Читать книгу Melea - Alexandra Welbhoff - Страница 4
Оглавление8. Mond, im 988. Jahr der Barriere
Flucht
1
„Los, beeilt euch und sichert die Beiboote, sobald alle an Bord sind“, rief Geralt.
Er eilte übers Deck, zum Bug seines Schiffes, und blickte angestrengt in die Finsternis. Sturm und peitschender Regen machten es unmöglich, etwas Genaueres zu erkennen. Aber eines sah er deutlich, und das waren die Wellen, welche haushoch über das vorgelagerte Riff brandeten.
„Da kommen wir niemals durch!“
Er drehte den Kopf zu Matt, der dies gesagt hatte, dann wandte er sich den übrigen Inselbewohnern zu.
„Matt hat Recht! Es ist ja schon gefährlich, bei Tageslicht zwischen den Riffen zu segeln. Aber bei diesen Widrigkeiten ist es absolut unmöglich.“
„Diese Biester werden uns garantiert folgen. Und wer weiß, was für Bestien noch so im Wasser lauern. Ich sage, wir verschwinden von hier, solange wir noch können. Am besten werfen wir die kleine Hexe über Bord. Vielleicht genügt ihnen ja ein Opfer, und sie lassen uns unbehelligt ziehen“, sagte Jon.
„Jetzt reicht es mir aber, Jon! Lass gefälligst meine Tochter zufrieden. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir vorhin Getica verloren“, schimpfte Rion.
„Dann erklär mir mal, warum sie so lange die Luft anhalten kann! Und wie es sein kann, dass sie von einem monströsen Bullenhai ans Boot gebracht wurde?“
Melea presste sich fester an Rion, der schützend seine Arme um sie legte, und flüsterte: „Ich weiß nicht, wieso der Hai das getan hat, Vater. Aber ich bin ganz sicher keine Hexe.“
„Getica war bereits von uns gegangen und …“, brüllte Jon aufgebracht, wurde aber von Adaric unterbrochen. Und der brüllte nicht leiser: „Melea hat meine Gemahlin unter Einsatz ihres eigenen Lebens gerettet. Und wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, uns gegen sie aufbringen zu wollen, dann vergesse ich mich.“
Adaric drückte seine zitternde Frau an sich und ging mit ihr an die Reling.
„Wir beruhigen uns jetzt alle und überlegen, was wir tun können“, sagte Geralt beschwichtigend und fügte hinzu: „Sobald wir hier weg sind und die Gefahren hinter uns gelassen haben, werden wir über alle Geschehnisse sprechen. Aber ganz sicher nicht jetzt.“
„Bis auf Jon hat sich bisher keiner aufgeregt, Geralt. Und wenn es nach ihm geht, ist Melea eine Hexe und der schwarze Mann wahrscheinlich ein Totenbeschwörer, weil er Getica ins Leben zurückgeholt hat“, sagte Respa.
Sie stand bei Melea und tätschelte ihre Hand.
„Hör nicht auf den alten Griesgram, Kindchen! Selbst wenn du eine Hexe wärst, sollte er in Anbetracht der Situation froh darüber sein und hier keinen Aufstand proben. Denn gegen diese Kreaturen werden wir jede Hilfe brauchen, die wir bekommen können.“
„Jetzt reicht’s aber wirklich! Meinst du nicht, meine Kleine hätte genug durchgemacht? Musst du ihre Furcht auch noch weiter schüren?“, regte sich Rion auf.
„Wir sind zwar von der Insel runter, aber noch lange nicht außer Gefahr. Diese Kreaturen können sich im Wasser und an Land fortbewegen. Und was ihre scharfen Krallen und Zähne anzurichten vermögen, sah ich vorhin an meinem Sohn. Auch Geralt und Melea haben ihn gesehen“, blaffte Respa zurück.
Melea ergriff daraufhin Respas Hand und flüsterte:
„Es tut mir so leid, dass wir ihm nicht helfen konnten.“
„Dir muss gar nichts leidtun, Kindchen. Safrax’ Zeit war gekommen, und ich werde ihm bald folgen.“
„Sag so was nicht!“
„Ich kam nur mit euch, weil ihr nicht lockergelassen habt“, sagte Respa.
Geralt kam heran und legte eine Hand auf die Schulter der alten Respa.
„Die Frauen können den Lagerraum nutzen und sich ausruhen. Dort liegen allerhand Decken, und in einer Truhe sind noch einige Kleidungsstücke.“
Matt trat vor und fragte: „Hast du Waffen an Bord, Geralt?“
„Ich glaube, unten sind noch ein paar Speere. Ich werde sie holen, nachdem ich die Frauen einquartiert habe. Also, meine Damen. Folgt mir bitte!“
Geralt öffnete die Luke zum Unterdeck und stieg die steile Treppe hinab. Diese führte in einen dunklen, nach Fisch stinkenden Raum. Eine Weile hantierte er in einer Ecke, bis schließlich das warme Licht einer Öllampe den rechteckigen Raum erhellte. Er hängte die Lampe in eine Halterung unter der Decke, wo sie hin und her pendelte. Respa kam zuerst herein, gefolgt von Livilia, die Getica stützte. Susan trug ihre kleine Tochter auf dem Arm und Matt seinen Sohn, den Abschluss bildete Melea.
Sie blieb unter dem Türrahmen stehen und beobachtete, wie sich die Frauen einfach irgendwo an die Wand setzten und dort still verharrten. Geralt kramte derweil in einer Truhe und brachte einige Kleidungsstücke zum Vorschein. Er legte sie auf eine Hängematte und durchforstete einen Berg mit Hanfsäcken und anderen Sachen, bis er erleichtert aufatmete.
