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ZWEITES KAPITEL

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, doch die Hitze, die sie herabsandte, konnte die Menschen nicht vertreiben. Die Stadt war erfüllt von Leben. Man machte Einkäufe, saß in Cafés oder Restaurants unter riesigen Markisen, stand Schlange an Eisdielen oder flanierte, nur so zum Spaß, die Straßen entlang.

Victor marschierte, vom Parkplatz kommend, den Hafen entlang. Die Straße war breit genug, um die Autos durchzulassen, welche, durch den starken Fußgänger­verkehr behindert, nur im Schritt fahren konnten. Das Trottoir an der Meerseite war angefüllt mit Malern, Kunsthandwerkern und fliegenden Händlern, die ihre Erzeug­nisse zum Verkauf anboten.

Den Häusern der Stadt sah man an, daß sie auf natürliche Weise gealtert waren: ungepflegt bis an die Grenze der Verwahrlosung, aber dennoch von unver­gleich­lichem südländischen Reiz. Die Straße machte nun einen Knick nach links zum Zentrum des Hafens – zu den Anlegestellen der Renommier-Yachten.

Ein Polizist in blauer Uniform schritt gemächlich vor Victor dahin, gefolgt von einem unangenehm aussehenden Typen, der ein Penner zu sein schien. Ungefähr zwei Meter vom Rücken des Polizisten entfernt, gab er ein Geräusch von sich, das dem eines sich Erbrechenden nicht ganz unähnlich war. Der Polizist, über diese Herausforderung höchst verärgert, drehte sich um und ging ganz langsam auf den Penner zu. Zur gleichen Zeit sah Victor aus einem Hauseingang einen Mann in Zivil dem Uniformierten zur Hilfe eilen. Einige Worte, die er nicht verstehen konnte, weil er sich etwas weiter entfernt befand, wurden gewechselt, dann nahmen die beiden den Penner in die Mitte. Dieser nahm die Arme hoch, ein höhnisch-überlegenes Grinsen im Gesicht, als wollte er aller Welt zurufen: »Seht her, Leute, das ist unsere Polizei! Du kannst auf der Straße nicht einmal mehr rülpsen oder furzen, ohne daß sie dich hopsnehmen!«

Der Polizist in Zivil indessen war hinter ihn getreten – zwei furchtbare Hand­kantenschläge in die Nieren – das Grinsen fiel ihm buchstäblich aus dem Gesicht und er klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Ohne weiteres Aufsehen zu erregen, führten ihn die beiden Polizisten, wie Victor mutmaßte, zur Wache.

»Das war's dann wohl«, dachte sich Victor und steuerte die nächste Bar an, um den Schrecken herunterzuspülen. Die Plätze im Freien waren alle besetzt, also ließ er sich im Innenraum nieder.

Ein ständiges Kommen und Gehen pulsierte durch das Lokal, dessen Besitzer als einziger am Hafen eine Lizenz für den Verkauf von Tabak besaß. In Frankreich gibt es nämlich keine Zigaretten­automaten und den »Blauen Dunst« kann man nur in Geschäften mit dem Titel »Bureau de Tabac« oder »Bar Tabac« – kurz »Tabac« genannt, erwerben. Zwei Verkäuferinnen versuchten, dem Ansturm der Kunden gerecht zu werden, die Bedienungen riefen dem Tresenmann – sein Gesicht erinnerte Victor an ein Loriot-Männchen – und seiner Helferin ihre Bestellungen zu. Zwei Jugendliche, sie mochten wohl sechzehn Jahre alt sein, spielten an einem Flipper-Automaten. Eine Musikbox trug ihren Senf zu der mit vielfältigen Geräuschen durchsetzten Atmosphäre bei. Die Spiegelfront, sich ebenfalls wie der mächtige Tresen durch das ganze Lokal ziehend, ließ den Raum optisch größer erscheinen. Die Einrichtung stammte noch aus der Zeit anfang der sechziger Jahre und war dementsprechend abgenutzt. Zwei Reihen unverkleideter Neonröhren an der Decke spendeten diffuses Licht.

Die Juke-Box hatte aufgehört zu spielen. Der größere der beiden Jungs vom Flipper-Automaten trat an Victors Tisch und fragte herausfordernd: »Haste mal nicht eben zwei Francs für die Musik?«

»Habe ich schon, aber ich gebe sie dir nicht, denn ich hasse diese dämlichen Musikboxen!« antwortete Victor und deutete auf seine Gitarre, als ihn der Junge verwundert anblickte. »Sieh mal... Mit diesem Instrument verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Auf der Straße und in Kneipen. Frage ich nun den Patron eines Schuppens, in dem solch ein Verblödungsapparat steht, ob ich spielen darf, deutet er auf die Kiste und antwortet mir: ›Das geht leider nicht! Die Leute haben ihr Geld eingeworfen, also haben sie auch das Recht, die gewünschte Musik zu hören. Wenn ich die Box abschalte, verärgere ich mir nur die Gäste.‹ – So, nun weißt du, warum ich diese Dinger nicht mag. Bestellt euch von mir aus auf meine Rechnung ein Bier, aber erwartet von mir ja nicht, daß ich meinen ärgsten Feind auch noch mit Geld füttere!«

Ein Lachen vom Nebentisch veranlaßt Victor, dorthin zu blicken. Ein mittelgroßer, etwas hager und asketisch wirkender Mann prostete ihm mit einem halbgefüllten Glas undefinierbaren Inhalts zu. »Dem kann ich nur beipflichten! Diese verdammten Scheißdinger sind der Ruin eines jeden ehrlichen Straßenmusikanten!« Sein Akzent war ziemlich hart. Victor schätzte ihn auf ungefähr vierzig Jahre. Das schmale, etwas arabisch aussehende Gesicht wirkte vertrauen­einflößend. »Dich habe ich hier noch nie gesehen. Bist wohl'n Neuankömmling? Setz' dich zu mir – zu zweit trinkt sich's besser!«

Der Typ war Victor auf den ersten Blick sympathisch, also nahm er seine Sieben­sachen und wechselt den Tisch. Jetzt konnte er auch den Gitarrenkoffer neben dem Stuhl seines Gesprächspartners sehen, der vorher seiner Sicht entzogen war. »Du machst den Eindruck, als wenn du dich hier gut auskennen würdest«, sagte er zur Begrüßung.

