Читать книгу Vom Wienerwald zur Buckligen Welt - Alexandra Gruber Carina - Страница 4
ОглавлениеLiebe Leserin, lieber Leser!
Eine vielfach noch gängige Bezeichnung für den Südosten Niederösterreichs lautet Industrieviertel. Dieser Name lässt im Kopf sofort Bilder von rauchenden Fabriksschloten, zubetonierten Landstrichen und Überstunden am Fließband entstehen. Kein Wunder, dass die Touristiker damit noch nie glücklich waren. Darum unterteilten findige Marketingstrategen das facettenreiche Viertel in kleinere Regionen, um sie gesondert unter klingenden Begriffen wie Wiener Alpen, Bucklige Welt, Wienerwald oder Thermenregion bewerben zu können.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist das »Viertel unter dem Wienerwald«, wie es ursprünglich bezeichnet wurde, verkehrstechnisch eng mit der Bundeshauptstadt verbunden. Ab diesem Zeitpunkt strömten die Sommerfrischler in das Rax-Schneeberg-Gebiet, auf den Semmering, in die Kurorte oder in den Wienerwald. Für sie wurden mondäne Villen und Hotels, Thermalbäder und später auch Seilbahnen gebaut. Im Industrieviertel schuf das technische Genie Carl Ritter von Ghega die erste Hochgebirgsbahn der Welt, erdachte Karl Renner seine Strategie zur Gründung der Zweiten Republik und holte sich Ludwig van Beethoven Inspirationen auf ausgedehnten Wanderungen. In seinem mittleren und nördlichen Teil liegt das Gebiet, das ihm seinen Namen gab. Die Industrialisierung zog hier früh ein und hinterließ selbstbewusste Orte und Städte, die ihre Geschichte und Geschichten heute stolz präsentieren.
Um seine Besonderheiten aufzuspüren, durchquerten wir monatelang das vielfältige Viertel. Wir streiften durch die weitläufigen, verlassenen Salons und Zimmerfluchten eines Fin-de-Siècle-Hotels, erforschten unterirdische Höhlen und Kriegsstollen, begaben uns auf die Spuren des Raxkönigs, staunten über ein wundersames Weihnachtslicht und eine makabre Schädelsammlung, schmunzelten über kuriose Begebenheiten in einem amtsschimmelgeplagten Dorf, besuchten ein 1.000 Meter hohes »Kino« und einen nachts künstlich beleuchteten Wasserfall, kamen auf Tuchfühlung mit Steinböcken, setzten auf einer Trabrennbahn aufs falsche Pferd, wandelten wie Riesen durch eine Miniaturwelt, entschleunigten in den Sehnsuchtsorten der Sommerfrischler, folgten dem Weg des Wassers und dem Ruf der Berge, lauschten der Boygroup Gottes, feierten wie Kelten und Römer und begegneten dem Wächter von Ghegas Erbe.
»Nomen est omen« trifft in diesem Fall wohl nicht zu. Oder denken Sie noch immer an rauchende Fabriksschlote?
Wien, September 2019
Alexandra Gruber und Wolfgang Muhr