„Ah, da sind sie ja. Komm mal her, Matt.“
Matt nahm einige Kurzspeere entgegen, die sie auch zum Fischen benutzten.
„Verteile sie an die anderen, ich komme gleich nach oben“, sagte Geralt.
Matt ging vor seiner Frau in die Hocke und gab ihr sowie seinen beiden Kindern einen Kuss. Als er an Lea vorbeieilte, bedachte er sie mit einem seltsamen Blick. Das entging Geralt nicht, ebenso wenig wie die furchtsamen Blicke der Frauen, die ebenfalls zu Lea schauten. Nur die alte Respa blickte eher bewundernd auf sie. Geralt seufzte innerlich.
„Macht es euch bequem, dort liegen noch einige Decken“, sagte er.
Er ging zu Lea und lächelte sie aufmunternd an.
„Kommst du bitte mit mir?“
Lea folgte ihm in seine Kajüte, wo sie sich zunächst umsah, nachdem er Licht gemacht hatte. An der Wand vor ihr standen ein Schreibtisch und ein Stuhl. Die rechte Seite füllte ein Bett aus, auf dem einige Felle und Decken lagen, und an der linken Wand stand eine mittelgroße Holztruhe mit Eisenbeschlägen. Der Raum maß vielleicht vier Meter in der Breite und fünf in der Länge, und dementsprechend gab es noch genug Bewegungsfreiheit. Leas Blick fiel auf Geralt, der sich soeben daranmachte, das Schloss der Truhe zu öffnen. Dabei fluchte er leise vor sich hin, bis es endlich aufsprang und er den Deckel anheben konnte. Einen Moment lang kramte er darin und drehte sich schließlich zu ihr um. Er reichte ihr ein längliches Bündel und meinte: „Ich möchte, dass du den an dich nimmst und auch trägst.“
Lea nahm es zögerlich entgegen, öffnete die Verschnürungen und schlug den Stoff zurück. Ehrfürchtig zog sie den langen Dolch aus einer Lederscheide. Diese bestand aus gehärtetem Leder, auf der ein schönes Bild eingebrannt war. Unter einem großen Kirschbaum mit ausladenden Ästen stand ein äsender Hirsch, der sie anzusehen schien. Der Dolch mit der leicht gekrümmten Klinge war ein absolutes Meisterwerk. Geralt bemerkte ihre Faszination und erklärte: „Der Griff besteht aus Hirschhorn, und die Klinge wurde aus Zwergen-Erz geschmiedet. Was die Schriftzeichen auf der Klinge bedeuten, kann ich dir leider nicht sagen. Das musst du selbst herausfinden, er gehört dir.“
Lea bestaunte immer noch den Dolch, der so lang war wie ihr Unterarm. Die Klinge schimmerte blaugrau und war rasiermesserscharf, wie sie leider rasch feststellte. Sie schob sich den blutenden Daumen in den Mund und Geralt nahm ihr den Dolch aus der Hand, um ihn in die Scheide zurückzustecken.
„Dass er sehr scharf ist, brauche ich dir ja jetzt nicht mehr zu erklären“, sagte er lächelnd.
Er nestelte an den Riemen herum, die an der Scheide befestigt waren, und deutete auf ihr Bein.
„Darf ich?“
Lea nickte und beobachtete, wie er den Dolch seitlich an ihrer rechten Wade festband.
„Ich würde dich gerne etwas fragen.“
Geralt erhob sich und sah in ihre moosgrünen Augen, in denen die winzigen goldenen Sprenkel im Licht der Öllampe funkelten.
„Dann frag“, sagte Lea nach einigen Herzschlägen, da ihr sein durchdringender Blick unangenehm wurde.
„Mich würde interessieren, wie du das mit dem Hai angestellt hast.“
Lea seufzte leise.
„Wenn ich das selbst begriffen habe, werde ich es dir erklären.
Versprochen.“
Geralt sah sie noch einen Moment forschend an, nickte dann und wandte sich wieder seiner Truhe zu. Er nahm noch einige Bündel heraus, die er auf den Schreibtisch legte. Dann kam er wieder auf Lea zu.
„Darf ich mal?“
Er zog sie in den Raum hinein, da sie nach wie vor im Durchgang stand, und schloss die Tür. An der Wand dahinter hing eine Schwertscheide mitsamt Schwert. Er nahm es herunter und legte es sich um.
„Lea, ich möchte, dass du hier bleibst und zumindest versuchst, etwas zu schlafen. Du kannst dich hier wie zu Hause fühlen.“
Er schob sie zum Bett, bis sie sich zwangsläufig darauf setzen musste, und hockte sich vor sie.
„Und mach dir bitte keine Gedanken um die anderen, sie werden sich schon wieder beruhigen. Ich meine, nun ja … wann sieht man schon mal eine junge Frau, die anscheinend mit einem ausgewachsenen Bullenhai befreundet ist? Und sich auch noch mit diesem unterhält. Mir ist fast das Herz stehengeblieben. Aber du hast Getica das Leben gerettet, und das haben sie auch gesehen. Glaube mir, die Vernunft wird siegen. Sie werden aufhören, dich so anzusehen.“
Er streichelte sanft über ihre Wange.
„Ich muss jetzt nach oben, bitte schlaf ein wenig.“
Geralt erhob sich, drückte Lea einen Kuss auf die Stirn und nahm die Sachen vom Tisch.
„Danke“, sagte sie leise.
„Du musst mir nicht danken.“
„Geralt?“
Er wandte den Kopf zu ihr.
„Ja?“
Ihre Stimme bebte leicht.