»Ein wenig. Seit zehn Jahren verbringe ich hier den Sommer.«

»Deinem Akzent nach kommst du aus Spanien – wenn mich nicht alles täuscht.«

»Aus Andalusien. Genauer gesagt: Almeria.« Er stand auf, verbeugte sich vor Victor mit spanischer Grandezza, schwenkte seinen Arm auf übertrieben theatra­lische Weise und rief: »Sie haben die Ehre, die Bekanntschaft von Alonso Felipe Torres, dem einzig wahren Flamenco-Interpreten der iberischen Halbinsel, zu machen!« Dabei schaute in die Runde, genoß sichtbar die erstaunt-amüsierten Blicke der anderen Gäste und setzte sich dann wieder. »Aber dir erlaube ich, mich Felipe zu nennen«, sagte er gönnerhaft zu Victor.

»Warum nicht Alonso?«

»Weil ich den Namen hasse! Dafür könnte ich meinen Vater noch nachträglich wie einen Truthahn würgen, daß er mir diesen bescheuerten Vornamen gegeben hat! Oder findest du nicht, daß man sich, genauso wie auch die Religion, seinen Namen selbst sollte auswählen können, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat? Na ja... Ich gehöre wohl zu den ganz wenigen Spaniern, die ihren Vornamen nicht mit Stolz tragen...«

Ein Polizist betrat die Bar, kippte den Cognac, der ihm vom Tresenmann gereicht wurde und setzte dann mit einem lässigen Abschiedsgruß seinen Rund­gang fort. Dieses kurze Intermezzo weckte in Victor die Erinnerung an den Vorfall mit dem Penner und er schilderte Felipe sein Erlebnis. Anschlie­ßend bemerkte er: »Die sind anscheinend hier genauso scharfe Hunde wie in Paris, wo sie die Musikanten mit Knüppeln zur Revierwache prügeln und ihre Instrumente beschlagnahmen, was ihnen sichtlich Spaß macht. Wahrschein­lich habt ihr mit denen auch hier euere Probleme.«

»Der Schein trügt«, entgegnete Felipe. »Die Bullen hier sind in der Regel ausgesucht höflich und hilfsbereit – auch Straßenmusikern gegenüber, weil die in St. Tropez nicht nur geduldet, sondern im Gegenteil, sehr geschätzt sind. Dieses verrückte Fischerdorf lebt von dem Trubel, der allerorts veranstaltet wird und ohne Musik ist der ganze Rummel nur halb soviel wert. Straßenmusik gehört in der ganzen Region zur Tradition. Aber man darf die Bullen deshalb keinesfalls unterschätzen – sie wissen genau, was hier so läuft. Und wenn jemand gar den Fehler macht, sie zu provozieren oder sich mit Rauschgift erwischen zu lassen, dann ist er ziemlich schnell weg vom Fenster. Da reagieren die Brüder genauso, wie die berüchtigte ›Guardia Civil‹ in Spanien.«

Mit dieser Darstellung der hiesigen Polizei war Victor halbwegs beruhigt. Hatte er doch schon befürchtet, es könne ihm so ergehen, wie es manchmal in Italien der Fall war. Dort unterbrachen die Polizisten oft seine Darbietungen, ließen sich den Ausweis zeigen und fragten ihn nach dem Grund seines Hierseins. Dabei waren sie nicht unfreundlich, machten ihm aber anschließend unmißverständlich klar, daß seine Anwesenheit unerwünscht sei und er sofort zu verschwinden habe, wenn er sich keinen Ärger einhandeln wolle. Einmal wurde er sogar auf das Revier geführt und durchsucht. Nach einem kurzen Verhör setzte man ihn wieder auf freien Fuß, nicht aber zuvor seine gesamte Barschaft zu »beschlagnahmen«, wohl wissend, daß er in seiner derzeitigen sozialen Situation gegen sie nichts unternehmen konnte. All diese Widrig­keiten trugen dazu bei, ihm seinen Aufenthalt zu verdrießen, worauf er sich entschloß, sein Glück in Frankreich zu versuchen. Hier konnte er, dank des einträglichen Auftritts im Cabane, erst einmal in Ruhe das Terrain sondieren. Es gab keinen finanziellen Engpaß, der ihn dazu zwang, sogleich losschlagen zu müssen, ohne vorher Sitten und Gebräuche dieser Gegend kennengelernt zu haben. Deshalb beschloß er, sich von Felipe, dem Insider, soviel Infor­mationen wie möglich zu verschaffen – das sparte ihm Zeit und reduzierte unangenehme Erfahrungen.

Felipe hielt ihm eine Packung Zigaretten hin: »Willst du auch eine?«

»Nein, danke. Keine Gauloises ohne. Die sind schlecht für die Stimme. Ich rauche schon, aber nur mit Filter.«

»Bei mir ist es egal. Im Gegenteil – wenn man Flamenco singt, ist es gut, eine rauhe Stimme zu haben.«

»Kann man denn mit spanischer Musik gut verdienen?«

»Einigermaßen.« Felipe zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und hustete. »Am besten sind die Jobs auf Yachten oder in Strandclubs. Da kann man ordentlich was verlangen.«

»Und wie kommt man an solche Jobs?«

»Ganz einfach. Du suchst dir einen Platz am Hafen – direkt vor den Luxuskähnen der Reichen. Dort beginnst du zu spielen. Wenn du gut bist, so wird es nicht ausbleiben, daß man dich auffordert, auf eine der Yachten zu kommen, um dort weiterzuspielen. Oder man macht mit dir einen Termin für einen späteren Zeitpunkt ab. Meistens veran­stalten sie dann eine Fête. Dann allerdings mußt du sehr pünkt­lich und vor allen Dingen einigermaßen gut gekleidet sein. Das erwarten sie von einem für ihr Geld.«

»Was springt denn dabei im Schnitt so heraus?« Victor war nun echt neugierig geworden.

