Читать книгу Die Midgard-Saga - Muspelheim - Alexandra Bauer - Страница 5
1. Kapitel
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Gedankenversunken saß Thea am Rande Asgards und blickte auf Midgard hinab. Guten Mutes, die dunklen Ereignisse aus Hel irgendwie hinter sich zu lassen, hatte sie in den letzten Tagen viele Stunden hier verbracht, doch es trieb die Geschehnisse nicht aus ihrem Kopf. In der Totenwelt war sie Menschen eines vergangenen Lebens begegnet, die zu einem unwiderruflichen Teil ihres jetzigen Selbst geworden waren. Sie vermisste jeden Einzelnen von ihnen, vor allem Geirunn. Schlimmer als die Sehnsucht war die Gewissheit, dass sie die Gefährtin ihres früheren Ichs niemals wiedersehen würde. Beim Versuch die Totengöttin zu hintergehen und Balder aus ihrem Reich zu befreien, hatte Thea Hel verärgert, worauf diese ihr jede Aussicht irgendwann ins Totenreich zurückzukehren, verwehrte. Das war die Strafe für ihren Verrat und Theas anschließende Flucht. Wie eine stete Mahnung lag die Fylgja neben ihr. Seit ihrem Abenteuer in Hel zeigte sich ihr der Folgegeist. Jeder Mensch befand sich in Begleitung eines solchen Schutzwesens – sie offenbarten sich ihm aber erst kurz vor dessen Tod. Laut Hel war Thea im Slidr, einem Fluss, in dem Schwerter und Messer treiben, gestorben. Da in Hel alle Wunden heilen, hatte niemand davon Notiz genommen. Die Fylgja allerdings schon. Das seltsame Gefühl weder zu den Lebenden, noch zu den Toten zu gehören, begleitete Thea. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, die Ereignisse in Hel hatten tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen. Tom war ihr kaum von der Seite gewichen, seit sie wieder in Asgard angekommen waren und auch die junge Baba Jaga und Juli taten ihr Bestes, um Thea aufzumuntern, doch selbst Wal-Freya war es nicht gelungen, die finsteren Wolken aus Theas Geist zu vertreiben. Sie zog die Einsamkeit den gemeinsamen Momenten vor und ihre Freunde akzeptierten es, wenn auch nur schweren Herzens.
„Hallo Grüblerin!“ Wie aus dem Nichts tauchte Djarfur hinter Thea auf. Sanft stieß das Walkürenpferd sie mit der Schnauze an. „Du solltest damit aufhören, Tag für Tag hier zu hocken und nach Midgard zu starren.“
„Es lenkt mich ab“, erwiderte Thea.
Djarfur wieherte amüsiert. „Tut es nicht. Das weißt du.“
„Was treibt dich zu mir?“, entgegnete sie mit einem Schmunzeln und leitete das Gespräch geschickt in eine andere Richtung.
„Odin und Frigg haben aufgehört zu streiten.“
Thea drehte sich ruckartig um. „Was? Kein Flax?“
Djarfur nickte. „Wal-Freya sagte, ich soll dich holen. Die Asen wollen über das weitere Vorgehen beraten.“
Sie stand auf. „Warum sagst du das nicht gleich? Wo sind sie? In Gladsheim?“
Ein Kichern begleitete Djarfurs Wiehern. „Wo sonst? Meinst du, Wal-Freya würde mich schicken, wenn sie sich am Thingplatz träfen? Dahin könntest du von hier aus schon selbst laufen.“
„Das stimmt wohl“, brummte Thea. Sie klopfte sich die Hose ab und umfasste Djarfurs Hals, um sich mit einem Sprung auf seinen Rücken zu schwingen.
Der Rappe schüttelte den Kopf. „Ich liebe es, wenn wir zusammen reiten, meine Heldin.“ Er galoppierte los und hob sich nur wenige Schritte danach in die Luft. Thea waren Höhen noch immer nicht geheuer, aber langsam gewöhnte sie sich daran. Das unangenehme Ziehen, das stets durch ihren Magen fuhr, wenn sie in die Tiefe blickte, machte sich auf Djarfurs Rücken kaum noch bemerkbar. Sie vertraute dem Tier und fühlte sich in seiner Begleitung sicher. Er hatte sie in den letzten Tagen oft aufgesucht und zu einem Ritt um Asgards Götterburg eingeladen. In diesen Momenten rückte ihre Schwermut für einen Augenblick in weite Ferne. Rasch überquerte er die Wiese, auf der sich Yggdrasils Wurzel erstreckte und fegte über die Wohnungen der anderen Asen hinweg, die den Weg zu Odins Palast säumten. Die Fylgja sprang neben ihnen durch die Luft, gerade so, als begrüße sie die Abwechslung. Auf der großen Terrasse Gladsheims setzte Djarfur seine Reiterin ab. Er verabschiedete sich von Thea und kehrte nach Folkwang zurück.