„Dieses Wesen, das Getica und mich töten wollte …“
Geralt sog scharf die Luft ein und unterbrach sie.
„Was denn für ein Wesen?“
„Es hatte Getica über Bord gezogen, und ich bin ihr daraufhin hinterhergesprungen.“
Geralt hockte sich wieder vor sie und legte die Bündel zur Seite.
„Bei den Göttern! Ich dachte, sie wäre aus dem Boot gefallen und durch die Strömung unter Wasser gezogen worden?“
„Dieses Wesen … es hatte lange Fangarme, wie die eines Kraken.“
„Du meinst, ein Riesenkalmar hat sie aus dem Boot geholt?“
Lea schüttelte den Kopf und schloss die Augen, während sie zitternd durchatmete.
„Was dann?“
„Du wirst mir wahrscheinlich nicht glauben. Ich kann ja selbst kaum glauben, was ich da unten gesehen habe.“
„Natürlich werde ich dir glauben. Also, erzähl! Was ist passiert?“
„Ich tauchte Getica hinterher und bekam ihre Hand zu fassen. Doch als ich sie zu mir ziehen wollte, durchfuhr ein heftiger Ruck meinen Arm, und ich wurde mit ihr in die Tiefe gezogen. Dabei fiel mir auf, dass sich irgendwas um ihre Körpermitte gewickelt hatte. Es leuchtete fahl, und ich zog mich heran, um danach zu greifen. Aber meine Hände rutschten ständig daran ab. Ich dachte noch, dass es wie ein Fangarm aussah, als sich auch schon einer um mein Handgelenk wickelte. Ein stechender Schmerz schoss daraufhin durch meine Hand, bis in die Schulter hinauf. Ich ließ Geticas Hand los und versuchte, den glitschigen Fangarm von meinem Handgelenk zu lösen, was allerdings höllisch wehtat. Tja, und dann sah ich den Angreifer.“
Erneut schloss Lea die Augen, und Geralt ergriff ihre zitternden Hände, als sie leise weitersprach.
„Ich bekam allmählich Atemnot, trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden. Das Wesen besaß silbergraue, fahl leuchtende Haut. Vom Stirnansatz bis weit über den Rücken hatte es eine stachelige Rückenflosse. Drei große hellblaue und lidlose Augen starrten mich an, sie befanden sich auf der Stirn des Wesens. Es hatte ein vor Zähnen starrendes Maul, drei Fangarme an jeder Körperseite, und von der Hüfte abwärts folgte eine Schwanzflosse.“
Sie blickte kurz auf und fragte: „Du kennst doch das alte Buch von Vater? Das mit den Mythen und Sagen?“
Geralt konnte nur nicken, da sein Mund und der Hals staubtrocken waren.
„Dann hast du bestimmt die Zeichnung von der Nixe darin gesehen.“
Erneut nickte er.
„So eine Schwanzflosse hatte das Wesen auch.“
Lea starrte nach unten auf seine Hände, die ihre hielten.
„Wie konntet ihr euch befreien?“, fragte er heiser.
„Gar nicht! Dieses Wesen wollte uns töten, und ich bekam Panik, als Getica jegliche Gegenwehr einstellte. Ich sah dem Wesen in die Augen und flehte in Gedanken, dass es uns freigeben soll. Dabei zerrte ich an meiner Hand, so lange, bis es den Kopf schieflegte und mich ganz überrascht ansah. Dann wiegte es den Kopf hin und her, als wenn es überlegen würde, und wieder sagte ich in Gedanken: ‚Lass uns los!‘
Daraufhin entblößte es seine spitzen Zähne zu einem grausigen Grinsen und schüttelte langsam den Kopf.“
„Warte mal! Meinst du etwa, es hat dich verstanden?“
„Ich weiß, wie sich das anhören muss, aber es ist so geschehen. Und nach dem, was Mo mir heute Nachmittag erzählt hat …“
Sie schüttelte leicht den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Was erzählte er dir denn?“
„Am besten fragst du ihn selbst. Ich kann nicht in Worte fassen, was er mir alles sagte.“
„Das werde ich, aber jetzt erzähl erst mal weiter.“
„Meine Muskeln verkrampften bereits, und ich schloss innerlich schon mit meinem Leben ab. Ich dachte: Wieso hilft uns denn keiner? Und einen Herzschlag danach war plötzlich der Druck um mein Handgelenk fort. Ich griff hastig nach Getica, da es plötzlich dunkler wurde. Und im letzten Schimmern, das die Haut des Wesens abgab, sah ich den oberen Teil seines Körpers. Dieser schwebte langsam in die Tiefe. Ich befreite Getica eilig von dem Fangarm, da er sie weiterhin umschlossen hielt und uns mit hinab zog. Dabei sah ich den unteren Teil des Wesens, es war in der Mitte zerteilt worden. Darüber war ich so erschrocken, dass ich das letzte bisschen Sauerstoff verlor. Und wenn in dem Moment nicht der Hai gekommen wäre, säßen Getica und ich nicht auf deinem Schiff. Er umrundete mich, bis ich mich an seiner Rückenflosse festhalten konnte. Dann brachte er uns an die Oberfläche und schließlich zum Boot.“
Leas Augen füllten sich mit Tränen, als Geralt vorsichtig ihren Ärmel hochschob und die Wunden an ihrem Handgelenk begutachtete. Zu sehen waren Abdrücke von Saugnäpfen, in deren Mitte es aus kleinen Löchern blutete.
Geralt war entsetzt und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war nicht so, dass er ihr keinen Glauben schenkte. Er selbst war völlig durch den Wind – was kein Wunder war nach den seltsamen Dingen, die er heute beobachtet hatte.