»Das kommt ganz auf dein Selbstvertrauen an. Du mußt selber wissen, was du wert bist. Man darf in solchen Situationen niemals zögern, seinen Preis zu nennen, sonst wird die Unsicherheit ausgenützt. Ich verlange zum Beispiel immer tausend Franc. Wenn sie das bezahlen – okay. Falls nicht, lasse ich mich bis zur Schmerzgrenze von fünfhundert herunterhandeln – da habe ich immer noch gut verdient. Und noch etwas: Vereinbare stets die Dauer des Auftritts und beende ihn auf die Minute. Im Schnitt dauert er eine Stunde. Wollen sie dich anschließend noch länger hören, so müssen sie entsprechend drauflegen.«

»Das sind ja verlockende Perspektiven, die du mir da aufzeigst! Fünf­hundert Franc für eine Stunde! Mehr als dreihundert D-Mark! Das kann sich sehen lassen!« Victors Begeisterung wuchs. »Wenn man bedenkt, daß ein Durch­schnitts­arbeiter pro Woche so an die zwei- bis dreihundert Märker gelöhnt kriegt...«

»Früher war es in dieser Beziehung noch weitaus besser.« Felipe spuckte einen Tabakkrümel auf den Boden. »Leider läßt sich der wahre Jet-Set hier kaum noch blicken. Was du hier siehst, sind zumeist aufgeblasene Möchte­gerne auf gemieteten Yachten. Für ein oder zwei Wochen wird dann ›High-Society‹ gespielt: Man läßt sich das Diner vom Steward auf das Achterdeck servieren, um dem schaulustigen Pöbel etwas vormampfen zu können. Ab und zu wird ein Fest arrangiert, wozu man sich auch einige hübsche Mädchen einlädt. Das sind dann meist solche, denen man an der Nasenspitze ansieht, daß sie auf ihren Traumprinzen warten. Die glauben, das große Los gezogen zu haben und lassen sich willig in einer Kajüte im Unterdeck durchbumsen. Aber spätestens jedoch, wenn sie am Ende der Party von Bord geschickt werden, ohne daß sie auch nur einen einzigen Franc bekommen haben, wird ihnen klar, daß sie ganz gewaltig verarscht wurden. Beim nächsten Mal sind sie nicht mehr so blöde. Da verlangen sie dann was sie denken, daß es ihnen zusteht, im Voraus. Das Leben hier ist wahnsinnig teuer. Für jeden Furz mußt du bezahlen. Und findest du keine Möglichkeit, Geld zu verdienen, so bist du ganz schnell am Ende. In dieser Stadt schenkt man dir keinen müden Sou. Du mußt ihn dir erarbeiten – egal, auf welche Weise.«

»Ähnliche Erfahrungen habe ich auch schon in Italien gesammelt. Aber nach alledem, was du mir so erzählst, lebt es sich hier doch um eine ganze Ecke besser. Apropos leben... Da fällt mir ein... Ich suche eine Möglichkeit, zum Wohnen. Kannst du mir vielleicht einen heißen Tip geben?«

»Im Hotel zu wohnen kannst du dir abschminken. Während der Saison ist alles restlos ausgebucht. Ein möbliertes Zimmer zu finden, ist aus eben diesem Grund genauso unmöglich. Außer einigen üblen Bruchbuden mit Schimmel an den Wänden, ohne fließendes Wasser und Toilette, die zu horrenden Preisen angeboten werden, gibt es keine Alternative. Am besten wäre es, wenn du dir außerhalb etwas suchst. Bist du motorisiert?«

»Ich bin zwar im Besitz des Führerscheins, aber zu einem Auto habe ich es bisher leider noch nicht gebracht.«

»Ist auch nicht notwendig. Ein Moped reicht hier vollkommen aus. Damit kommst du hier überall hin und sparst dir zudem noch die teueren Parkplatz­gebühren, die sie überall kassieren. Die Investition hast du spätestens in einem Monat locker wieder drinnen, weil du dir ja schon jede Menge an Miete sparst, wenn du außerhalb wohnst. Außerdem ergeben sich noch Mehrein­nahmen, da du ja durch deine Mobilität in der Lage bist, während der Mittagszeit, wo normalerweise in der Stadt ›Tote Hose‹ angesagt ist, auch die vollbesetzten Strand­clubs abzu­klappern.«

»Was kostet denn so ein Moped? Ich habe nämlich davon nicht die geringste Ahnung.«

»Das kommt ganz darauf an, welche Ansprüche du stellst. Neu oder gebraucht, schnell oder langsam, Luxus- oder Standard­aus­führung.«

»Am besten ein Gebrauchtes. Gut erhaltene Mittelklasse. Muß keine Renn­maschine sein, aber eine Sitzbank sollte sie schon haben.«

»Da wirst du schon eineinhalb bis zwei Mille hinblättern müssen. Aber in Toulon bekommt man die Dinger weitaus billiger als hier. Weißt du was...? Wir machen morgen einen kleinen Ausflug dahin – es sind nicht viel mehr als sechzig Kilometer. Dann werde ich wie ein Luchs aufpassen, daß man dich nicht übers Ohr haut. Von Motoren verstehe ich nämlich eine Menge.«

»Das würdest du für mich tun? Mann! Du kennst mich doch erst seit einer halben Stunde!«

»Weißt du... Es gibt Leute, die sind mir entweder auf Anhieb sympathisch oder auch nicht. Bei dir habe ich ein recht gutes Gefühl. Warum soll ich dir also nicht helfen?«

»Darauf möchte ich mit dir anstoßen – ich gebe eine Pulle Champagner aus!«

»Bist du verrückt? Doch nicht in diesem Schuppen! Die ziehen dir das Fell über die Ohren, daß es gerade so rauscht. Das machen wir, wenn du das Moped gekauft hast – und dann auch woanders. Aber zuerst bin ich dran – mit dem Ausgeben. Wir saufen jetzt das Nationalgetränk der Basken. Meine Mutter kommt nämlich aus San Sebastian.«

Felipe ging zum Tresen und kam gleich darauf mit zwei Gläsern, in denen sich eine dunkle Flüssigkeit befand, zurück. Victor nahm ein Glas und schnupperte mißtrauisch daran.