Sie lief auf den Eingang der Halle zu, die sich weithin sichtbar über Asgard erhob. Schon bevor Thea eintrat, empfing sie der Duft von gebratenem Huhn, vermischt mit dem Geruch gebackener Pfannkuchen. Ihr Blick fiel auf die schwere Tafel, die vor dem erhöhten Sitz des Allvaters stand. Sie war mit den gewohnt köstlichen Speisen Asgards angerichtet. Guter Dinge hockten die Götter beisammen, aßen und tranken. Mit Theas Erscheinen erstarben die Gespräche. Freudig begrüßten sie den Neuankömmling und warteten, bis sich Thea auf dem freien Platz neben Wal-Freya eingefunden hatte. Die Walküre legte ihr zur Begrüßung die Hand auf die Schulter, steckte aber sofort wieder den Kopf mit Freyr zusammen. Ebenso führten alle anderen Götter ihre Unterhaltungen fort. Juli zwinkerte Thea zu, lud ihren Teller voll und folgte den Gesprächen ihrer Tischnachbarn. Zu ihrer Rechten saß Tom, der erfreut lächelte, als ihn Theas Blick traf. Sie wich ihm ertappt aus. Auch ihr Freund war ein Grund dafür, dass sie sich in den letzten Tagen zurückgezogen hatte. Bestärkt durch Wal-Freyas Ermutigungen, hatte er Thea seine Zuneigung gestanden. Sie hatte diese längst gekannt und den Moment herbeigefürchtet, da er es offen aussprach. Sie mochte Tom, vielleicht mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte, doch neben dem schlechten Gewissen, das sie Juli gegenüber empfand, die noch immer für Tom schwärmte, war da noch Geirunn. Treu und unermüdlich wartete ihre einstige Gefährtin auf sie in der Totenwelt. Wie sollte Thea jemals etwas für einen anderen Menschen empfinden? Mit abgewendetem Blick zog sie sich eine Schale mit Krapfen heran. Die Fylgja rollte sich hinter dem Stuhl ihres Schützlings zusammen und schloss die Augen, während sich Thea an den Speisen bediente. Odin thronte auf seinem erhöhten Sitz und überblickte die Versammlung mit versteinerter Miene. Die Wölfe Geri und Freki lagen zu seinen Füßen und schliefen. Hugin und Munin fehlten. Offensichtlich befanden sich die beiden Raben auf ihrem Flug durch die Welt. Thea lauschte hier und da den Unterhaltungen und wartete gebannt, dass der Allvater sich äußerte, doch er ließ darauf warten. Viel später rückte er sich räuspernd in seinem Sitz zurecht. Alle verstummten und blickten auf. Thea äugte unwillkürlich zu Odins Frau, die zur Rechten ihres Gemahls an der Tafel hockte. Als ihre Blicke sich trafen, überlegte Thea, ob die Göttin Traurigkeit oder Wut empfand. Es hatte sich herausgestellt, dass der Allvater am Tod ihres gemeinsamen Sohnes beteiligt gewesen war. Zusammen mit Loki, Gefjon und Balder hatte er beschlossen, der Weissagung der Völva zu entsprechen und Friggs Versuch ihren Sohn unsterblich zu machen mit einem tödlichen Ritual entgegengewirkt, das alle für ein Spiel gehalten hatten. Würde Frigg ihrem Mann jemals verzeihen können? Würde ihm überhaupt jemand der Anwesenden vergeben?
„Was ich tat, tat ich, um den Fortbestand dessen zu sichern, das wir einst erschufen“, verkündete Odin. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Wir haben gemeinsam darüber entschieden und waren uns einig, dass es geschehen muss.“
„Mit gemeinsam meinst du dich, Gefjon, Balder und Loki“, grunzte Vidar mit offenem Vorwurf. „Den Rest von uns hast du bei deiner Entscheidung außer Acht gelassen.“
Odins Blick verdunkelte sich. „Euch über die Zukunft zu unterrichten, wäre falsch gewesen. Gefjon hingegen wusste ebenso wie ich um die Dinge, die eintreten würden. Balder hatte ein Recht darauf, sein Schicksal zu erfahren. Um dieses zu erfüllen, brauchte ich Lokis Hilfe, nur deshalb weihten wir ihn ein.“
Heimdall schnaufte. „Natürlich hast du ihn gewählt. Nur Loki konnte so niederträchtig sein, Hödur, einen Blinden, ins Verderben zu stoßen! Du hast deinen eigenen Sohn verraten – zwei von ihnen!“
„Es ist vorausgesagt, dass Hödur und Balder am Ende der Welt aus dem Totenreich zurückkehren und ein neues Midgard anführen. Es war notwendig.“
„Also hast du nur ihre Bestimmung erfüllt“, brummte Tyr sarkastisch.
Odin betrachtete den Kriegsgott mit eisigem Blick. „So ist es.“
Thor warf das Hühnerbein, an dem er kaute, erzürnt auf seinen Teller. „Wie konntest du nur? Du hast Balders Tod herbeigeführt und du hast zugelassen, dass Unschuldige dafür bezahlen!“
Wal-Freya nickte beipflichtend. Sie blickte zu Gefjon. „Was hat dich dazu bewegt, dabei mitzumachen? Als wäre das nicht schlimm genug, hast du dich all die Jahre in Schweigen darüber gehüllt!“
„Wir dachten, es sei das Richtige“, rechtfertigte sich Gefjon.