„Alles hatte mit dem Aufziehen des Unwetters begonnen“, überlegte er. Dieses drohte heftig zu werden, weshalb die Bewohner der Insel beschlossen hatten, sich in eine Schutzhöhle im Gebirge zurückzuziehen. Er war mit den anderen vorausgegangen, während Rion nochmal in ihre Bucht zurückgekehrt war, um die Häuser abzusichern und nach Lea zu suchen. Nach einem heftigen Streit zwischen Rion und ihm war sie wütend davongelaufen. Laut Adaric und Getica hatte Lea vor, bei Mowanye unterzukriechen, der eine Höhle im Gebirge bewohnte. Doch ihr Vater wollte sichergehen, dass sie nicht vielleicht doch zum Haus zurückgekehrt war.
Sie weilte jedoch tatsächlich bei Mowanye, wie Geralt feststellte, als er an dessen Höhle vorbeikam. Dies war auf dem Weg zu einer Klippe, wo er sich einen Überblick über den aufziehenden Sturm verschaffen wollte. Und was er dort zu sehen bekommen hatte, bescherte ihm jetzt noch eine Gänsehaut. Durch die düsteren Wolkenmassen wirkte das tobende Meer fast schwarz, und hinter dem vorgelagerten Riff der Insel leuchtete ein Areal von mindestens einhundert Schritten Durchmesser.
Giftgrün. Das Licht drang aus der Tiefe herauf, und er konnte große Schatten erkennen, die sich darin bewegten.
Nachdem es plötzlich verschwunden war, eilte er zu Mowanyes Höhle, um Lea abzuholen. Sie war nicht weniger durcheinander als er selbst. Doch auf die Frage, was der Schamane mit ihr besprochen hatte, erhielt er keine Antwort. Allerdings bekam er eine Antwort auf seine Frage, ob die Lichterscheinung nur seiner Einbildung entsprungen war, als Rion bei der Schutzhöhle eintraf. Denn er berichtete ihm, was er vom Strand aus beobachtet hatte. Es waren eben diese Lichter gewesen.
Daraufhin gab es endlose Diskussionen mit den übrigen Bewohnern, vor allem Jon schenkte ihnen keinen Glauben. Trotzdem kamen sie irgendwann überein, die Männer in zwei Gruppen aufzuteilen. Die erste, bestehend aus Rion, Jon und Matt, übernahm die erste Wache an der Klippe. Doch bevor Rion ging, kam es zu einem kleinen Streit zwischen ihm und Lea, da sie unbedingt nochmal zu Mo wollte, was er ihr ausdrücklich verbot. Und nachdem Rion fort war, versuchte er alles, um Lea davon abzuhalten. Aber er war nun mal nicht ihr Vater, und im Gegensatz zu Rion vertrat er die Meinung, dass Lea alt genug sei, um zu wissen, was sie tat. Und so kam es, dass er sie zu Mo begleitete. Auch jetzt noch, im Nachhinein, wehrte sich sein Verstand dagegen zu glauben, was dort geschehen war. Denn als sie ankamen, stand der Schamane inmitten des Lagerfeuers, und um ihn herum tanzten tropfenförmige Flammen.
Auch Lea dachte an das Ritual, mit dem Mo seine Ahnen beschworen hatte.
Klar und deutlich sah sie sein Gesicht vor sich, verzerrt zu einer unmenschlichen Grimasse. Der Mund geöffnet, als würde er einen stummen Schrei von sich geben, und die Augen verdreht, sodass man nur das Weiße sah. Die Flammen, in denen er stand, besaßen ein bizarres Eigenleben. Sie tanzten um seinen Körper herum, und Lea meinte, Gesichter erkennen zu können.
Furcht und Faszination lösten sich mit jedem Lidschlag ab. Sie hatte nicht auf Geralt gehört, der sie anbrüllte, zurückzukommen, als sie in die Höhle hineingelaufen war. Kaum war sie drinnen, veränderten sich die Flammen. Einzelne lösten sich von Mowanye und der Feuerstelle, in der er stand. In dem Moment wurde Lea klar, dass es sich tatsächlich um flammende Gesichter handelte, denn sie wurde von glimmenden Augenpaaren angestarrt. Die Mehrzahl der Flammen umkreiste weiterhin Mo, wurde dabei immer schneller und drang dann fauchend in seinen Mund, die Nase und die Ohren ein. Lea erwachte aus ihrer Starre aus Faszination und Furcht, da Mowanye plötzlich zusammenbrach. Doch Geralt hielt sie fest, als sie zu ihm wollte. Die Angst um den Schamanen und dass er verbrennen könnte gab ihr die Kraft, sich loszureißen. Aber dann waren es die Flammenwesen, die sie abhielten, zu Mo zu gelangen. Wie zuvor den Schamanen umkreisten sie nun Lea, und eines der Wesen verharrte direkt vor ihrem Gesicht.
Lange Feuerhaare umrahmten das Antlitz einer Frau. Ihre Augen glühten wie glimmende Kohlen, und Lea spürte jetzt noch den Blick, der bis in ihr tiefstes Inneres reichte und anscheinend ihre Seele in Augenschein nahm.
Im Augenwinkel hatte sie gesehen, wie Mo sich aufrichtete. Seine dunkle Haut glänzte vom Schweiß, der in Bächen über seinen Körper floss. Lea musste mehrmals seinen Namen flüstern, bis er völlig entsetzt zu ihr sah. Sofort sprach er seltsame Worte in einer Sprache, die Lea nicht zuordnen konnte.