»Was ist denn das für ein Zeugs?« Victor rümpfte die Nase. »Riecht beinahe wie Cola.«

»Nun trink erst einmal«, grinste Felipe spitzbübisch, »dann verrate ich's dir. Salud!«

Die beiden tranken. Victor schüttelte sich ein wenig.

»Schmeckt ja irgendwie ganz lustig. Aber es ist doch ziemlich ungewohnt.«

»Das ist halb Cola, halb Rotwein«, grinste Felipe.

»Ojeh...!« stöhnte Victor entsetzt. »Und das ist euer National­gesöff? Ihr seid ja richtig pervers!«

»Auf diese Weise kannst du drei Tage und Nächte durchsaufen, ohne daß es dich vom Stuhl haut.« Felipe klatscht sich lachend auf die Schenkel. »Und du trinkst trotzdem immer Alkohol. Nimm ruhig noch ein paar Schlucke und du wirst merken, daß man sich sehr schnell daran gewöhnen kann.«

Felipe behielt recht. Nachdem Victor sein Glas geleert hatte, kam es ihm nicht mehr ganz so gräßlich vor, doch an den Gedanken, Rotwein mit Cola zu vermischen, konnte er sich noch nicht so recht gewöhnen, aber um nicht wie ein Spielverderber dazustehen und Felipe womöglich zu beleidigen, bestellte er noch eine Lage.

»Du hast recht«, gab er zu, als sie ihre Gläser erneut geleert hatten. »Je mehr man von dem Zeugs säuft, desto besser schmeckt es! Und die nächste Runde geht auch auf mich. – Aber was ich dich noch fragen wollte: hast du eine Ahnung, wo ich wenigstens heute nacht pennen kann?«

»Wir finden schon etwas.« Felipe kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. »Bei mir geht es leider nicht, da ich nur ein Zimmer habe. Meine Freundin würde durchdrehen – du kennst ja die Weiber... Sollten alle Stricke reißen, schmeißt du einfach dein Gepäck zu mir rein und pennst im Schlafsack am Strand. Aber vielleicht läßt sich auch eine Tussi finden, die dich aufnimmt, bis du etwas gefunden hast. Mußt halt ein bißchen nett zu ihr sein...«

»Wie wär's denn mit der da?« Victor deutete auf eine gutgebaute Schwarz­haarige, die gerade die Toilette besuchte.

Felipe drehte sich um und zog eine Igitt-Grimasse. »Ach du meinst Joan? Puh...! Laß bloß die Finger von der! An sich ist sie ja ein nettes Mädchen, aber mit Männern hat sie nicht viel im Sinn, außer daß sie sich von ihnen ständig zu Drinks einladen läßt. Will einer dann hinterher mit ihr auf die Matratze, so antwortet sie immer: ›Vielleicht ein andermal, mein Schatz. Ich habe leider momentan meine Periode.‹ Hihihi... Anscheinend ernährt sie sich wie Graf Dracula von Blut­konserven, weil ihre Periode nämlich schon so lange andauert, seit ich sie kenne – und das sind ungefähr drei Jahre.« Beide lachten. »Aber ich kann sie ja mal fragen... Das kostet ja bekanntlich nichts. Mehr als eine Absage können wir uns nicht einhandeln. Platz genug wäre bei ihr vorhanden. Sie paßt nämlich auf das Haus einer reichen Freundin auf. Diese glänzt meistens durch Abwesenheit und so hat sie fast immer sturmfreie Bude. Möglich, daß sie dich aufnimmt, bis du eine Bleibe gefunden hast, aber ein Rohr verlegen, das kannst du bei der vergessen – das hat noch keiner geschafft.«

»Woher weißt du das alles so genau?« Victor stieß Felipe verschwörerisch mit dem Ellbogen in die Seite. »Hast es wohl selber schon bei ihr versucht? Los, gib es schon zu! Bestimmt hast du probiert, sie anzubumsen, aber sie ist eine Lesbe und hat dich abblitzen lassen!«

»Okay, okay!« wehrte Felipe lachend ab. »Ich gestehe! Es war wirklich vergebene Liebesmüh'. Ich bin aus ihr einfach nicht schlau geworden. Sie kommt mir eigentlich gar nicht vor, wie eine Lesbe, obwohl sie mit dieser Freundin, die übrigens eine ganze Ecke älter ist als sie, so richtig zusammenlebt. Aber kannst du in einen Menschen hineinschauen?«

Das Gesprächsthema der beiden, Joan Mannering, verließ nun die Toilette und kam auf sie zu. Victor konnte nun erst so richtig sehen, daß sie neben ihrer sensationellen Figur auch noch ein außerordentlich schönes Gesicht besaß. Bekleidet war sie mit einer weißen Bluse und schwarzem Minirock. Für ihre Beine, die darunter hervorschauten, mußte sie sich wahrlich nicht schämen. »Kein Wunder, daß dich alle flachlegen wollen«, dachte Victor. »Mir geht es genauso. Du wärst auch schön blöde, dies nicht auszunützen. Aber Gottseidank bin ich gewarnt. Es ist wirklich jammerschade, daß ausgerechnet sowas wie du eine Lesbe sein muß.«

Als Joan an Felipe, der mit dem Rücken zu ihr saß, vorbeikam, gab er ihr einen Klaps auf den Hintern. Empört dreinguckend, wandte sich Joan um.