Thea betrachtete den obersten der Götter. Wie so oft fühlte sie sich klein und unbehaglich in seiner Nähe. Er hatte viele Dinge getan, die ihr Angst machten. Die Asen schoben Loki oft die Schuld für allerlei Dinge in die Schuhe, aber ihrer Meinung nach war der Allvater genauso unberechenbar wie der Feuergott selbst. Seinen Sohn Wali hatte er mit der Riesin Rind gegen deren Willen gezeugt, da es vorhergesagt war, dass nur sie ihm das Kind gebären würde, das Balders Tod rächte. Odins Beteiligung am Tod des Lichtgotts setzte Lokis Bestreben nach einem anderen Schicksal in ein völlig neues Licht. Er hatte nur getan, was Odin von ihm verlangte und bitter für seine Treue bezahlt. Der Zorn, den ihm die anderen entgegenbrachten, war nicht gerechtfertigt. Seit dem Beginn ihrer Reise war es das Ziel der Asen gewesen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Doch nicht Loki hatte zuerst in das Gefüge der Welt eingegriffen und die Zukunft verändert, es war Odin gewesen! Thea hatte ihren Verdacht schon einmal geäußert, nun zeigte es sich immer deutlicher.
Mithilfe der Gedankensprache nahm sie Kontakt zur Walküre auf: „Er hat alles gestanden. Ich habe es dir in Jötunheim gesagt: Odin hat damit angefangen, alles durcheinanderzubringen. Wenn er sich nicht die Zukunft hätte voraussagen lassen, wäre all das nicht geschehen. Er hätte Fenrir nicht gefesselt und er hätte nicht gewusst, dass Balder sterben würde. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Womöglich würde Balder noch leben!“
„Die Nornen legen unser aller Schicksal mit unserer Geburt fest, Thea. Wann begreifst du das endlich?“, erwiderte Wal-Freya.
„Du versuchst doch auch in das Schicksal einzugreifen. Zuletzt mit unserem Vorhaben Balder aus Hel zu holen“, erinnerte Thea.
„Ich wollte die Dinge nur in Ordnung bringen, indem wir die Weissagungen wieder wahrmachen. Nur weil wir Loki keinen Einhalt gebieten können, habe ich mich auf die Sache in Hel eingelassen, aus keinem anderen Grund.“
„Verstehst du nicht? Odin hat lange vor alledem hier versucht Ragnarök zu verhindern. Damit hat er es selbst vorangetrieben.“
Die Wanin nickte. „Da es vorausgesagt war, ist alles gekommen, wie es kommen sollte. Loki hingegen ist nicht an seinem Platz. Er wandelt frei durch die Welten und schmiedet Pläne gegen uns. Ich will, dass sich mein Schicksal erfüllt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Loki hat die Ordnung durcheinandergebracht. Ich weigere mich, das zu akzeptieren!“
Mutig erhob sich Thea. „Odin, Frigg, ihr alle, bitte hört mich an! Vielleicht kann ich das große Gefüge der Welt nicht verstehen. Ich bin nur ein Mensch. Ich begreife nicht, warum ein Vater seinen Sohn opfert, um dessen Schicksal zu erfüllen, obwohl er damit all das auslöst, was wir jetzt verhindern wollen. Ihr habt mich vor langer Zeit aufgesucht, damit ich Kyndill für euch finde und dafür sorge, dass Loki Ragnarök nicht schneller über die Welt bringt, als es vorherbestimmt ist. Euer Ziel war es stets, ihn wieder an seinen Platz zu bringen. Dann kam Fenrir frei. Wir haben ihn vergebens versucht zu fangen. Als letzten Ausweg sind wir nach Hel aufgebrochen, um Balder zu befreien – wir sind gescheitert. Wir haben alles getan, um Ragnarök zu verhindern und die Fehler der Vergangenheit zu revidieren. Doch es scheint unmöglich. Loki ist uns stets einen Schritt voraus. Aber nicht er hat Ragnarök heraufbeschworen, du warst es, Odin. Durch deine Handlungen ist es so weit gekommen. Indem du den Wolf gefesselt hast, brachtest du ihn gegen dich auf. Da du Balders Tod zugelassen hast, wurde Ragnarök eingeläutet. Wäre all das nicht geschehen, würde Loki wahrscheinlich noch immer an eurer Tafel sitzen und Scherze mit euch treiben. Alle Versuche, das wieder gerade zu biegen, sind gescheitert. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dinge einfach geschehen zu lassen, sie sind doch ohnehin von den Nornen bestimmt ...“
Bei ihren letzten Worten schnappten alle Anwesenden gleichzeitig nach Luft. Tyr sprang auf, ebenso Thor, Gefjon und Saga. Der Tisch war mit einem Mal erfüllt von aufgebrachten Stimmengewirr. Sif packte ihren Mann und zog ihn zurück auf seinen Stuhl. Während Juli Thea entgeistert anblickte, traf Wal-Freyas Blick sie kalt und unerbittlich.
„Was erlaubst du dir, Thea?“, knirschte Wal-Freya.
Es war Frigg, die nachdrücklich Gehör forderte und die Versammelten zum Schweigen brachte. Gebannt richteten sich alle Augen auf sie, auch die von Thea.
