Читать книгу Die Midgard-Saga - Muspelheim - Alexandra Bauer - Страница 7
2. Kapitel
Оглавление
Wie so oft in den letzten Tagen, saß Thea am Rand Asgards. Diesmal wartete sie auf den Sonnenwagen und ihren baldigen Aufbruch nach Muspelheim. Schwermütig betrachtete sie die Landmasse unter ihren Füßen. In einem breiten weißen Teppich zogen die Wolken über das Firmament hinweg. Hier und da ließen sie einen Blick auf den Kontinent zu und erlaubten Thea, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das Aufschauen der Fylgja kündigte einen Gast an, noch ehe dieser seine Stimme erhob. „Natürlich finden wir dich hier!“
Thea drehte sich um und lächelte gezwungen. Es war Juli. Begleitet wurde sie von Tom und der jüngsten der Baba Jagas.
„Du musst aufhören Trübsal zu blasen“, stimmte Tom zu. Er setzte sich neben sie und legte seine Hand auf ihr Knie. Die zärtliche Berührung tröstete Thea, sie erwischte sich aber dabei, dass sie ertappt in Richtung ihrer Freundin blickte, der die Geste nicht entgangen war. Was immer Juli empfand, sie verbarg es. Thea legte ihre Hand auf die von Tom, drückte sie dankbar und schob sie sanft von sich weg.
„Ich blase kein Trübsal. Ich denke nach“, widersprach sie.
„Du starrst seit Tagen Löcher in die Wolken“, erwiderte Baba Jaga vorwurfsvoll.
„Zwischendurch war ich in Gladsheim und habe meinen neuen Auftrag entgegengenommen“, antwortete Thea mit einem Zwinkern.
Juli stellte sich auf die Zehenspitzen und äugte in die Tiefe. „Vielleicht werfen wir wieder ein paar Steinchen auf Midgard – nur ganz kleine. Das bringt dich auf andere Gedanken. Wir könnten versuchen, den Eiffelturm zu treffen.“
„Bist du wahnsinnig? Ich werde mir nicht noch einmal eine Strafpredigt von Wal-Freya anhören!“, rief Tom sofort.
Juli lachte und Thea fiel mit ein. Tom schaute so entsetzt, als würde er mit Fenrir persönlich in einen Kerker gesperrt.
„Das war ein Scherz“, stellte er fest.
„Natürlich!“ Juli zwinkerte. „Aber es hat funktioniert. Es hat sie abgelenkt.“
Thea seufzte. „Ich kann nichts dafür. Ich vermisse meine Familie. Wir reisen schon wieder fort und sie werden weiterhin auf uns warten. Habt ihr denn nie Sehnsucht nach euren Eltern?“
Juli zuckte mit den Schultern. „Ab und zu ein bisschen. Aber da sind wir eben anders. Im Gegensatz zu dir habe ich Eltern, die ohnehin kaum zu Hause sind. Ich bin nicht so eng mit ihnen wie du mit deiner Familie. Und jetzt aufstehen! Du wirst dich ein wenig von Thor ablenken lassen. Er hat dich einbestellt.“
„Das ist lieb. Sag ihm, er soll mir nicht böse sein, aber bis wir aufbrechen, möchte ich hierbleiben. Außerdem bin ich nicht hungrig.“
„Das sagst du ihm schön selbst. Er ist im Stande und schickt mich die Treppe noch einmal runter“, versetzte Juli.
Baba Jaga kicherte. „Du hättest Juli mal fluchen hören sollen, bevor sie sich endlich in Bewegung gesetzt hat.“
„Ja! Und ihr Gesicht, als sie Thor mit seinem Wagen hat davonfahren sehen“, gluckste Tom.
„Er ist weggefahren?“, staunte Thea.
Juli zuckte mit den Schultern. „Ja. Er sagte allerdings, er sei gleich wieder da und bis dahin sollst du in Thrudheim sein.“ Sie beugte sich zu ihrer Freundin hinunter und stieß ihr sachte mit der Faust auf den Arm. „Nun komm!“
Mit einem Lächeln erhob sich Tom und half Thea auf. Ohne Gegenwehr schloss sie sich ihren Freunden an.
Ihr Weg führte sie die goldene Treppe hinauf, neben der sich die Götterpaläste zu einem einzigen Gebilde verwoben. Thrudheim, der Ort, an dem Thors Palast Bilskirnir stand, offenbarte sich erst hinter einem dichten Tannenwäldchen. Die Freunde waren den Weg schon so oft gegangen, dass es ihnen keine Mühe machte, den versteckten Pfad zu finden. Die weite Hügellandschaft, die dem Wald folgte, mischte sich mit vielen kleinen Schonungen, über die sich weithin sichtbar der goldene Weg zu Thors Halle schlängelte. Als sie das leuchtende Gebäude mit dem reetgedeckten Dach erreichten, klopfte Juli an die Tür. Ohne auf ein Zeichen von innen zu warten, trat sie ein. Sie waren gern gesehene Besucher in Asgard und das Ausharren auf Einlass hatte man ihnen rasch abgewöhnt.
Sif stellte gerade eine Fleischplatte auf der großen Tafel ab. Lächelnd schaute sie von ihrer Arbeit auf und begrüßte die Ankömmlinge. Seufzend überschaute Thea die Speisen. Sie hatte Recht behalten. Natürlich hatte Thor zum Festmahl gerufen. Röskva und Thjalfi bestätigten den Verdacht, als sie weitere Köstlichkeiten auf dem Tisch anrichteten. Nicht ohne die drei zusätzlichen Gedecke außer Acht zu lassen, nahm Thea Platz. Vielleicht erwartete Thor seine Kinder Magni, Modi und Thrud. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf ihre Fylgja gelenkt, da sich diese unvermittelt schnurrend und leise maunzend an der Haustür rieb.