»Hola, Muchacha! Setz dich zu uns und trink etwas! Du siehst so ausgetrocknet wie eine ägyptische Mumie aus!«

»Hi, Matador!« flachste sie zurück, nachdem sie Felipe erkannt hatte. »Seit wann darfst du denn mir einen ausgeben? Wenn das Marie zu hören bekommt, schickt sie dich in Unterhosen in die Arena!«

Joan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. Die Bewegungen waren genau darauf abgestimmt, ihren Sex-Appeal noch mehr zu verstärken. Victor gewann den Eindruck, als wollte sie damit eine innere Unsicherheit kaschieren.

»Wir haben da ein kleines Problem...« begann Felipe, nachdem der Kellner ein Glas Weißwein vor Joan hingestellt hatte und deutete mit dem Daumen auf Victor. »Besser gesagt, er hat eins. Ich helfe ihm gerade, sich zu etablieren, aber bis er eine einigermaßen günstige Behausung gefunden hat, sucht er vorübergehend einen Platz zum Übernachten.«

»Hm...« Joan musterte Victor ein paar Augenblicke lang interessiert und wandte sich dann wieder Felipe zu. »Im Moment bin ich zwar allein im Haus, aber du weißt ja, daß ich selber nur Gast bin. Das könnte großen Ärger geben. Für wie lange will er denn bleiben?«

»Ach, nur ein bis zwei, maximal drei Tage. Bei mir geht es leider nicht – du kennst ja Marie...«

»Warum zieht er nicht auf einen der Campingplätze?«

»Die liegen alle zu weit außerhalb und er ist nicht motorisiert. Er muß sich zuerst mal ein Moped besorgen, um mobil zu sein. Aber dafür ist es heute leider schon zu spät.«

»Wie lange kennst du ihn denn schon?«

»Seit Jahren. Er ist mir von all meinen Kollegen der Liebste. Immer wenn wir uns in Paris treffen, wird ein Faß aufgemacht, daß es nur so rauscht.«

»Das werden wir auch weiterhin so halten – am besten, wenn ich mich hier häuslich niedergelassen habe. Dann gebe ich zur Einweihung eine Fête«, stieg Victor überzeugend in die Flunkerei ein.

»Also, was ist?« drängte Felipe. »Geht das in Ordnung? Ich verspreche dir auch, daß er dich nicht anrühren wird. Sieh ihn dir doch mal genau an – er hat das gar nicht nötig. Er braucht nur mit dem kleinen Finger zu winken, dann stehen die Mädchen bei ihm in Dreierreihen Schlange.«

»Also, gut... Er kann kommen...« Joan zögerte noch ein wenig. »Ich verlasse mich da wirklich auf dich, Felipe. Aber wenn er Scheiße baut, kannst du was erleben...« Dann, zu Victor gewandt, während sie aufstand: »Wir treffen uns dann um zwei Uhr hier, wenn es dir recht ist. Vorher gehe ich nie nach Hause. Ich bin nämlich ein Nachtmensch. Dann macht's mal gut, ihr beiden – ich muß jetzt gehen. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Bis später!«

Nachdem Joan die Bar Tabac verlassen hatte blickten sich Felipe und Victor an und begannen wie auf Kommando zu lachen.

»Mensch, du hast aber dick aufgetragen!« Victor rieb sich vergnügt die Hände. »Ich wußte bis dato gar nicht, daß ich so ein Charmeur bin! Aber es hat wirklich hervorragend geklappt!«

»Ich bin bloß froh, daß sie mich nicht gefragt hat, welche Art von Musik du machst – da wäre ich nämlich arg aufgeschmissen gewesen«, kicherte Felipe. »Aber das kannst du mir ja unterwegs erzählen. Ich muß unbedingt an die frische Luft, sonst kippe ich um. Bei dieser Gelegenheit kann ich dir gleich all die Plätze zeigen, wo sich gut Kohle machen läßt. Das spart dir Zeit und Geld. Dein Gepäck kannst du inzwischen in die Küche stellen – das machen alle hier so. Der Koch paßt gut auf, daß nichts geklaut wird.«

* * *

Die exotischen Klänge der vorbeiziehenden Trinidad Steel Band erfüllten die Gegend rund um den Hafen. Die sechs Musiker, alles Farbige, befanden sich auf dem Weg zum Parkplatz. Mit ihren aus Ölfässern gefertigten Instrumenten verzauberten sie die Leute auf dem Nachhauseweg. Drei der Musiker spielten die Solis, indem sie mittels zweier Klöppel auf abgesägte Tonnen schlugen, die mit Riemen an ihrem Bauch befestigt waren. Die Böden der Tonnen waren auf eine spezielle Weise nach innen gehämmert worden und man konnte mit weißer Farbe aufgemalte Kreise erkennen, in denen mit Buchstaben geschrieben, die Tonbezeichnungen standen. Dieses System, ähnlich dem Xylophon, ermöglichte den Musikern eine schnelle Orientierung bei der Tonfindung. Der Klang, den sie auf solche Weise erzeugten, kam dem eines Vibraphons sehr nahe, nur hörte er sich trotz aller Weichheit ein wenig abgehackt an – ein Umstand, welcher sehr zur Schaffung einer mitreißenden, sexgeladenen Atmosphäre beitrug. In Kombination mit den drei Percussio­nisten als Rhythmusgruppe, die mit ihren verschiedenerlei Trommeln und Schlaggeräten hervorragend umzugehen verstanden, brachten sie die Seele fast eines jeden Menschen zum Schwingen. Ein sehr hübsches Mädchen, offenbar zum Ensemble gehörend, sammelte mit einem Hut den vom Publikum begeistert dargereichten Obolus ein.

Victor stand auf der Straße, beide Hände auf den Gitarrenkoffer gestützt, und beobachtete das muntere Treiben, welches sozusagen das Finale darstellte und die Menschen daran erinnerte, daß der Sonntag schon seit zwei Stunden vorüber war. Die vorher noch so voll­besetzten Straßencafés hatten sich zum größten Teil geleert – die Leute waren im Begriff, sich ihren Alltagsgewohn­heiten entspre­chend, in ihr jeweiliges Domizil zu begeben. Der Urlaub dauerte bei weitem nicht lange genug, um sie, sei es auch nur für kurze Zeit, dem jahrelangen, eingefleischten Trott zu entwöhnen.