„Bevor ihr das Mädchen verurteilt, solltet ihr wissen, dass ich ihrer Meinung bin.“ Sie hob energisch die Hand, als erneut Stimmen laut wurden. „Odin hat die Dinge vorangetrieben. Es war ein schrecklicher Fehler zu glauben, mit der Erfüllung von Balders Schicksal würde er helfen das Fortbestehen seiner Schöpfung zu sichern. Statt all dies in Gang zu setzen, hätte er mich nur bei dem Versuch Balder unsterblich zu machen, aufhalten müssen. Er hat es nicht getan.“ Ihr Blick traf auf Gefjon. Verbitterung war aus ihm zu lesen. „Auch ich habe vorausgesehen, dass es Balder nicht helfen wird. Doch das Wissen um die Zukunft zu gebrauchen, ist falsch. Auf diese Weise geschehen Dinge schneller, oder sie tragen dazu bei, dass man das Schicksal herausfordert und es aus den Fugen gerät. Ihr werft all dies Loki vor und habt doch genauso gehandelt. Unsere Bestimmung wurde verändert, weil die Sehenden ihr Wissen nicht für sich behielten.“ Sie ließ den Blick über jeden Einzelnen schweifen. „Doch die Dinge sind geschehen und es führt zu nichts, wenn wir nun nach einem Schuldigen suchen ...“ Ihre Augen blieben auf Thea haften. „Oder wir aufgeben, die Ordnung wieder herzustellen.“
Beschämt senkte Thea den Kopf.
Frigg sah zu Odin. „Alles was du getan hast, war vorherbestimmt. Ragnarök lag fern, doch seit Loki in sein Schicksal eingriff, rückt es unaufhaltbar näher. Ich spüre die wachsende Feindschaft zwischen den Menschen. Noch versuchen sie, sich dagegen zu wehren, aber das Chaos wabert langsam aus den Tiefen der Erde und umschmeichelt sie, so wie Jörmungand arglistig ihre Bahnen um Midgard zieht. Die Schlange lauert, sie spürt ihre Zeit, ebenso wie die Jöten. Das Totenschiff liegt nicht mehr still, seichte Wellen schlagen an seinen Bug und bringen es kaum merklich zum Schaukeln. Wir haben Hel verärgert. Ihr werdet gleich verstehen, wie sehr ...“
Thea lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Frigg war in der Lage, in die Zukunft zu sehen, aber niemals machte sie von ihrem Wissen Gebrauch. Nun schwieg sie nicht länger. Die Göttin malte eine Zeit, die bis vor wenigen Minuten noch weit entfernt für Thea lag. Sie hob den Kopf und suchte Friggs Blick, doch Odins Frau hatte ihn in Richtung des Eingangs gerichtet, in dem zeitgleich Heimdall erschien. In seiner Begleitung befand sich ein Wikinger. Die Haut des Mannes schien ungewöhnlich blass. Mit dem Erscheinen des Kriegers sprang die Fylgja fauchend auf. Ein Schwert steckte in seinem Gürtel, an der gleichen Seite hielt er einen Schild. Der Blick hinter seinem Brillenhelm wirkte leer, obwohl er diesen zielgerichtet über die Anwesenden schweifen ließ. Auf dem Allvater blieb er ruhen. Rasch legte Wal-Freya eine Hand auf die von Thea. Diese ahnte Übles, doch sie wagte den Gedanken nicht auszuführen.
Stirnrunzelnd betrachtete Odin den Fremden.
„Hel schickt mich“, sprach der Fremde mit fester Stimme und bestätigte Theas Verdacht, dass es sich bei ihm um einen von Hels Wardonen handelte.
Mit dem Gesandten der Totengöttin wehte jäh die Kälte der Unterwelt in die Halle. Thea fröstelte. Ebenso wie ihr schien es Juli zu ergehen, denn ihre Freundin schlug mit einem unheilvollen Blick zu Thea die Arme um den Körper.
„Ich soll euch ausrichten, dass Hel euren Verrat nicht verzeiht. Lange hat sie dem Wunsch ihres Vaters widersprochen, nun gibt sie seiner Bitte nach. Loki sammelt Getreue auf Naglfar. Einst starben wir tapfer auf dem Schlachtfeld, doch die Walküren haben uns nicht ausersehen, ihnen nach Walhall zu folgen. Es wird die Zeit kommen, an dem sie ihre Wahl bereuen. Der Tag der Abrechnung rückt näher.“
Es war Odin, der aufsprang und Thors Arm ergriff, in dessen Hand bereits Mjölnir lag, um der Respektlosigkeit des Wardonen ein Ende zu setzen.
„Halte ein, Junge! Asgard ist eine heilige Stätte!“
Die Adern unter der Haut des Donnergottes schwollen an, als er gegen seinen Zorn und den Griff seines Vaters ankämpfte. Mit einem Poltern, das im dichten Umkreis Teller und Speisen zur Seite fegte, schlug er Mjölnir auf den Tisch.
Odin wandte sich an den Nachrichtenüberbringer. „Hel sollte ihren Entschluss noch einmal überdenken.“
„Ihre Wut ist endlos. Ihr Asen habt versucht, sie zu hintergehen und ihr habt sie aus der Totenwelt geführt.“ Er deutete auf Thea, der sofort der Atem stockte.