Juli setzte sich neben ihre Freundin und knuffte ihr in die Seite. „Und das wolltest du dir entgehen lassen!“
Die sich öffnende Tür nahm Thea die Antwort von den Lippen. Mit einem breiten Grinsen trat Thor ein. In seiner Begleitung befand sich ein blonder Junge, dessen Kleider sofort verrieten, dass er aus Midgard stammte. Er trug Jeans, Sneakers und einen Pullover. Kurz hinter ihm erschienen eine Frau und ein Mann. Fröhlich stieß die Fylgja ihr Köpfchen an die Beine der Ankömmlinge. Thea glaubte ihren Augen kaum. Quiekend sprang sie auf und stürzte ihren Eltern in die Arme. Eine Woge des Glücks umfing sie. Niemals hätte sie diese Begegnung für möglich gehalten.
„Und wo ist der Rest?“, beschwerte sich Juli. „Hast du nur Theas Eltern mitgebracht?“
„Deine sind an einem Ort, den die Menschen Malaysien nennen. Ich wäre nicht rechtzeitig vor unserem Aufbruch zurückgewesen. Außerdem habt ihr beide nicht den Eindruck gemacht, dass es euch so wichtig ist.“
„Selbstverständlich wäre es das! Na ja, irgendwie ist es auch wieder typisch, wie immer sind sie nicht zu Hause.“
Thor lachte erheitert und nahm Platz.
Die Familie öffnete den Kreis. Einladend winkte Theas Mutter den Jungen heran, der die Szene still beobachtete.
„Komm zu uns, Mats. Das ist deine Schwester!“
Thea durchfuhr ein Blitz. Die Ähnlichkeit des Jungen mit ihrem kleinen Bruder war nicht von der Hand zu weisen, doch er war um wenigstens zwanzig Zentimeter gewachsen. Er wirkte so viel älter, zudem schien er keine Erinnerungen mehr an sie zu haben.
„Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte Thea. Sie ahnte die Antwort bereits, wagte aber nicht, den Gedanken weiter zu führen.
Thor brummte abwehrend.
„Es sind zwei Jahre vergangen“, sagte ihre Mutter mit erstickter Stimme.
Erschrocken legte Thea die Hand über den Mund. Ihr Vater drückte sie an sich, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Du kannst nichts dafür“, wisperte er und gab ihr einen Kuss aufs Haar.
Sif trat heran. „Komm Mirjana, setz dich zu uns, oder möchtest du, dass ich dich Ilona nenne?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist in Ordnung.“
Thea musterte ihre Mutter. Auch Wal-Freya sprach von ihr niemals als Ilona. Möglicherweise hatten die nordischen Götter Gefallen an ihrem Zweitnamen gefunden.
Sif nickte und deutete auf die Plätze an der Tafel. „Setzt euch alle, wir haben nicht viel Zeit, doch wir können ein paar Fragen aus dem Weg räumen und über Vergangenes sprechen.“
Thea löste sich aus der Umarmung und kniete zu ihrem Bruder nieder. Behutsam ergriff sie seine Hände. „Erkennst du mich denn gar nicht?“
„Wir haben ein Bild von dir im Wohnzimmer stehen. Mama und Papa haben immer von dir gesprochen. Sie haben mir aber nie gesagt, wohin du gegangen bist.“ Sein Blick fiel auf Kyndill.
„Das hätte auch eher an ein Märchen erinnert“, antwortete Thea betrübt. Sie sah zu ihrem Vater. „Zuletzt waren wir in Hel ...“ Lokis Worte drangen in ihr Gedächtnis. „Er hatte Recht. Loki sagte, der Strom der Zeit würde ihn Hel anders verlaufen.“ Sie warf einen Blick zu Tom und Juli, die diesen erschüttert erwiderten.
„Thor sagte, es ist noch nicht so weit, dass ihr zurück nach Midgard kommt“, flüsterte ihre Mutter.
„Setzt euch!“, erneuerte Sif ihre Aufforderung. Sie kam heran, nahm sanft die Hand der Mutter und führte sie an den Tisch. Die Fylgja blieb mit zufriedenem Blick zurück und rollte sich zum Schlafen vor der Tür ein.
Mirjana Helmken schloss Juli und Tom in die Arme, bevor sie neben Juli Platz nahm. Thea setzte sich zu ihr, gleich dann folgte ihr Vater. Auch er ließ sich nicht nieder, ohne zuvor Juli und Tom zu begrüßen. Etwas verhalten rückte Mats an den Tisch. Seine Achtsamkeit ruhte auf Thor, der ihm freundlich zuzwinkerte.
„Keine Sorge, Junge. In Asgard brauchst du nichts und niemanden zu fürchten.“
„Zwei Jahre, Thor?“, wiederholte Thea mit Schrecken. Sie griff nach dem Arm ihrer Mutter. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie sich ihre Eltern in der Zeit gefühlt hatten. „Wie ist das möglich?“
Thor seufzte. „Das hat irgendwie mit Hel zu tun.“
Baba Jaga nickte bestätigend. „Loki hat dir nichts vorgemacht.“
„Aber ...“ Thea versuchte das Gehörte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht.