»Es ist einfach unglaublich!« murmelte Victor kopfschüttelnd. »In dieser Stadt kannst du sogar noch auf dem Nachhauseweg Geld verdienen!«

Immer noch den Kopf schüttelnd, überquerte er die Straße und betrat die Bar Tabac. Er wollte auf keinen Fall unpünktlich sein.

Felipe und Joan saßen an einem Tisch, auf dem sich ihre Getränke und ein geldübersätes Tablett befanden. Sie waren gerade dabei, Münzen in Zehner­stapeln auf dem Tablettrand zu drapieren. Victor setzte sich zu ihnen. Felipe hob den Kopf und grinste breit. »Na, wie ist's gelaufen?« fragte er neugierig.

»Ich denke, soweit ganz gut«, antwortete Victor, schnallte seine Ledertasche vom Gürtel und hielt sie Felipe hin. Der wog sie prüfend in der Hand und lächelte anerkennend. »Nicht von schlechten Eltern. Spitze gearbeitet«, lobte er.

»Was hast du denn vor?« fragte Victor und deutet auf das mit Münzen übersäte Tablett.

»Umwechseln in Scheine. Ich habe nämlich keine Lust, den ganzen Krempel tagelang durch die Gegend zu schleppen.«

»Waaas?« Victor war erstaunt. »Die wechseln hier um? Auch diesen ganzen Kleinscheiß?«

»Diesen Kleinscheiß insbesondere. Er ist hier nur schwer erhältlich. Von der Bank bekommt man nicht genügend davon und irgendwie müssen sie doch herausgeben können, wenn die Leute bei ihnen Zigaretten kaufen. Darum ist diese Bar auch der allgemeine Treffpunkt für Straßenmusiker.«

Felipe nahm das Tablett und wechselte das Geld am Tresen um. Nachdem die Transaktion beendet war, stellte er das leere Tablett vor Victor hin und bedeutete ihm, darauf seine Tasche auszuleeren. Der Geldberg, der sich ergoß, entlockte Joan ein begeistertes »Whow!«. Die drei begannen, die Münzen zu sortieren und jeweils in Zehner­stapeln auf dem Tablett anzuordnen. Als sie damit fertig waren, wechselte Victor das Geld in Scheine um und kam mit einer Runde »Taaah-Basco«, wie er mittlerweile das Cola-Rotwein-Gesöff nannte, wieder.

»Das hat sich gelohnt!« freute er sich. »Mehr als tausend Piepen!«

»Da zeig' ich Idiot diesem Anfänger nun all die guten Plätze zum Kohleverdienen – und was macht dieser Pfeifenheini – eh...? Er schlägt mich doch glatt um vierhundert Eier!« motzte Felipe, aber man konnte in seinen Augen lesen, daß er sich über Victors Erfolg freute.

»Hättest du etwas Anständiges gelernt«, äffte Victor mit erhobe­nem Zeigefinger den Tonfall eines Oberlehrers nach, »dann würdest du dich jetzt nicht mit Unterprivilegierten, wie ich es bin, um ein Stück Brot raufen müssen!«

Alle lachten und Joan bedachte Victor zum ersten Mal an diesem Tag mit einem Blick, der über das normale Interesse hinausging.

»Außerdem«, fuhr Victor mit gespieltem Ernst fort, »habe ich im Gegensatz zu euch faulen Mediterranern viel und zudem auch noch sehr gut gearbeitet. Ihr verkrachten Existenzen haltet doch den ganzen Tag lang bloß euere Siesta. Auf diese Weise könnt ihr doch zu nichts kommen!«

»Ich geb's auf!« resignierte Felipe lachend. »Da fällt einem doch wirklich nichts mehr ein! Darum werde ich mich jetzt auch verziehen. Vormittags, so gegen elf hole ich dich bei Joan ab, dann düsen wir nach Toulon. Also, mach mir keine Schande! Hasta luego!«

»Wenn du Lust hast«, nahm Victor das Gespräch nach Felipes Abgang wieder auf, »köpfen wir noch ein paar Fläschchen. Mir ist nämlich ein wenig nach Feiern zumute und ich bin auch noch gar müde.«

»Willst du das komplette Lokal kaufen?« fragte Joan und drückte Victor auf seinen Stuhl zurück, als er Anstalten machte, an den Tresen zu gehen. »Für den Preis, den sie hier verlangen, bekommst du woanders ein ganzes Faß. Man muß doch diese Typen nicht noch reicher machen, als sie schon sind. Komm – trink aus! Ich weiß, wo wir uns mit gutem Wein eindecken können!«

* * *

Die gedämpfte Beleuchtung im Salon der Villa schuf eine bezaubernde Atmosphäre. Von seinem Platz aus konnte Victor durch die geöffnete Verandatür hinaus auf den Garten blicken. Die Einrichtung war nach Victors Geschmack ein wenig zu antik, aber das hinderte ihn nicht daran, sich wohlzufühlen, denn er konnte nach­empfinden, mit welcher Freude die Hausherrin jedes der Möbelstücke sorgfältig ausgesucht und liebevoll an ihren jeweiligen Platz gestellt hatte, so daß sie wirkungsvoll zur Geltung kamen.

Joan saß ihm gegenüber und stieß mit ihm an. Die Kristallkelche, gefüllt mit vorzüglichem Roséwein, hoben sich dunkelrotleuchtend aus dem Halb­dämmer hervor. Die Unterhaltung hatte einen Verlauf angenommen, der Victor nicht sehr behagte, denn mit dem untrüg­lichen Instinkt einer Frau hatte Joan Schwachstellen in Felipes Story herausgefunden, die Victor nicht in der Lage war, zu leugnen. Außerdem lag es sowieso nicht in seiner Natur, sich zu verstellen, so daß Joan in ihm wie ein offenes Buch las.