„Das sollte Hel nicht allzu sehr grämen“, brummte Odin. Er machte eine einladende Geste. „Möchtest du dich stärken, ehe du zurück zu deiner Herrin kehrst?“
Thor knurrte widerstrebend und wieder war es Sif, die ihren Gatten sanft, aber bestimmt auf seinen Platz zog.
„Wir verwehren niemandem das Gastrecht“, erinnerte sie.
Der Wardone blickte in die Runde, dann setzte er sich. Thea konnte über das Verhalten der Asen nur staunen. Tom rückte unwohl in seinem Stuhl zurück, als sich der Krieger auf den freien Platz zu seiner Rechten niederließ. Er leerte einen Becher und bediente sich an den Speisen, während er die Anwesenden schweigend betrachtete.
„Richte deiner Herrin aus, dass es auch für sie ein schlechtes Ende nehmen wird, wenn sie ihren Entschluss nicht überdenkt“, sprach Odin nach einer Weile.
„Das Totenreich wird es immer geben“, erwiderte der Wardone, leerte einen zweiten Becher und erhob sich. „Aber ich werde ihr deine Worte überbringen.“ Sein Blick fiel auf Thea. „Vielleicht ließe sie sich besänftigen, wenn ihr ...“
Nun sprang Wal-Freya auf. „Vergiss es! Hel irrt, wenn sie glaubt, dass sie einen Anspruch auf Thea hat.“
Ein dünnes Grinsen huschte um den gestutzten Bart des Kriegers. „Ist es das Schwert, das ihr fürchtet zu verlieren oder den Menschen?“
„Beides“, antwortete Odin für Wal-Freya. „Thea wird in Asgard bleiben. Darüber werde ich nicht verhandeln.“
Ein Blitz fuhr durch Theas Körper. In Asgard bleiben, hallte durch ihren Kopf. War es das, was Odin plante? Hatte er sie deshalb nicht nach Midgard zurückgehen lassen? Er hatte gesagt, er wäre um ihr Wohlbefinden besorgt. Natürlich stand Kyndills Sicherheit für ihn im Mittelpunkt. Das Schwert durfte nicht in falsche Hände geraten. Nur sie war in der Lage es zu führen – und Loki, wie alle seit ihrem Abenteuer in Hel wussten. Noch immer waren Thea die Auswirkungen der Ereignisse in Hel auf ihr Dasein nicht ersichtlich. Von einem auf den anderen Tag wusste sie nicht mehr, wohin sie gehörte. Nach Hel? Nach Midgard?
„Mach dir keine Sorgen“, drang Wal-Freyas Stimme in ihren Geist. „Wir werden die Dinge richten und du wirst bald wieder bei deiner Familie sein.“
„Es klang so endgültig“, erklärte sich Thea.
„Hier in Asgard hat Hel keine Macht über dich. Deswegen bist du hier. Wir wollen weder dich, noch Kyndill an die Totenwelt verlieren.“
Der Wardone verneigte sich leicht. „Habt Dank für eure Gastfreundschaft. Es wird nicht viel Zeit verstreichen, bis wir uns wiedersehen.“
Das Tafelgeschirr erzitterte, da Thor die Tischkante umklammerte und gegen die Wut kämpfte, die in ihm aufkochte. Ungeachtet dessen machte der Wardone kehrt und verließ in Heimdalls Begleitung die Halle.
Odin überblickte die Anwesenden, dann ließ er sich auf seinen Sitz nieder.
„Loki scharrt also eine Armee von Toten um sich“, knirschte Tyr.
„Die Weissagung nimmt Gestalt an“, fügte Saga hinzu.
Odins Auge richtete sich auf seine Frau. „War es das, wovon du sprachst?“
„Ragnarök war uns nie so nah wie in diesem Augenblick“, antwortete Frigg unheilvoll.
„Das ist doch viel zu früh, oder nicht?“, japste Tom.
Frigg nickte stumm.
„Das müssen wir verhindern!“, rief Juli.
„Ich will nicht, dass meiner Familie etwas passiert“, stimmte Thea zu. „Egal was zu tun ist, ich werde es wagen. Der Wardone sagte, Loki sammelt die Toten. Er ist also noch in Hel. Wir gehen zurück und legen ihm endgültig das Handwerk!“
Odin seufzte. „Das wird nicht gelingen.“
„Klingt, als willst du das Feld räumen“, staunte Thor.
Odin schüttelte den Kopf und richtete sein Auge auf Thea. „Mit dem, was ich tat, habe ich die Zukunft nie verändert, auch wenn du das glaubst.“
„Das ist richtig“, flüsterte Thea. „Wir alle haben sie verändert. Stück für Stück. Mit unserem Plan, Ragnarök zu verhindern, haben wir es auf die Spitze getrieben. Weil wir nach Hel gegangen sind, ist Ragnarök kein fernes Ereignis mehr. Mit unserem Versuch, Balder zu befreien, haben wir die Tötengöttin gegen uns aufgebracht – und nicht zuletzt ich, weil ich vor ihr geflohen bin. Deswegen lässt sie Loki jetzt gewähren.“
Gefjon schüttelte zeitgleich mit Wal-Freya und Frigg den Kopf. „Es war richtig, dass du dich ihrem Zugriff entzogen hast. Nicht auszudenken, wenn du und Kyndill in ihre Gewalt geraten wärt. Du trägst keine Schuld. Ragnarök rückte an jenem Tag näher, da Loki sein Schicksal abwandelte.“
„Wir legen ihm das Handwerk! Ohne Wenn und Aber!“, beharrte Juli.