„Wie kann das sein?“, sprach Juli die Frage aus. „Wir haben uns dort nicht in Zeitlupe bewegt und tot sind wir auch nicht. Also nicht wirklich ...“ Sie sah zu Thea, die sie mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen brachte.
Baba Jaga schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Das lässt sich schwer erklären. Odin sagt, die Zeit dort ist einfach eine andere. Man merkt es nicht, wenn man sich in ihr bewegt.“
„Hat Odin das gewusst, bevor er uns dort hingeschickt hat?“, schnappte Thea.
„Nein. Niemand von uns war je lang genug in Hel gewesen, um das festzustellen“, erwiderte Thor.
„Und du? Hast du zwei Jahre vor Utgard-Lokis Feste gesessen und gewartet?“, staunte Juli.
Thor fasste sich an den Hinterkopf. „Nicht ganz“, lachte er. „Aber ja. Für uns fühlen sich zwei Jahre nicht so an wie für euch. Denk an Odin und Frigg. Ein Streit zwischen ihnen kann rasch zwei Wochen dauern.“
„Unsere armen Eltern“, brummte Tom.
„Es tut mir so leid“, sagte Thea.
Theas Vater seufzte. „Es war nicht leicht. Wir wussten, wo du bist. Toms Mutter hingegen hat alle Hoffnungen fahren lassen.“ Er sah zu ihm. „Sie fürchtet, dich nie wieder zu sehen.“
Tom schüttelte den Kopf. „Die ärmste.“
„Wolltet ihr euch nicht darum kümmern, sie zu informieren?“, murrte Juli.
Der Donnergott brummelte abwehrend. „Wal-Freya hat das übernommen.“
Mirjana nickte. „So war es. Einige Wochen, nachdem ihr fortgegangen seid, kamen Walküren und teilten uns mit, dass wir uns auf eure Rückkehr gedulden müssen.“
Der Vater seufzte bestätigend. „Weißt du, wie schwer es mir zunächst fiel, deiner Mutter zu glauben, dass du zusammen mit Juli und Tom nach Asgard aufgebrochen bist? Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren. Ehe diese Frauen auftauchten, ging ich davon aus, sie einweisen zu müssen.“
„Es tut mir leid. Wal-Freya hielt es für eine gute Sache, euch nicht wieder im Unklaren über unseren Aufenthaltsort zu lassen. Du warst leider nicht da, um es dir ebenfalls zu zeigen.“
„Diese Sigrún konnte mich davon überzeugen, dass deine Mutter nicht verrückt geworden ist. Besser gemacht hat es das aber nicht. Nach zwei Monaten warst du noch immer nicht zurück. Wir machten uns große Sorgen. Von den nordischen Göttern fehlte bis zum heutigen Tag jede Spur.“ Mit leichtem Vorwurf blickte er zu Thor.
„Sieh mich nicht an, ich war beschäftigt“, erwiderte dieser mit erhobenen Händen. Dann schnappte er sich ein Stück Fleisch und stopfte es in den Mund. „Jetzt seid ihr ja da. Nutzt die Zeit lieber. Bedient euch und sprecht miteinander.“
Thea blickte zu ihrer Fylgja, die unverwandt vor der Haustür lag und schlief. „Ich habe Großvater getroffen“, sagte sie unerwartet. „Ich soll dich grüßen, Mama.“
Ihre Mutter staunte. „Großvater?“
Abwechselnd erzählten sie von ihren Abenteuern, davon, wie sie Fenrir jagten, auf Baba Jaga und Angrboda stießen und sie die Spur von Lokis Sohn schließlich verloren. Sie beschrieben ihren Weg durch Hel und dass Balder nach Lokis Verrat die Entscheidung traf, in der Unterwelt zu bleiben. Die gefährlichen Situationen sparten sie aus. Immer wenn jemand von ihnen drohte, zu viel zu offenbaren, fielen sie sich gegenseitig ins Wort.
„Und nun müssen wir nach Muspelheim, um Midgards Vernichtung zu verhindern“, schloss Juli.
„Das Schärfste hätten wir fast vergessen. Thea kann jetzt zaubern, so richtig!“, fügte Tom hinzu. Er sah sie mit einem Stolz an, der Thea peinlich berührte.
„Nur ein bisschen“, wehrte sie ab.
Tom lachte. „Ein bisschen? Sie kann Dinge bewegen und Luftblasen zaubern ...“
Zum ersten Mal, seit sie das Gespräch begonnen hatten, meldete sich Mats zu Wort: „Echt? Sie zaubert?“ Er griff nach einem Pfannkuchen.
Sein Vater sah ihn streng an. „Dir ist klar, dass du niemandem davon erzählen darfst.“
Baba Jaga winkte ab. „Das würde keiner glauben.“
„Trotzdem! Nicht auszudenken, was passiert, wenn er auf dem Schulhof erzählt, dass seine Schwester nach Asgard gereist ist, um den Untergang der Welt zu verhindern ...“
Thor lachte. „In früheren Zeiten hätte man euch und eure ganze Sippe dafür verehrt und mit Geschenken überhäuft.“
„Wie sich Dinge ändern. Heute wandert man dafür zum Psychologen“, kicherte Juli.
Sif rückte ihren Teller vor. „Das ist bedauerlich.“
Alle nickten. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Die Fylgja sprang mit einem erstaunten Laut zur Seite. Sämtliche Aufmerksamkeit richtete sich auf die Person, die im Türrahmen stand.
