe Flamenco-Unterricht genommen hatte – die Knäblein wurden förmlich von ihren Stühlen geblasen!
Schadenfroh grinsend, kamen viele Straßenmusiker aus der Bar Tabac und beobachteten das Spektakel. Kevin löste sich von ihnen und schritt auf Victor und Felipe zu.
»Ihr raffinierten Hunde!« rief er bewundernd. »Das ist also euere Geheimwaffe! Mit dieser Phonkanone blast ihr die Bälger schneller und gründlicher aus der Stadt, als wir das mit Gewalt schaffen würden! Super Idee!«
Victor gab Felipe ein Zeichen, den Rumba zu beenden. »Wir werden sie jetzt so richtig durch die Gegend jagen – und wenn es bis zum Morgen dauert«, sagte er zu Kevin. »Sie sollen keine ruhige Minute mehr haben. Wir fegen sie aus der Stadt, daß sie für alle Zeiten das Wiederkommen vergessen. Aber dazu brauchen wir euere Hilfe. Ihr müßt beobachten, wohin sie gehen, damit wir nicht lange nach ihnen suchen müssen. Und dann wäre es auch gut, wenn sich einige von euch immer in unserer Nähe aufhielten, sollte die restliche Zigeunersippschaft versuchen, uns Ärger zu machen.«
»Das sind übrigens jugoslawische Zigeuner«, klärte Kevin sie auf. »Sie leben einem wilden Campingplatz in mehreren alten Bauarbeiterwohnwagen, als Zugmaschinen haben sie klapprige Traktoren. Die lassen sich hier nicht blicken, weil sie ganz genau wissen, daß sie es dann mit uns allen zu tun bekommen werden. Aus diesem Grund haben sie auch die Kinder vorgeschickt. Wirklich clever, darauf zu bauen, daß wir uns nicht an ihrer Brut vergreifen!«
»Laßt uns schon mal zum nächsten Platz düsen«, sagte Victor und packte seine Gitarre in den Koffer. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden.«
Und so scheuchten sie die Sippschaft aus der Stadt, daß sie für alle Zeiten das Wiederkommen vergaß. Der Lärm der anschließenden Siegesfeier in der Bar Tabac war im ganzen Hafen zu hören. Sie zog sich bis zum frühen Morgen hin, doch niemand nahm Anstoß daran, obwohl die ganze Bande mit ihren Musikinstrumenten einen Höllenradau veranstaltete. Dazwischen gab es immer wieder begeisterte Hochrufe für das Quartett, das natürlich von den Kollegen freigehalten wurde. Es war auch die Geburt der Vereinigung aller Straßenmusiker von St. Tropez, mit dem feierlichen Versprechen, stets in allen schwierigen Situationen zusammenzuhalten und alle unliebsame Elemente, die vorhatten, die ungeschriebenen Gesetze zu verletzen, in Zukunft gemeinsam aus der Stadt zu entfernen.