„Es muss eine andere Lösung geben. Auf diese Weise haben wir es zu oft versucht, er schlüpft uns nur wieder durch die Finger“, widersprach Thor.
„Es ist zu viel geschehen, als dass die Gefangennahme Lokis das Gefüge wieder ins Lot rücken wird“, bestätigte Frigg.
„Soll heißen?“, fragte Tom zerknirscht.
Tyr brummte. „Es ist bereits zu viel geschehen. Ragnarök ist nah, obwohl die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Wir müssen unseren Weg weiterverfolgen und es aufhalten. Wie wir jetzt wissen, liegt die Lösung nicht in der Befreiung Balders.“
„Aber worin sonst? Wenn sich Loki zu fangen als aussichtslos erweist, bleibt uns nichts anderes als Balder zu befreien!“, rief Ullr.
„Es gibt noch eine Sache, die wir versuchen können“, brummte Odin.
Alle blickten auf den Allvater.
Odin wartete lange, ehe er antwortete: „Mehrere Ereignisse erschüttern die Welt an Ragnarök. Aber Muspels Söhne sind es, die sie vernichten werden. Der Völva nach schwingt Surtr sein Flammenschwert und entfacht damit einen Feuersturm, der sich gierig über alle Welten frisst, bis dieser sie verzehrt.“
„Ein zweites Flammenschwert? Das ist ja verrückt“, sagte Tom mit zu viel Begeisterung, wie Thea fand.
Bedächtig nickte Odin. „Ja, ein zweites. Wir sollten unseres dazu benutzen, um das andere zu zerstören.“
„Das ist doch verrückt!“, wehrte Wal-Freya ab. „Was soll Kyndill gegen Surtalogi bewirken?“
„Feuer bekämpft man mit Feuer. Vielleicht hat uns das Schicksal Kyndill nur für diesen Zweck in die Hand gespielt“, erwiderte Odin.
Wal-Freya schnappte nach Luft, Thor hingegen sprang auf. „Seit Jahren rede ich davon! Lasst uns diese Feuerriesen endlich in die Schranken weisen.“
„Und wie sollen wir das anstellen? Wir schaffen es niemals, ungesehen nach Muspelheim zu reisen“, protestierte Wal-Freya.
„Um Ragnarök zu verhindern, bleiben uns nicht mehr viele Optionen“, entgegnete Hermodr.
Juli schob ihre Brille den Nasenflügel hinauf. „Da ist doch noch dieser dreijährige Krieg auf Midgard. Vielleicht sollten wir den verhindern.“
Odin schüttelte den Kopf. „Lokis Eingreifen in sein Schicksal hat die Dinge aus dem Gefüge gebracht. Ragnarök hat keine Reihenfolge mehr. Erst am Ende der Welt sollte sich Loki von seinen Fesseln befreien und das Schiff Naglfar klar machen. Doch das tut er jetzt bereits. Wenn er die Toten zusammen hat, wird auch die Midgardschlange aktiv. Es hat begonnen ...“
Hermodr brummte nachdenklich. „Wenn wir also Surtr aufhalten, retten wir damit zumindest die Welten. Vielleicht sorgen wir auch dafür, dass die anderen Riesen in ihren Unterschlüpfen bleiben. So müssten wir uns nur um Loki und seine Brut kümmern. Das klingt erst einmal gut.“
Wal-Freya schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sind Urriesen! Und es werden verdammt viele sein.“
Thor lachte. „Es sind Riesen. Ob jetzt ein Ur davor steht oder nicht, spielt keine Rolle. Lass es meinetwegen tausend von ihnen sein, ich werde einen nach dem anderen in den Boden stampfen.“
„Oh bitte, Thor! Hast du vergessen, wer dir in Niflheim den Hintern gerettet hat?“, rief Wal-Freya. „Wenn Odin und die anderen nicht aufgetaucht wären ...“
„Ach! Uns wäre etwas eingefallen“, wehrte Thor ab.
Mit Schrecken dachte Thea an Niflheim und die Eisriesen zurück. Sie hatten eine lange, harte Schlacht geschlagen, bei der Wal-Freya an den Rand ihrer Kräfte geraten war, als sie versuchte die Gruppe mit ihren Zaubern zu schützen.
„Außer erneut auf die Suche nach Loki und Fenrir zu gehen, scheint es keine Alternativen zu geben. Und das haben wir schon versucht!“, erwiderte Thor.
„Ich werde euch begleiten“, sagte Odin unerwartet und beschwor damit den Unmut aller Versammelten herauf.
„Auf keinen Fall!“, rief Hermodr. „Das haben wir im Thing besprochen. Das darfst du nicht riskieren!“
Odin erhob sich. „Diesmal werde ich darüber nicht mit euch verhandeln. Thor, Wal-Freya, ihr begleitet mich. Thea ebenfalls.“ Er blickte zu Tom.
„Ich bin dabei“, erklärte dieser und entlockte Odin ein Lächeln.