„Hier steckt ihr. Wir warten auf euch“, sagte Wal-Freya und geriet sofort ins Stocken, als sie die drei Menschen entdeckte, die mit Thea am Tisch saßen. „Mirjana, Thorsten, Mats“, erkannte sie. Rügend wanderte ihr Blick zu Thor. „Du hast sie hierher gebracht?“
„Wenn Thea nicht zu ihnen kann, dann müssen sie eben zu ihr“, erwiderte der Donnergott leichthin.
Die oberste der Walküren trat auf Mats zu, strich ihm übers Haar und begrüßte erst Theas Vater, ehe sie Mirjanas Hand in die ihre schloss. „Verzeih uns. Erneut benötigen wir die Hilfe deiner Tochter. Du wirst dich noch einmal auf ihre Rückkehr gedulden müssen.“
„Das wissen wir“, sagte Mirjana leise.
„Hätten wir eine Wahl, würden wir es verbieten“, nickte der Vater.
„Ihr habt keine Wahl“, sagte Wal-Freya freundlich.
Sif erhob sich und deutete auf den Platz. „Setz dich zu uns, Wal-Freya.“
„Ich würde deine Einladung gerne annehmen, aber ich bin gekommen, um Thea auf die Reise vorzubereiten.“ Sie sah zu ihr. „Wir müssen deine Sachen packen.“
„Ihr Zauberzeugs“, sagte Juli bedeutungsvoll zu Mats.
„Ja, ihr Zauberzeugs“, bestätigte Wal-Freya nachdrücklich.
„Kann das nicht warten?“, flehte Thea.
Die Walküre verschränkte die Arme. „Wie sollte ich ahnen, dass Thor deine Familie hierher bringt? Leider kann es nicht warten. Wir brechen bald auf.“ Sie lächelte. „Sie können dich gerne begleiten.“
Thor lehnte sich in seinen Stuhl zurück und richtete die Arme zur Decke. „Da war es vorbei mit der Gemütlichkeit.“
Wal-Freya warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Das verschafft ihnen mehr Zeit. In weniger als einer Stunde reisen wir ab. Wie hast du dir vorgestellt, sie wieder nach Hause zu bringen und rechtzeitig zurück zu sein?“
Er schnalzte abwehrend mit der Zunge. „Tanngnjostr und Tanngrisnir sind schnell.“
„Das stimmt!“, rief Mats.
Wal-Freya seufzte. „Komm, Thea. Bis wir losreiten, kann deine Familie bei uns bleiben. Die Walküren werden sie später nach Midgard bringen.“
Thea wusste, dass jeder Widerspruch sinnlos wäre. Sie nickte dankbar und nahm im Aufstehen die Hand ihrer Mutter. Plötzlich war ihr Gemüt mit Freude erfüllt. „Komm! Ich zeige euch Asgard!“
„Ich dachte, ich nehme dich auf Vala mit“, raunte Wal-Freya. Dann winkte sie ab. „Wir sehen uns in Folkwang. Beeile dich!“
Juli kicherte. „Sie werden die Treppen lieben, Frau Helmken!“
„Und Julis Flüche, wenn sie diese hinabsteigt“, fügte Thea hinzu.
„Darauf werdet ihr verzichten müssen. Während du deinen Zauberkrams packst, werde ich mit Tom Asgards Speisen frönen“, erwiderte Juli.
„Ihr beiden kommt mit, Juli. Ich habe auch etwas für euch. Außerdem kannst du deine Rüstung auf Vordermann bringen.“
„Das ist nicht dein Ernst, Wal-Freya. Die paar Eisenteile sind doch schnell umgeschnallt.“
„Mach, das du loskommst!“
„Es hat sich ausgefuttert“, neckte Tom sie.
Baba Jaga erhob sich. „Ich gehe auch nach Hause. Ich komme euch aber noch verabschieden.“
„Es bleibt nicht mehr viel Zeit“, erinnerte Wal-Freya.
„Ich hole nur den Rest von mir“, scherzte die dreifaltige Göttin. „Bis gleich!“
Mit einem Zwinkern in Richtung ihrer Freundin und nicht ohne sich bei Thor und Sif zu bedanken, führte Thea ihre Familie hinaus. Die Fylgja sprang fröhlich neben ihnen her und blickte immer wieder zu ihnen auf. Nachdem sie den goldenen Pfad in Richtung des Tannenwäldchens verlassen hatten und die Anhöhe der Götterburg betraten, wollte Mats nicht aufhören zu Staunen. Thea deutete nach Gladsheim und erklärte ihrem Bruder, dass der Allvater dort wohne. Zu ihrem Erstaunen wusste Mats genau, von wem sie sprach. Etwas verlegen senkte ihre Mutter den Blick. In den vergangenen Monaten hatte sie die alten Geschichten ihres Großvaters mit Mats und ihrem Mann geteilt. Sie gestand Thea, dass sie dies über die Zeit getröstet hatte, in der sie ihre Tochter in den Sternen suchte. Ein tiefes Seufzen des Vaters begleitete die Unterhaltung. Thea umschloss unwillkürlich seine Hand und drückte sie fest. Er lächelte gepresst und erwiderte die Geste.
„Ich gebe zu, dass ich das alles noch immer nicht verstehe“, raunte er.
„Ehrlich gesagt, geht es mir genauso“, erklärte Thea.