»...und ihr kennt euch wirklich erst seit heute?« fragte sie entrüstet. »Dieser freche Baskenlümmel! Dem werde ich...«

»Das darfst du ihm nicht übelnehmen.« Victor lächelte be­schwichtigend. »Wir haben Freundschaft geschlossen und er wollte mir ganz einfach bloß helfen. Oder bin ich dir als Gast so unangenehm?«

»Nein... Das nicht... Aber... Er kann doch nicht... Wo kämen wir denn da hin...? Das geht doch nicht!« druckste Joan verlegen herum.

Victor beugte sich über den Tisch und streichelte mit seinen Händen über ihr Gesicht. Sie blickte ihn erwartungsvoll an und machte keinen Versuch, sich der Liebkosung zu entziehen. »Magst du mich?« fragte er und gab ihr einen sanften Kuß auf den Mund.

»Wenn das nicht der Fall wäre, würdest du jetzt irgendwo am Strand pennen. Dann hätte dir auch Felipes Überredungskunst nichts genützt.« Sie stand auf, nahm ihr Glas und setzte sich auf Victors Schoß. »Ich weiß zwar nicht, was er dir über mich erzählt hat, aber ich kann es mir denken. Ich habe vielleicht zu sehr den Eindruck vermittelt, ich sei eine Lesbe, die von ihrer Busenfreundin für ihre Liebesdienste ausgehalten wird. Aber das stimmt nur teilweise. Ich kann mir durchaus vorstellen, mit einem Mann zu schlafen, obwohl ich als dreizehnjähriges Mädchen von einem üblen Motorradtypen vergewaltigt worden bin. Ich habe im Prinzip auch nichts gegen Männer, obwohl man mich als Au-pair-Mädchen nach Frankreich lockte, wo man mich gewaltsam darauf abgerichtet hat, mit irgendwelchen geilen, alten Böcken gegen Bares zu ficken. Bloß der Richtige ist mir bisher leider noch nicht über den Weg gelaufen – warum soll ich also mein Pulver für Kerle verschwenden, die mir absolut nichts bedeuten? Dann schon lieber mit der Frau Sex haben, die mich aus der Scheiße herausgeholt und einen Platz zum Überleben gegeben hat, denn ohne sie wäre ich jetzt wahrscheinlich schon tot.«

»Ist dein ganzes Leben bisher so negativ verlaufen?« fragte Victor betreten.

»Was erwartest du denn von einem Elternhaus, wo sich der Vater verdünnisiert hat und die Mutter ihre Sozialhilfe durch gelegentliche Ficks mit Typen aus der Nach­barschaft aufbessert?« antwortete Joan bitter. »Klingt wie die Story vom armen, gefallenen Mädchen aus einem dieser verlogenen Aschenputtel-Filme, die eine Zeit lang in Hollywoods Traumfabriken produziert wurden – nicht wahr? Fehlt nur noch der Prinz, der nach dem gläsernen Schuh sucht!«

»Aber deshalb mußt du dich doch in keinster Weise minderwertig fühlen! Du kannst doch überhaupt nichts dafür, daß du in diesem asozialen Milieu auf­gewachsen bist! Auf alle Fälle hast du versucht, dein Leben zu ändern! Dadurch unterscheidest du dich gewaltig von deinen miesen Erzeugern, die sich bei dir auf ganz beschissene Weise aus der Verantwortung gestohlen haben!«

Spontan schlang Joan die Arme um Victor und küßte ihn ausgiebig. »Das war dafür, daß du mich als Mensch und nicht als Sexobjekt betrachtest, obwohl ich jetzt gerne Sex mit dir machen würde, wenn du nicht allzu müde bist.«

»Dazu bin ich nie zu müde«, grinste Victor, »oder sagen wir mal – fast nie.«

* * *

Joan und Victor saßen beim Frühstück auf der Terrasse, als im Haus die Türglocke schellte. Joan, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, ging für einen Moment nach drinnen und kurz darauf hörte man draußen den Türöffner summen. Sekunden später bog Felipe um die Ecke, setzte sich auf einen der Stühle und schlug die Beine übereinander.

»Entschuldigt, daß ich mich verspätet habe, aber wie ich so sehe, macht euch das gar nichts aus.«

»Wir haben noch ein paar Flaschen geköpft«, erklärte Joan mit einem frivol-glücklichen Seitenblick zu Victor, »bis wir endlich die nötige Bett­schwere hatten. Darum ist es auch mit dem Frühstück etwas später geworden. Willst du mithalten? Es ist genügend da.«

»Danke, aber ich habe schon gegessen. Es macht übrigens gar nichts aus, daß wir so spät dran sind – wir müssen nämlich gar nicht nach Toulon.« Felipe wartete vergeblich auf Antwort, da die beiden mit vollen Backen kauten. »Wollt ihr gar nicht wissen, warum?«

Victor schluckte einen Bissen hinunter und spülte mit Kaffee nach. »Das wirst du uns bestimmt gleich erzählen – du hältst es doch schon gar nicht mehr aus.«

Joan und Victor kicherten wie kleine Kinder, während Felipe fast der Kragen platzte.

»Guck ihn dir an!« wieherte Joan. »Gleich wird er platzen! Hi, hi, ha, ha!«

»Also, ich merke schon, mit euch ist heute kein vernünftiges Wort zu reden!« schimpfte Felipe, bemüht, ernst zu bleiben. »Ich möchte bloß wissen, was ihr gesoffen habt, daß ihr so herumspinnt!«

Das Gekichere der beiden steigerte sich, was Felipe noch mehr verun­sicherte. »Jetzt hört mir mal endlich zu, albernes Pack! Ihr habt doch wirklich einen in der Birne!« Fuhr dann nunmehr besänftigt fort, als die beiden das Kichern einstellten. »Die Sache ist so... Beim Zigarettenkaufen traf ich heute morgen Imre Horvath, den Maler. Joan kennt ihn übrigens auch. Er hatte in letzter Zeit einige erfolgreiche Vernissagen und ist dadurch sehr gut ins Geschäft gekommen. Jetzt braucht er natürlich einen Wagen, der seinem Status entspricht – Mercedes oder sowas Ähnliches. Den R 4, den er momentan noch fährt, möchte er natürlich vorher verscherbeln – deshalb dachte ich sofort an dich, Victor. Warum ein Moped kaufen, wenn du für fast das gleiche Geld ein Auto haben kannst?«