„Ich auch!“, sagte Juli, ohne darauf zu warten, ob man sie ansprach.
„Das habe ich erwartet“, nickte Odin.
„Ich werde gleichwohl mitkommen“, sagte Tyr.
Odin schüttelte den Kopf. „Ich brauche dich hier, ebenso die anderen. Ihr müsst Asgard beschützen.“
„Du willst nur mit Thor, Wal-Freya und drei Menschen reisen? Ihr könnt euch auch gleich hier umbringen lassen, das ist weniger aufwendig!“, schnappte Tyr.
Hermodr nickte grimmig. „Du wirst nicht nach Muspelheim gehen und dich dort in Gefahr begeben! Wir gehen. Wir sind genug gute Kämpfer, um damit fertig zu werden. Freyr, Magni, Modi und ein paar Walküren werden reichen – und natürlich Thea, wenn du glaubst, dass sie der Schlüssel zum Gelingen des Vorhabens ist.“
„Ihr alle seid dafür verantwortlich, Asgard zu beschützen, während Thor und ich unterwegs sind“, erwiderte Odin.
Abermals wollte Hermodr etwas erwidern, doch Odin hob die Hand und erstickte jedes Wort im Keim. „Mein Entschluss steht fest!“
„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, lenkte Wal-Freya ein.
„Allerdings. Wir werden Surtr das Schwert nehmen und damit das Instrument unsere Welten zu vernichten. Wir haben ihm gegenüber einen großen Vorteil, denn wir wissen, was die Zukunft bringt. Wir kommen ihm zuvor.“
„Ich kann es kaum erwarten!“, frohlockte Thor.
Freyr schüttelte widerstrebend den Kopf. „Wie wollt ihr zu sechst gegen eine Horde Feuerriesen bestehen? Das ist Selbstmord!“
Odins Blick traf in hart. „Mit weniger Kämpfern werden wir auch weniger Aufsehen erregen. Wir werden Surtr keine Möglichkeit geben, sein Heer gegen uns zu sammeln.“
„Ich bin damit nicht einverstanden“, beharrte Freyr.
Odin hob die Hand. „Wir haben zwei Zauberinnen, zwei Kämpfer mit unerschütterlichem Mut ...“
„Und Thor!“, warf der Donnergott ein. „Was braucht die Gruppe mehr? Macht euch mal keine Sorgen!“
„Damit ist es beschlossen“, versetzte Odin endgültig.
Forseti erhob sich. „Ich kann nicht länger schweigen. Ich bin entschieden dagegen. Frigg, sag etwas!“
Ehe Frigg das Wort erheben konnte, hallte ein tiefer Schrei durch die Halle, der jeden erstarren ließ. Begleitet wurde er von einem Donnern, da Odin seine Wut mit einem Schlag auf die Tischplatte entlud. „Ich sagte, ich werde darüber nicht mit euch diskutieren!“, polterte er und erstickte alle weiteren Widersprüche. Betroffenes Schweigen legte sich über die Versammelten.
Nervös drehte Thea ihre Gabel in der Hand. Sie wusste, dass es der schlechteste Zeitpunkt war, den sie sich für ihre Frage aussuchen konnte, aber sie wollte es nicht unversucht lassen: „Darf ich noch einmal nach Midgard gehen, bevor wir aufbrechen? Ich bin schon zu lange fort. Meine Eltern ...“
„Nein!“, sagte Odin bestimmt. „Ich werde nicht deine und Kyndills Sicherheit riskieren, es steht zu viel auf dem Spiel. Sei froh. Wir werden diesem Spuk bald ein Ende bereiten. Sobald der Sonnenwagen seine nächste Bahn über Midgard zieht, reiten wir los. Packt eure Sachen.“
Im Aufstehen lud sich Thor ein Brot und zwei gebratene Hühnchen unter den Arm. „Vor unserer Reise muss ich noch ein paar Dinge erledigen“, erklärte er, drückte Sif einen Kuss auf die Schläfe und verschwand.
„Wie sieht dein Plan aus, Odin?“, griff Wal-Freya die Diskussion erneut auf. Tapfer begegnete sie dem Blick des Allvaters, der sie so unerbittlich traf, dass Thea ungewollt tiefer in ihren Stuhl rutschte.
Odin knurrte jedes Wort. „Wir reisen nach Muspelheim, finden den Aufenthaltsort von Surtr und vernichten sein Flammenschwert.“
„Mit Kyndill“, konkretisierte Wal-Freya.
„Es wird gelingen.“
„Und was ist mit all den anderen Feuerriesen? Wer bekämpft die?“, verlangte Tyr zu wissen.