Ihr Vater nickte. „Wenn ich nicht wüsste, dass ich wach bin, würde ich glauben zu träumen. Ich wünschte, du könntest einfach zurück mit uns nach Hause kommen, aber ich weiß, dass ich darüber nicht mit deinen Göttern diskutieren kann.“
Juli schnaufte. „Das können Sie vergessen! Nicht mal in Ruhe essen lassen sie einen.“
„Sie sind immer darauf bedacht, dass uns nichts geschieht“, versuchte Thea ihren Vater zu beruhigen.
„Das ist gut. Ich habe Angst um dich und gleichzeitig bin ich unglaublich stolz.“
„Das ist Breidablik“, erklärte Thea. Sie blieben stehen. Zu ihrer Seite erstreckte sich ein gradliniger Pfad bis zu einer strahlenden Halle.
„Glaubst du, dieses Ragnarök tatsächlich abwenden zu können?“, fragte der Vater, ehe er die Treppen weiter hinabstieg.
Thea lächelte. „Wir arbeiten daran. Aber wir erfuhren viele Rückschläge. Ich bin guter Hoffnung, dass wir es diesmal schaffen.“ Sie deutete nach links und schlug den Weg nach Folkwang ein. Als sie Wal-Freyas Palast betraten, sprangen Bygul und Trjegul auf sie zu. Sie blieben kurz bei der Fylgja stehen und beschnupperten sie, ehe sie weiterliefen. Mats stieß einen stummen Schrei aus und versteckte sich hinter seiner Schwester. Diese sprach ihm Mut zu: „Das sind Wal-Freyas Katzen. Keine Angst, sie sind einfach nur größer als unsere Hauskatzen.“
Bygul bekräftigte ihre Worte und strich schnurrend um ihre Beine. Einen Augenblick später öffnete sich eine der Türen und Skalmöld trat ein. Die Walküre, der das schwarze Haar kurz und wild um den Kopf wuchs, stellte einen Krug und einige Becher auf der Tafel ab. Sie begrüßte die Gäste und schüttelte jedem einzelnen die Hände, sogar Mats, der ein wenig schüchtern wirkte. Schweren Herzens betrachtete Thea ihn. Sie bedauerte die Zeit, die sie miteinander verloren hatten. Die Fylgja setzte sich in eine Ecke des Zimmers, leckte sich die Pfoten und legte sich schließlich vor dem Kamin nieder.
„Es ist mir eine Freude euch alle kennenzulernen. Ihr müsst sehr stolz auf eure Tochter sein“, sagte Skalmöld, während sie Thea aufmunternd anstieß.
„Das sind sie“, sagte eine zweite Person, die kurz hinter ihr eintrat. Auch Wal-Freya lächelte. Unter ihrem Arm trug sie einen Stapel Stoffe. „Willkommen in Folkwang. Hunger werdet ihr nicht mitgebracht haben, oder?“
„Immer!“, erwiderte Juli.
Ein spöttisches Grinsen umspielte Wal-Freyas Lippen. „Was so ein paar Treppenstufen alles auslösen. Dich habe ich nicht gefragt, liebe Juli. Dein Fressclub tagt einige Stufen weiter oben.“
„Aus dem du mich ausgeladen hast“, erinnerte Juli.
„Danke, wir hatten reichlich zu essen“, erwiderte Theas Vater diplomatisch, ehe Juli den vorgespielten Streit mit einem Lachen entschärfte.
„Nehmt Platz und trinkt“, forderte Wal-Freya ihre Gäste auf.
„Was hast du mitgebracht?“, fragte Juli.
Während sich alle um die Tafel versammelten, warf Wal-Freya den Kleidungsstoß über einen Stuhl. „Umhänge“, sagte sie einsilbig.
Juli lachte. „Umhänge? Für Muspelheim? Ich freue mich die ganze Zeit schon darauf, dass wir endlich an einen Ort reisen, an dem ich mir nicht den Arsch abfriere.“
Die Wanin warf ihr einen vernichtenden Blick zu, dann hob sie in einer gönnerhaften Geste die Augenbrauen. „Diesmal wirst du ihn dir wohl eher verbrennen. Da ich mir das Gemecker ersparen will, habe ich für Abhilfe gesorgt.“ Sie winkte Juli heran, nahm den Stoff vom Stuhl und warf ihn um ihre Schultern. Juli schrie auf und streifte das Kleidungsstück hektisch ab.
„Zur Hölle, willst du mich schockgefrieren? Was ist das?“
„Ein Kühlumhang“, antwortete Wal-Freya. „Du wirst ihn noch schätzen lernen.“
„Das ist ein verdammter Frostwickel. In diesen Dingern sind wir tiefgekühlt, bis wir Muspelheim erreichen. Wenn uns die Feuerriesen wohlgesonnen sind, stellen sie uns zum Auftauen in ihren Garten und geben uns eine Chance, bevor sie uns erschlagen. Nur sind wir wahrscheinlich mausetot, wenn wir ankommen!“
Wal-Freya rollte die Augen, während Tom und Thea, im Versuch das Lachen zu unterdrücken, Tränen über die Wangen liefen. Mats ließ sich von ihrer Erheiterung anstecken. Auch Skalmöld bebte unter zurückgehaltenem Kichern.
„Den ziehst du erst in Muspelheim an, Quatschkopf. Steck ihn in dein Gepäck!“
Juli pflückte den Stoff vom Boden. Argwöhnisch hielt sie ihn zwischen ihren Fingerspitzen. Er war aus leichtem Material. Auf den ersten Blick wirkte er nicht außergewöhnlich. „Wo ist er her?“
„Aus Svartalfheim“, antwortete Wal-Freya.