Nach und nach schwebten die Wesen zum Lagerfeuer zurück und verschmolzen mit den Flammen. Nur eines blieb zurück – das vor ihrem Gesicht.
Mit Verwunderung dachte Lea daran, dass es keinerlei Hitze verströmt hatte, und mit Schrecken an den Umstand, dass sich dieses Wesen nun irgendwo in ihrem Körper versteckte. Sie sah das Lächeln der Frau vor ihrem inneren Auge, bevor diese urplötzlich auf sie zuschoss. Lea stolperte und stürzte auf den Rücken, was zur Folge hatte, dass sie durch den offenen Mund die Luft einzog. In dem Moment verschwand das Wesen fauchend darin.
2
„Geralt?“
Lea und er zuckten erschrocken zusammen, als der laute Ruf sie aus ihren Gedanken riss.
„Ich komme“, rief Geralt zur Tür und wandte sich Lea zu.
„Du wirst dich jetzt hinlegen. Ich schicke dir gleich Mo runter, damit er sich die Verletzungen ansehen kann. Wir reden später weiter, ich muss oben nach dem Rechten sehen.“
Lea sah noch eine Weile zur offenstehenden Tür, bis sie schließlich aufstand und diese schloss. Sie wühlte im Seesack, den sie vorhin in aller Eile gepackt hatte, und zog trockene Sachen an.
Unschlüssig, ob sie sich wirklich einen Moment lang hinlegen sollte, starrte sie anschließend das Bett an. Dann seufzte sie leise und setzte sich auf die Kante. Mit einer Hand strich sie über ein besonders dickes graues Fell, das wohl mal einem Wolf gehört hatte, und kroch darunter. Erschöpft, wie sie war, dauerte es auch nicht lange, bis sie einschlief.
Im Traum lief Lea wieder durch den Höhlengang. Für einen kurzen Moment wunderte sie sich, da sie dieser Traum vor ein paar Stunden schon einmal ereilt hatte. Und auch diesmal war sie sich völlig darüber im Klaren, zu träumen. Mehrere Gänge zweigten von diesem Gang ab, aber sie lief weiter, bis sie in die große Höhle gelangte. Eine Vielzahl von Geräuschen drang zu ihr, es war ihr jedoch nicht möglich zu erfassen, woher diese stammten.
Sie vernahm Gesprächsfetzen. Die fremdartigen Worte wurden von knurrenden und schmatzenden Lauten begleitet. Und wie zuvor bekam Lea eine Gänsehaut. Sie fragte sich: „Was ist das nur für ein seltsamer Ort hier?“
Sie stand noch immer im Höhleneingang und wurde nun von irgendetwas angerempelt. Erschrocken blickte sie sich um, konnte aber nichts entdecken. Allerdings hörte sie etwas, und zwar direkt neben sich. Die Geräusche erinnerten stark an einen witternden Hund, weshalb sie langsam zurückwich. Und als sich ein furchteinflößendes Knurren hinzugesellte, veranlasste dieses sie, sich gehetzt umzusehen.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle entdeckte sie einen weiteren Gang, und plötzlich erfasste sie das Gefühl, unbedingt dorthin zu müssen.
Eilig und so leise wie möglich durchquerte sie die große Höhle, stolperte aber einige Male über Dinge, die sie nicht sah. Das Knurren und Wittern verfolgte sie und war beständig hinter ihr. Dennoch blickte sich Lea weiterhin um, wobei sie versuchte, sich einzureden, dass dies nur ein Traum sei und ihr nichts geschehen könne.
Zu ihrer Linken erhob sich ein großes Podest. Sieben Stufen führten dort hinauf, wobei diese für einen Riesen gemacht zu sein schienen. Sie waren einen halben Meter hoch und gut zwei Meter tief.
Lea blieb stehen und betrachtete den riesigen Thron, der sich auf dem Podest erhob. Dieser bescherte ihr abermals eine Gänsehaut. Furcht kroch in ihr hoch, nicht nur wegen der enormen Ausmaße des Throns. Es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen Sessel. Dieser schien aus braunem und zähem Schlamm zu bestehen, und immer wieder entdeckte sie eine Bewegung unter der seltsamen Masse – als ob sich etwas aus dem Inneren befreien wollte.
Lea machte schon einen Schritt in Richtung der Stufen, als das Knurren unmittelbar hinter ihr ertönte. Sie dachte nicht nach, als sie losstürmte und in den Gang hineinlief, den sie von der anderen Seite gesehen hatte. Der war allerdings nicht sehr lang, und ihr blieb kurz das Herz stehen, bis sie an der rechten Seite eine schwarze Eichentür erblickte. Diese stand einen Spalt offen, und sie schlüpfte leise hindurch. Wieder stand sie in einer großen Höhle, doch diese war offensichtlich bewohnt.
Die hintere Wand konnte sie bei dem dämmrigen Licht, das hier herrschte, nur erahnen. Links von ihr standen mehrere Regale an der Wand, die mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft waren. Zu ihrer Rechten stand ein monströser Tisch, der Platz für zehn schwere Eichenstühle bot. Diese hatten Rückenlehnen, hinter denen sie sich problemlos hätte verstecken können, und die Sitzflächen boten Platz für zwei ausgewachsene Männer.