„Um die kümmert sich Thor“, antwortete Odin. „Wir werden zusehen, dass wir auf so wenig Riesen wie möglich stoßen.“ Er erhob sich und stützte beide Fäuste auf die Tischplatte. „Und jetzt kein weiteres Wort.“
Wal-Freya senkte den Blick. Leicht drehte sie ihren Kopf zu Thea. Ein langer Seufzer begleitete die Worte, die sie ihrem Schützling in Gedanken schickte: „Ich habe dir damals gesagt, dass du das Schwert nicht behalten sollst. Sei hoffnungsvoll. Nach diesem Auftrag werde ich dafür sorgen, dass du deine Eltern wiedersehen kannst.“
„Sorge dich nicht, ich kannte seine Antwort, ehe ich die Frage stellte“, erwiderte Thea gefasst. „Solange du bei mir bist, habe ich keine Angst vor dem, was mich erwartet. Wenn Ragnarök naht, wird die Welt von Kriegen erschüttert, ich weiß, dass ich das alles auch für meine Familie tue. Ich hätte sie vorher nur gerne gesehen und ihnen gezeigt, dass es mir gutgeht. Wir werden es schaffen und dann werde ich sie wiedersehen.“
Wal-Freya lächelte. „So wird es sein.“
„Ich nehme an, du wirst auf Djarfur reiten?“, sprach Odin zu Thea.
Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er es will. Ich werde ihn fragen.“
Odin nickte. „Kümmere dich darum. Ihr anderen sorgt ebenfalls für eure Pferde. Proviant werden die Walküren zusammentragen.“
Frigg verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein paar Vorräte, die ihr auf dem Rücken tragt, werden euch wohl kaum durch Muspelheim bringen. Ihr werdet Wasser benötigen. Eine Menge Wasser.“
„So wie in Hel?“, scherzte Tom.
„Niemand weiß, wie es in Muspelheim aussieht, nicht einmal ich. Keiner von uns war jemals dort“, brummte Odin.
„Es ist ein Land des Feuers. Seine Funken sind so weit geflogen, dass sie das Eis um Ymir zum Schmelzen gebracht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr auf viele Flüsse trefft“, antwortete Saga.
Juli streckte in einer Siegespose die Fäuste zur Decke. „Hurra! Endlich müssen wir uns nicht darum sorgen, dass Thea ertrinkt.“
„Sehr witzig“, schmollte Thea.
„Ihr werdet eher verdursten, bevor das passiert“, raunte Hermodr.
Freyr nahm seufzend einen Schluck aus seinem Becher und stand auf. „Ich hole Skidbladnir.“
Thea presste die Lippen zusammen. „Und ich gehe zu Djarfur.“
„Er wird ausflippen“, kommentierte Wal-Freya trocken.
„Bleib! Bis zum Morgen ist noch viel Zeit. Wer weiß, wann wir das nächste Mal ein solches Festessen zu Gesicht bekommen“, warf Juli ein und winkte ihrer Freundin mit einem Pfannkuchen zu.
„Danke, ich habe genug“, erwiderte Thea.
Sie lächelte Juli zu und verabschiedete sich höflich von allen. Dann stand sie auf und verließ die Halle. Schon auf dem Weg nach draußen rief sie nach Djarfur. Sie erwartete die Antwort des Tieres in ihren Gedanken, ebenso wie sie Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Umso erstaunter war sie, als es plötzlich neben ihr schnaubte und Djarfur sie sanft anstieß.
„Ich dachte, du bist zurück nach Folkwang gegangen“, begrüßte sie ihn.
„Hast du gedacht, ich stehe tatenlos auf einer Wiese und grase, während ihr da drinnen meine Zukunft plant?“
Thea hob die Augenbrauen. „Deine Zukunft?“
Djarfur lachte. „Welche sonst? Du bist schon eine Heldin. Sag! Was folgt als Nächstes? Ich begleite dich, komme was wolle!“
„Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“
„Wie kannst du daran zweifeln? Egal, wohin es geht, ich bin an deiner Seite. Na ja, eher unter deinem ...“ Er wieherte amüsiert.
Thea rollte die Augen und tätschelte das Pferd dankbar am Hals. „Wir reisen nach Muspelheim. Odin will Surtr das Flammenschwert nehmen.“
Nun schnaubte Djarfur überrascht. „Wirklich? Dorthin? Das ist ... mutig.“
„Was meinst du?“
„Ist Surtr nicht ein Feuerriese?“
„Ja“, antwortete Thea verunsichert.
Djarfur sprang im Kreis und bäumte sich übermütig auf. „Das ist phantastisch! Es wird gefährlich werden – brandgefährlich. Ich bin mir sogar sicher, dass es keinen bedrohlicheren Ort gibt, an den die Zweige des Weltenbaums reichen.“
Freyr trat aus der Halle. Staunend verharrte er an Theas Seite und beobachtete das Walkürenpferd. „Was hat er?“
Thea holte tief Luft. „Er glaubt, dass es gefährlich in Muspelheim wird.“
„Er sieht eher aus, als würde er sich freuen“, staunte er.
„Das tut er.“
Freyr runzelte die Stirn. „Soll einer schlau aus diesem Gaul werden.“ Er zwinkerte amüsiert. „Deswegen schätze ich Gullinbursti.“
Beunruhigt presste Thea die Lippen zusammen. „Meinst du, ich sollte besser nicht mit ihm reiten?“
Djarfur blieb stehen und wieherte auf. „Bist du verrückt? Es gibt kein Pferd in allen neun Welten, das mutiger ist als ich! Ich sagte doch, dass sie noch Lieder von uns singen werden.“
„Ehrlich gesagt denke ich, dass ihr ganz gut zueinander passt“, erwiderte Freyr mit einem Lachen und lief davon.
„Was ...“, stutzte Thea. „Was soll das nun heißen?“
Freyr winkte nur über seine Schulter und verschwand.