„Oh wow! Den willst du Thea wirklich anvertrauen?“
„Haha!“, erwiderte Thea langgezogen.
„Wir sollten Wetten annehmen, wie lange sie diesmal braucht, um ihn kaputt zu machen“, nahm Tom die Vorlage an.
„Ihr seid doof! Alle beide.“ Thea streckte ihnen grinsend die Zunge raus.
„Geht jetzt rüber und macht euch aufbruchbereit“, befahl Wal-Freya. „Lass den Rock da, Thea, ich fülle ihn neu auf.“
Thea war die Einzige, die sich während des Aufenthalts in Asgard nicht von ihrem Schwert getrennt hatte. Alle Rüstungsteile lagerten aber in dem Zimmer, das sie und ihre Freunde in Folkwang bezogen hatten. Sie hob den Gürtel an, löste den Knoten, mit dem das Kleidungsstück um ihre Hüfte befestigt war, und reichte es Wal-Freya. Aufgeregt hasteten Juli und Tom voraus. Nur Thea verharrte. Die Fylgja hob ein Augenlid und beobachtete die Situation, ehe sie weiterschlief.
„Magst du mitkommen, Mats?“, fragte Thea ihren Bruder.
Die Freude, mit der sich das Gesicht des Jungen füllte, ließ Theas Herz schneller schlagen. Rasch stand er auf und begleitete sie in den Nebenraum. Fasziniert sah er zu, wie seine Schwester, Juli und Tom ihre Tuniken über den Kopf zogen und sich gegenseitig in die Kettenhemden halfen. Er berührte Toms Schwerter und trat ihm nach mehrmaliger Aufforderung gegen die Beinschiene. Mit gespieltem Schmerz fiel Tom zu Boden, worauf sich Mats übermütig auf den Jugendlichen warf. Die Mädchen beobachteten lachend, wie Tom nach Gnade flehend Arme und Beine ausstreckte. Schließlich packte Thea ihren Bruder und stellte ihn neben Tom ab.
„Großartig gemacht“, lobte Thea ihn. Sie streckte ihm die Faust entgegen, welche Mats stolz mit der eigenen antippte.
„Unglaublich“, bestätigte Juli. „Wenn du so weiter machst, kannst du uns bald begleiten.“ Auch sie stieß ihre Faust gegen die von Mats, als ein Räuspern ihre Aufmerksamkeit zur Tür lenkte. Theas Eltern standen darin.
Mit einem von stiller Traurigkeit begleitetem Lächeln, erwiderte Mirjana Helmken: „Ein Kind in der Ferne reicht mir völlig.“
„Da haben Sie wohl Recht“, stimmte Juli zu.
Wal-Freya trat zwischen die Eltern und legte ihre Hände auf deren Schultern. „Wenn wir erfolgreich sind, werdet ihr sie schon in Kürze wieder in die Arme schließen. Diesmal scheitern wir nicht.“
„Das hoffen wir“, seufzte Herr Helmken.
„Keine Sorge, Thorsten. Unser aller Schicksal liegt in den besten Händen. Seid fröhlich und dankbar. Wir werden niemals vergessen, was eure Familie für all das auf sich genommen hat. Noch eure Kinder und Kindeskinder werden von den Göttern beschützt sein.“ Sie schob sich zwischen den beiden hindurch. Flink leerte sie einen Beutel in Theas linker Hosentasche. „Mondsand“, erklärte sie einsilbig, legte das Säckchen zur Seite und füllte den Inhalt eines anderen in die zweite Tasche. Nun lächelte sie. „Muttererde aus Wanaheim.“ Sie öffnete Theas Gürtel und reihte einige Beutelchen auf dem Leder an. „Ich weiß ja, wie verschwenderisch du damit umgehst“, scherzte sie.
„Ich werde das nicht brauchen, wenn du bei uns bist“, erwiderte Thea. Sie schloss den Riemen und hob Steppjacke, Kettenhemd und Tunika an, sodass Wal-Freya den Rock über ihre Hose wickeln konnte. Thea tastete die gefüllten Täschchen an dem Kleidungsstück ab. Erst dann schaute sie zu ihren Eltern.
„Du siehst aus wie eine Walküre“, sagte ihr Vater mit erkennbarem Stolz und unendlicher Traurigkeit.
Thea wurde schwer ums Herz. Sie konnte die Qualen ihrer Eltern nachfühlen, ihre Angst und die quälende Ungewissheit, die ihr Tun begleitete, während sie ihr Kind im nirgendwo der Götterwelt wussten. Nach Theas Begegnung mit Hakon und Amma war das elterliche Gefühl in ihr noch frisch. Überwältigt von einer plötzlich aufkeimenden Trauer fiel sie ihrem Vater in die Arme. Liebevoll drückte er sie an sich. Für die Dauer der Umarmung fühlte Thea eine lang verloren geglaubte Ruhe in sich wiederkehren. Seit sie aus Hel zurückgekehrt war, zerrissen die Erinnerungen an ihre Vergangenheit sie, doch an diesem Platz war sie nicht Fengur, nicht Njal, sie war nur Thea, gesegnet mit den liebevollsten Eltern, die sich ein Kind wünschen konnte.