Lea konnte sich keine Wesen vorstellen, die Verwendung für solche Möbel gehabt hätten, und dachte erleichtert: „Dies ist definitiv nur ein Traum. Und wenn ich gleich aufwache, wird sich herausstellen, dass auch alles andere bloß ein böser Traum gewesen ist.“
Sie ging lächelnd an den Regalen vorbei, bis diese endeten und Wandteppichen und Gemälden Platz machten. Dort verschwand ihre Zuversicht mit einem Schlag, und sie betrachtete angewidert einige Bilder. Darauf waren Menschen mit abgehackten Gliedmaßen zu sehen, die mit weit aufgerissenen Mündern den Betrachter anstarrten und darauf warteten, von der dunklen Gestalt, die sich auf allen Gemälden wiederfand, endlich erlöst zu werden. Mit flauem Magen kehrte sie der Wand den Rücken, und ihr Blick fiel sofort auf einen steinernen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Auf diesem stand eine Öllampe, die einzige Lichtquelle in dieser Höhle. Lea starrte den Stuhl an, der ebenfalls über eine sehr hohe Rückenlehne verfügte, und ein seltsames Gefühl überkam sie.
Wie von selbst bewegten sich ihre Beine langsam voran, als ob sie magisch angezogen würden. Und Lea fragte sich noch, ob dort wohl jemand saß. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, ertönte eine tiefe Stimme.
„Ich habe befohlen, mich nicht zu stören!“
Abrupt blieb sie stehen und sah den Mann erschrocken an, der urplötzlich vor dem Schreibtisch stand. Er trug einen schweren Ledermantel mit einer Kapuze über seinem Kopf.
Mit einem leisen Knurren ging er knapp an ihr vorbei zur Tür, wobei er sie nicht zu bemerken schien.
„Verzeiht, Meister! Ich bin einer Spur gefolgt, die mich hierher führte.“
„Und, siehst du hier jemanden außer mir?“, fragte der Mann erbost.
Kleinlaut antwortete der andere.
„Nein, Herr. Aber ich bin mir sicher, dass mich meine Nase nicht täuscht.“
Melea konnte ihn nicht sehen, ging aber davon aus, dass es sich um ihren knurrenden Verfolger handelte. Ein wütendes Knurren war nun zu hören, was wiederrum von dem Mann stammte, und er sagte grollend.
„Ich werde deine Nase gleich abschneiden und dir als Nachtmahl zubereiten, wenn du nicht augenblicklich verschwindest.“
Meleas Verfolger winselte leise.
„Ja, Meister, ich bin schon weg.“
Der Kapuzenmann warf die Tür ins Schloss und kehrte langsam in die Höhle zurück. Dabei fiel Lea seine Statur auf. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Der Mann war größer und breiter als Geralt, und der maß bereits knapp zwei Meter. Hinter dessen breitem Kreuz hätte sie sich zweimal verstecken können.
„Wieso kann ich ihn sehen, aber den anderen nicht? Und warum sieht er mich nicht?“, fragte sich Lea unbehaglich.
Als er auf ihrer Höhe war, überkam sie plötzlich ein unbeschreibliches Gefühl der Furcht. Unwillkürlich wich sie zurück. Doch sie hielt mitten in der Bewegung inne, da der Mann abrupt stehenblieb und seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Lea konnte nur die Kinnpartie und den Mund sehen, da der Rest des Gesichtes im Schatten der Kapuze verschwand. Sie spürte, dass er sie anstarrte. Leise knurrend wandte er sich zu ihr, und Lea hielt den Atem an. Ganz langsam wich sie zurück und erstarrte erneut, als sie ihren Schatten entdeckte, der bis zur gegenüberliegenden Höhlenwand reichte. Erschrocken blickte sie auf, genau in dem Moment, als sich eine Hand um ihren Hals schloss. Prompt verlor sie den Boden unter den Füßen und krachte mit dem Rücken gegen eine Wand.
„Wer bist du? Zeig dich!“
Lea strampelte wild mit den Beinen und versuchte, ihre Finger unter die Hand des Mannes zu zwängen, um den Griff um ihren Hals zu sprengen.
„Zeig dich“, herrschte er sie erneut an.
Seine Stimme erschien Lea wesentlich dunkler als vorhin. Aber das rückte in den Hintergrund, da sie vergeblich nach Atem rang. Sie ging dazu über, nach ihm zu schlagen. Dabei wischte sie ihm die Kapuze vom Kopf, und beim nächsten Schlag fing er ihre Hand ab. Verwundert meinte er: „Das sind keine Männerhände.“
Er ließ ihre Hand los und betastete ihren Körper, worauf Lea reflexartig reagierte und ihm eine schallende Ohrfeige verpasste. Knurrend setzte er sie auf dem Boden ab und umfasste jetzt mit beiden Händen ihren Kopf. Währenddessen hustete Lea würgend und krallte sich an seinem Mantel fest, im verzweifelten Versuch, Atem zu schöpfen. Ihr Zustand schien ihn jedoch nicht zu interessieren. Er riss brutal an ihren Haaren und zwang so ihren Kopf in den Nacken.
„Sieh in meine Augen“, herrschte er sie an.
Lea keuchte erschrocken auf, als sie dies tat und seine pechschwarzen Augen sah, in denen es kein Weiß gab.
„Zeig dich!“, befahl der Mann wieder.
Ein heftiges Ziehen hinter ihrer Stirn machte sich bemerkbar, und sie hörte ihn plötzlich in ihrem Kopf. Sie vernahm düstere und fremdartige Wörter, die ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten. Außerdem hallten die Worte in ihrem Inneren seltsam nach, und ihr wurde auf einmal heiß. Mit zittrigen Fingern krallte sie sich wieder an ihm fest, da sie das Gefühl hatte, die Besinnung zu verlieren.
„Bitte, hört auf“, keuchte Lea.