»Und wieviel verlangt er für die Kiste?«

»Zweieinhalb Mille – aber das ist bestimmt noch nicht das letzte Wort. Den handeln wir noch herunter.«

»Wo können wir uns die Rostlaube ansehen?«

»Sie steht auf dem Hafenparkplatz. Wir müssen bloß noch Imre von der Bar Tabac abholen. Aber das mit der Rostlaube stimmt nicht ganz. Der Wagen sieht sehr gepflegt aus. Imre hat ihn nämlich vor einem Jahr erst gekauft. Von einem Sonntagsfahrer, der ihn zwar wenig gefahren, aber dafür umso mehr geputzt hat.«

»Dann laß uns mal losziehen.«

»Undankbares Pack! Wartet gefälligst auf mich – ich komme mit!« protestierte Joan und verschwand im Haus. Sie sah entzückend aus in der engen Jeans mit der weißen Bluse, deren Enden unterhalb ihrer Brüste zu einem Knoten geknüpft waren, als sie nach zwei Minuten wieder erschien.

»Donnerwetter!« staunte Felipe. »Ich habe noch nie im Leben eine Frau gesehen, die es geschafft hat, sich in dieser Geschwindigkeit umzuziehen!«

»Sonst haut ihr Kerle mir ab und ich sitze allein im Haus...« erwiderte Joan und faßte Victor, verliebt lächelnd, bei der Hand.

* * *

Victor fand Imre Horvath auf den ersten Blick sympathisch. In seinem hageren Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen erschien ein offenes Lächeln – alle glaubte ihm, wenn er sagte, er freue sich, Joans und Victors Bekanntschaft zu machen, als Felipe sie einander vorstellte.

Und so standen sie nun auf dem riesigen Parkplatz und begutachteten Imres Wagen, der zwar einen seht guten Eindruck machte, was aber Felipe und Victor ziemlich kalt ließ.

»Na ja... Nach außen hin sieht er aus, als würde er noch ein Weilchen durchhalten.« Victor zog ein skeptisches Gesicht. »Aber man kennt ja dieses Modell zur Genüge... Und wie's da drin aussieht, geht niemanden was an... Man wird entsprechend Geld in den Auto-Opa hineinstecken müssen, damit er nicht total auf Krücken läuft...«

Felipe wackelte indes mit dem Lenkrad hin und her. »Die Lenkung hat viel zu viel Spiel. Da mußt du ja fast schon eine Vierteldrehung machen, bis sie anspricht.«

Victor stieß mit dem rechten Fuß gegen den Vorderreifen. »Das sehe ich doch mit bloßem Auge, daß das Profil kaum mehr als zwei Millimeter hat.«

»Dann wollen wir mal Bremsen und Kupplung testen.« Felipe setzte sich in den Wagen und startete den Motor, der über­raschen­derweise sofort ansprang. »Das hat gar nichts zu sagen«, schnitt er Imre, der auf den guten Zustand der Batterie hinweisen wollte, das Wort ab. »Schließlich bist du ja heute schon mit ihm gefahren. Außerdem ist es so heiß, daß du ihn mit einer Taschen­lampenbatterie anlassen kannst. – Und jetzt macht bitte mal den Weg frei!«

Die anderen gingen gehorsam zur Seite. Felipe zog hörbar die Handbremse an, legte den ersten Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen schoß zehn Meter nach vorne und blieb dann stehen.

»Tz... tz... Die Kupplung mag ja in Ordnung sein – aber die Bremsen...« grinste Felipe hämisch, worauf Imre sichtlich um etliche Zentimeter schrumpfte. »Die Karre dürfte bei diesem Test normaler­weise keinen Meter weit kommen! Du wohnst doch in Gassin, nicht wahr? Und das liegt ziemlich weit oben. Ich frage mich bloß, wie du mit einem derartigen Vehikel heil den Berg rauf und runter gekommen bist! Auweia...!«

»Wollt ihr etwa für zweieinhalb Mille einen neuen Wagen?« versuchte Imre zu retten, was noch zu retten war.

»Das wohl nicht«, gab Victor zurück. »Aber für so viel Kohle möchte ich schon eine Kiste haben, in die ich nicht noch den gleichen Betrag hineinstecken muß, damit sie noch zwei, drei Jahre fährt. Das nennt man nämlich gutes Geld dem schlechten hinterherwerfen!«

»Was willst du zahlen?« fragte Imre resignierend.

»Nicht mehr als tausend.«

»Du bist wohl meschugge!« empörte sich Imre. »Warum fragst du mich nicht gleich, ob ich ihn dir schenke?«

»Weil ich von niemandem was geschenkt haben will«, grinste Victor entwaffnend.

Imre blickte zuerst verduzt drein, fiel aber dann in das allgemeine Lachen mit ein.

»Achtzehnhundert!«

»Zwölfhundert!«

»Sechzehnhundert!«

»Vierzehnhundert und du gibst anschließend für alle einen aus!«

»Du bist schlimmer als alle Juden, Chinesen und Armenier zusammen!« Imre blickte mit schmerzlich verdrehten Augen zum Himmel und ballte die Fäuste. »Also abgemacht! Ich gebe sogar zwei Runden aus! Denn das muß ich erst mal hinunterspülen, daß mich einer beim Handeln so schlecht hat aussehen lassen!«

»Nimmst du's mir übel?« fragte Victor belustigt.

»I wo!« Imre lachte kurz auf. »Du kennst anscheinend die Magyaren noch nicht. Wir lieben den Handel genauso wie alle anderen Osteuropäer. Und wenn einer dabei den kürzeren zieht, nimmt er's dem anderen nicht krumm. Schließlich hat er ja die Möglichkeit, nein zu sagen...«

Damit hatte Victor eine Freundschaft besiegelt, die, wie sich später noch herausstellen sollte, von großer Dauer war.

Der Straßenmusikant

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