Ein tiefes Räuspern ließ Thea und alle Beteiligten zur Tür schauen. Dort stand, gestützt auf einen Speer, ein Mann in einem graublauen Mantel. Weißes, zotteliges Haar quoll unter einem Schlapphut auf seine Schultern. Ein Bart, an Mund und Kinn zu kleinen Zöpfen geflochten, floss über seine Brust. Eines seiner Augen war von einer schwarzen Augenklappe bedeckt, das andere blickte grimmig unter der buschigen Braue. An der Seite des Gottes wachten zwei Wölfe.
Mats trat unwillkürlich einen Schritt zurück hinter Tom. Fragend löste Thorsten Helmken die Umarmung, behielt aber einen Arm um die Schulter seiner Tochter.
„Die Eltern unserer Heldin. Es ist mir eine Freude“, begrüßte der Mann die Gäste und nickte leicht zum Gruß.
Während Vater und Mutter die Geste erwiderten, kehrte sich Odin schon von ihnen ab und blickte zu Wal-Freya. „Wir brechen auf. Alles ist vorbereitet.“
Thea bemerkte, wie sich der Griff ihres Vaters verstärkte. Sie drückte tröstend seine Hand. „Alles wird gut werden“, flüsterte sie ihm zu.
Juli schob sich an Thea und Herrn Helmen vorbei. Im Gegensatz zu Thea, die sich stets kleiner und ängstlicher in Odins Nähe fühlte, begegnete ihre Freundin dem Allvater ohne Scheu. „Bist du das wirklich? Ich dachte schon, Gandalf persönlich macht uns seine Aufwartung.“
Odin lachte.
„Jetzt mal echt. Wir sind gerüstet bis zum Hals und du kommst im Freizeitmantel?“
Odin lachte lauter. Er teilte den Umhang und warf ihn über seine Schultern. Die silberne Rüstung, die sich darunter verbarg, ließ Juli ein beeindrucktes „Wooohooo“ ausstoßen. Silberne Armschienen und Schulterplatten, die an Rabenköpfe erinnerten und mit goldenen Mustern verziert waren, ergänzten einen Brustpanzer, der nur wenig Sicht auf die dunkelblaue Tunika gestattete. Darunter befand sich ein Schutz für die Oberschenkel, der bis an die Knie reichte. Beinschienen, über enge schwarze Stiefel gespannt, in denen eine braune Lederhose steckte, rundeten das Bild ab.
„Ich werde doch nicht im Freizeitmantel zu Feuerriesen reisen.“ Er zwinkerte Juli zu und nahm Thea in seinen Blick gefangen. „Bist du bereit?“
Thea war weit davon entfernt zu irgendetwas bereit zu sein. Im Augenblick wollte sie nur das Wiedersehen mit ihren Eltern feiern, aber sie wusste, dass Ragnarök näher rückte. Sie alle waren in Gefahr, wenn sie sich nicht ihrer Aufgabe besann. Sie presste die Lippen zusammen und nickte. Dann sah sie zu Wal-Freya, die bestätigend die Augen niederschlug. Aufmunternd drückte Thea die Hände ihrer Eltern.
„Wir können los“, sagte sie zu Odin.
Der Allvater senkte zufrieden den Blick und verließ die Halle in Richtung der großen Terrasse, die Folkwang mit Sessrumnir verband. Thea und die anderen folgten ihm. Auch die Fylgja schloss sich ihnen an. Sie blickte verwundert und erwartungsvoll zugleich. Auf dem Platz hatte sich eine Schar Walküren versammelt, in ihrer Begleitung warteten eine Vielzahl von Pferden. Die junge Baba Jaga war ebenfalls eingetroffen, zusammen mit ihrem mittleren und älterem Ich. Sie lächelten den Freunden aufmunternd zu. Thea erkannte Sleipnir, der alle Tiere überragte. Djarfur hob und neigte aufgeregt den Kopf, als er Thea erblickte. Sofort schickte er ihr einen Gedanken:
„Meine Heldin, da bist du endlich. Du siehst großartig aus.“
„Du ebenso“, erwiderte Thea, da ihr nichts Besseres einfiel.
Sleipnir schien Mats zu beeindrucken, denn er versteckte sich hinter seinen Eltern, als er das achtbeinige Pferd entdeckte. Thea konnte es ihm nachempfinden, der graue Hengst mit seinem massiven Körper wies ein Stockmaß von Theas Größe auf. Die aufgewölbte Nasenpartie mit den dunklen, strengen Augen, war angsteinflößend, da halfen auch die leuchtend weißen Haarbüschel um seine Hufe nicht, die im Gegensatz zu seiner schwarzen Mähne standen.
Odin schritt auf den Hengst zu und saß auf. Sleipnir tänzelte auf der Stelle, beruhigte sich aber, als der Allvater ihm sanft den Hals tätschelte. Juli verabschiedete sich von Theas Eltern und eilte auf Fifill zu, das Walkürenpferd, auf dem sie schon nach Hel geritten war. Tom folgte ihrem Beispiel. Zur Überraschung aller lief ihm Leiftri entgegen.
„Er hat deine weibliche Seite entdeckt“, scherzte Juli.