Sie hörte ihn wieder knurren, und seine Augen weiteten sich minimal, bevor er sagte: „Grüne Augen? Wer bist …“
„Lea, so wach doch auf!“
Verzweifelt rüttelte Mo an ihren Schultern, bis sie plötzlich hochschreckte und zuschlug. Trotz blutender Nase rappelte sich Mo direkt wieder auf, da ihn dieser Schlag zu Boden geschickt hatte, und ergriff hastig Leas Handgelenke.
„Beruhige dich, Lea! Es war nur ein Traum!“
Sie atmete hektisch und blickte sich panisch um.
„Wo ist er?“
„Wer?“
„Der Mann mit dem schwarzen Mantel! Er hat mich fast umgebracht!“
„Hier ist niemand, du hattest bloß einen bösen Traum.“
„Es war so wirklich, Mo! Ich rieche ihn noch, er hatte einen seltsamen Geruch an sich.“
Sie befreite ihre Hände und rieb über ihre Oberarme, als wäre ihr kalt.
„Was ist denn los?“, fragte Respa von der Tür.
„Wir haben etwas poltern gehört.“
Mo verzog das Gesicht, als er zur Tür sah.
„Es ist alles in Ordnung, Lea hatte nur einen Alptraum.“
Respas Blick fiel auf Lea.
„Sie sieht nicht so aus, als wäre alles in Ordnung.“
Sie betrat den Raum und setzte sich auf die Bettkante.
Die Alte betrachtete besorgt Leas Gesicht und blickte zu Mo auf. Der saß mittlerweile auf dem Schreibtisch und rieb mit tränenden Augen über seine Nase. Respa schmunzelte und drückte Leas Hand.
„Erzähl mir von deinem Traum, Kindchen.“
Beim Gedanken an die schwarzen Augen bekam Lea eine Gänsehaut. Sie begann zu zittern. Mo bemerkte das beunruhigt.
„Nun lass sie doch in Ruhe, alte Hexe. Du siehst doch, dass sie im Moment nicht darüber sprechen möchte.“
Respa funkelte ihn wütend an.
„Ich glaube nicht, dass dich jemand gefragt hat, schwarzer Mann.“
Lea hob beschwichtigend ihre freie Hand.
„Ist schon gut, Mo.“
Tief durchatmend schloss sie für einen Moment die Augen und erzählte dann von ihrem Traum und ihren Eindrücken. Stockend berichtete sie von dem Mann und bemerkte die erschrockenen Blicke, die sich die beiden zuwarfen. Nachdem sie geendet hatte, herrschte zunächst angespanntes Schweigen, bis Lea es nicht mehr aushielt.
„Was ist denn los mit euch?“
Mo räusperte sich.
„Lea, es war tatsächlich mehr als ein Traum.“
Respa nickte zustimmend.
„Da muss ich ihm leider Recht geben, mein Kind.“
Lea schaute entgeistert von Mo zu Respa.
„Was sagt ihr da? Was soll das heißen?“
Nach diesen Worten hob sie abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
„Ich will es eigentlich gar nicht hören. Das ist doch alles völlig verrückt.“
Die beiden hatten Recht, das wusste Lea. Schon während des Traums war sie sich darüber im Klaren gewesen, dass etwas nicht stimmte. Alles wirkte zu real. Allein der Gedanke, dies wirklich erlebt zu haben, ließ sie schaudern.
Respa beobachtete Lea und spürte ihre innerliche Unruhe. Nach einem kurzen Blick zu Mowanye, der ihr auffordernd zunickte, atmete sie tief durch und ergriff erneut Leas Hand.
„Deiner Beschreibung nach handelt es sich bei dem Mann um einen von Torgulas’ Söhnen. Man nennt ihn den Dunklen. Er hat etwas mit deiner Zukunft zu tun, Lea.
Bisher weiß ich jedoch nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Du weißt doch, wer Torgulas ist, nicht wahr?“
Lea sah sie furchtsam an.
„Sein Reich befindet sich an den Windschattenbergen, weit im Norden und direkt an der Grenze zur Elfenbarriere. Angeblich ist er ein Halbgott, aber wieso sollte sein Sohn etwas mit meiner Zukunft zu tun haben?“
„Nicht angeblich, mein Kind! Torgulas ist Devoradors Sohn, ein Halbgott und äußerst mächtig. Aber für uns ist nur eines wichtig, er verfügt über eine riesige Armee“, klärte Respa sie auf.
Mo kam zu ihnen herüber und setzte sich neben Lea aufs Bett. Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Respa spricht wahr! In einem Ahnenritual wurde mir offenbart, dass die Menschen nur mit Torgulas’ Armee eine Chance haben, diesen fremden Wesen zu trotzen und sie zurückzuschlagen. Die Feuerahnen zeigten mir außerdem, dass du in Mesura eine Aufgabe erfüllen musst, Lea. Es wird ausschließlich von dir abhängen, ob sich die geeinten Reiche mit Torgulas verbünden werden. Auch den Halbgott musst du dazu bewegen, seine Armee gegen die fremden Kreaturen aufs Schlachtfeld zu schicken. Und das wird der schwierigere Teil, denn er hasst die Menschen und würde mit Freuden dabei zusehen, wie wir vernichtet werden.“
Lea sah erst Mo und dann Respa sprachlos an.
„Die Geister zeigten mir fast das Gleiche. Als Erstes musst du die Königin von Mesu von der bevorstehenden Bedrohung überzeugen. Es ist erforderlich, dass sie den Herrscherrat einberuft. Sie muss Nachrichten an die anderen Königreiche und zu Torgulas senden, das ist vorerst das Wichtigste.“
Lea hätte fast laut aufgelacht. Es beschlich sie jedoch das ungute Gefühl, dass die beiden ernst meinten, was sie sagten.