Tom ignorierte ihren Kommentar schmunzelnd. Liebevoll begrüßte er das Tier, ehe er, begleitet von Verzückung und Stolz, auf seinen Rücken sprang. Thea beobachtete ihren Freund mit gemischten Gefühlen. Erneut stürzte er sich in ein Abenteuer, ohne die Konsequenzen abzuwägen. Ihr war bewusst, dass Hel nicht nur sie selbst des Verrats bezichtigte, sondern auch Juli und Tom. Wenn sich die Totengöttin nicht umstimmen ließ, blühte ihnen eines Tages ein grausames Schicksal und das nur, weil sie Thea treu gefolgt waren. Sie hoffte inständig, dass die Asen Hel rechtzeitig besänftigten würden, ehe einem von ihnen etwas zustieß.
Sie spürte Wal-Freyas Hand auf ihrer Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Er ist stärker, als du glaubst.“
Thea äugte zu Odin, der Tom gerade dazu aufforderte, an seiner Seite zu reiten. Unwohlsein überkam sie. Sie wusste nicht warum, aber sie hasste es, wenn der Allvater ihren Freund derart für sich einnahm. Sie hatte Juli und Tom in genug Schwierigkeiten geführt, sie sollten nicht noch größer werden – falls das überhaupt möglich war.
„Ich achte trotzdem auf ihn. Auf beide!“, erwiderte Thea.
„Ihr werdet euch gegenseitig beschützen, denke ich. Diesmal werden wir zusammenbleiben, keine Sorge.“ Sie schritt an Thea vorbei und begrüßte Sigrún, ehe sie Vala sanft über die Nüstern strich.
Thea seufzte. Die Walküren waren zahlreich erschienen, aber nicht, um sie zu begleiten, sondern um ihre Familie nach Hause zu bringen. Sie wusste, dass es Zeit war Abschied zu nehmen. Sie verabschiedete sich erst von den Baba Jagas, die ihr alle Mut zusprachen. Die Ältere drückte fest ihre Hand und überreichte ihr dann einen kleinen Beutel.
„Heilerde“, sagte sie. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du die brauchen kannst.“
Thea warf einen Blick zu ihrer Mutter, doch diese schien Baba Jagas Worte nicht gehört zu haben. Thea dankte leise und nahm die Alte noch einmal in die Arme.
„Sei nur mutig und habe keine Angst“, raunte sie ihr ins Ohr und löste sich von dem Mädchen. Thea lächelte, dann umarmte sie erst ihren Vater und schließlich ihre Mutter, ehe sie sich ihrem Bruder zuwandte. Der fiel Thea kurzerhand um den Hals.
„Ich bin bald zurück“, versprach sie ihm. „Und dann holen wir alles nach, was wir verpasst haben. Ich besorge dir jeden Tag so viel Eis, wie du essen kannst, ganz wie früher.“
„Weißt du ...“, druckste Mats und entließ sie aus der Umarmung. „Wir können zusammen zum Venezia fahren.“
Sie wuschelte ihm die Haare. „Das stimmt wohl. Das machen wir dann und ich werde dir haarklein erzählen, was ich erlebt habe, bis du kein Eis mehr in dich bringst.“
Mats grinste. „Au ja!“
Sie lächelte gepresst, winkte ihrer Familie zu und wandte sich von ihnen ab. Djarfur tänzelte erfreut.
„Endlich, meine Heldin!“
Dicht gefolgt von ihrer Fylgja lief Thea ihm entgegen. Erst als sie auf seinem Rücken saß, drehte sie sich noch einmal zu ihrer Familie um. Ihre Mutter lächelte ihr aufmunternd zu und Thea erwiderte die Geste, ehe ein Donnergrollen alle Blicke zum Himmel lenkte. Blitze zuckten über das Firmament. Mit hoch über den Kopf erhobenen Mjölnir näherte sich Thor. Als Tanngrisnir und Tanngnjostr auf der Terrasse aufsetzten, verloschen die Lichtquellen und das Grollen verstummte. Laut lachend steckte Thor seine Waffe in den Gürtel.
Wal-Freya rollte die Augen. „Niemand der hier Anwesenden lässt sich von diesem Auftritt beeindrucken, Thor.“
Der Donnergott lachte abermals. „Und wenn schon! Ich freue mich eben.“
„Du wirst noch genug Gelegenheit bekommen deine Kräfte zu zeigen, Sohn“, ahnte Odin voraus. „Nimm dir ein Pferd und lass uns aufbrechen.“
Empörter als beide Böcke blickte Thor.
„Ich setze mich doch auf kein Pferd!“, wehrte der Donnergott ab.
„Du erregst zu viel Aufmerksamkeit mit deinem Wagen“, wies Wal-Freya ihn zurecht.
„Genau! Wir reisen sicher geheim“, fügte Juli spöttelnd hinzu.
Thor grinste breit. „Wozu sollte das nötig sein, liebe Juli? Wir besuchen nur ein paar Riesen.“
Schmunzelnd hob Juli die Schultern. „Oh, ich erinnere mich an einige Begegnungen, die wir mit Riesen hatten und alle waren nicht so schön.“
„Es gibt auch nette Riesen, wie du weißt“, entgegnete Thor.
„Und das aus deinem Mund“, lachte Juli.
„Ich steige auf kein Pferd“, schloss Thor.
„Dann lass es sein“, knirschte Wal-Freya, die offenbar wusste, dass weitere Diskussionen darüber zwecklos wären.
„Also los“, brummte Odin und kaum hatte er es ausgesprochen, schnellte Sleipnir voran. Ehe es sich Thea versah, setzte sich auch Djarfur in Bewegung. Rasch wandte sie sich im Sattel um und winkte ihrer Familie zum Abschied zu, ehe sie diese begleitet von Julis Jubellauten aus den Augen verlor.