„Ihr sprecht von Armeen, von einem bevorstehenden Krieg gegen Wesen, von denen ich gerade mal eines zu Gesicht bekommen habe. Und mal abgesehen davon, dass ich dies ganz sicher nicht tun werde. Wie sollte ausgerechnet ich die Könige sämtlicher Reiche von einer Bedrohung überzeugen, von der wir überhaupt noch nichts wissen? Ihr seid doch völlig irre!“
„Leider ist es so, wie Respa sagt. Unsere Visionen haben anscheinend den gleichen Inhalt, und somit ist ein Irrtum ausgeschlossen“, sagte Mo.
Leas Augen weiteten sich ungläubig. Stockend fragte sie: „Aber … was haben euch diese Visionen denn genau gezeigt?“
Mo blickte sie abschätzend an und nickte schließlich.
„In Ordnung, Lea. Ich gebe dir eine Kurzfassung von zwei meiner Visionen.
In der ersten sah ich dich in Gesprächen mit der Königin von Mesu und ein paar anderen Herrschern. Zudem wirst du anwesend sein, wenn der Herrscherrat stattfindet. Daraufhin zeigten mir die Ahnen die schwarze Armee des Nordens, die sich mit uns verbündet hatte. In der zweiten Vision kamst du nicht vor, Lea. Die geeinten Reiche und auch Torgulas’ Reich wurden vom Feind überrannt. Und diese zweite Vision lässt nur einen Schluss zu: Nur du allein bist befähigt, den Rat von einem Bündnis zu überzeugen!“
Lea schüttelte heftig den Kopf.
„Ausgerechnet ich soll die Herrscher von einem Bündnis überzeugen, und dann auch noch Torgulas? Ihr seid wirklich verrückt geworden! Wie soll ich das denn anstellen? Ich bin nur eine Fischerstochter! Und dann dieser Mann vorhin. Du sagst, er habe etwas mit meiner Zukunft zu tun. Jetzt mal ganz ehrlich! Ich habe nicht den Drang, ihm nochmal zu begegnen. Der hat mich in dem Traum fast erwürgt. Und dass du mich in deiner zweiten Vision nicht gesehen hast, könnte auch den Schluss zulassen, dass es ihm beim nächsten Mal gelingt.“
Respa und Mo sahen sich vielsagend an.
„Wir können nur darüber spekulieren, was es mit ihm auf sich hat. Aber eines ist sicher: Du wirst mit ihm zusammentreffen. Und es war kein Traum, Lea, du warst tatsächlich dort. Zwar nicht körperlich, aber er hat dir trotzdem schaden können. Sieh dir deinen Hals an, auf dem Tisch liegt ein Spiegel“, sagte Respa. Unwillkürlich hob Lea ihre Hände an den Hals und verspürte sofort Schmerzen, die sie bislang erfolgreich verdrängt hatte. Dennoch stand sie auf, schnappte sich den Spiegel und starrte auf die geröteten Fingerabdrücke, die ihren Hals zierten.
„Ich brauche frische Luft“, keuchte sie.
Der Spiegel entglitt ihrer zittrigen Hand und polterte zu Boden. Dann verließ sie fluchtartig die Kajüte und rannte die Stufen zum Deck hinauf.
Mo sah nachdenklich zur Tür.
„Ich befürchte, das wird alles zu viel für sie. Lea versucht, das Erlebte zu verdrängen, was auch kein Wunder ist. Wir hätten sie viel früher einbeziehen müssen. Dies alles an einem Tag zu erfahren, und dann auch noch ihre Erlebnisse. Und da spreche ich nicht nur von der Flucht. Lea kam schon völlig aufgelöst zu mir, bevor der Sturm losbrach. Dem Hai begegnete sie heute Abend nicht zum ersten Mal.“
Seufzend schüttelte er den Kopf, bis Respa sprach.
„Ja, und dabei weiß sie noch nicht einmal alles. Und ich denke, das ist auch besser so. Es ist noch zu früh! Wir müssen warten, bis sich weitere Attribute zeigen.“
„Sehe ich auch so. Derzeit hat sie genug zu verarbeiten.“
„Stimmt es, dass Rion sie geschlagen hat?“
„Ja, aber es ist nicht wie du denkst. Es war Sorge, die ihn dazu verleitet hat“, sagte Mo.
Respa ergriff sein Handgelenk.
„Zu ihrem Wohl sollten wir versuchen, miteinander zu arbeiten. Wir müssen sie beschützen, auch vor ihrem besorgten Vater.“
Mo nickte überrascht, denn bisher waren Respa und er stets uneinig gewesen, was Melea betraf. Dennoch war er gespannt auf die Zusammenarbeit mit der Hexe.
„Zunächst sollten wir uns über unsere Visionen austauschen. Sie ähneln sich zwar, aber ich möchte ausschließen, dass wir etwas übersehen oder sogar falsch deuten“, meinte Respa.
Mo ging zur Tür und schloss diese.
„Also gut, Respa. Aber zuvor sollte ich dir vom Untergang meiner Heimat berichten.“
„Was hat das mit Melea zu tun?“
„Deine Visionen handeln nicht nur von ihr, sondern auch von einem feindlichen Heer, das sich erhebt. Einem Heer, wie man es in unserer Welt noch nie gesehen hat. Nicht wahr?“
Die Alte nickte nur, woraufhin Mowanye den Stuhl heranzog und sich vor sie setzte.
„Diese Kreaturen sind bereits seit etlichen Jahresumläufen in der bekannten Welt. Sie haben meine Heimat überrannt, und ich überlebte als Einziger.“
„Was sagst du da?“
„Es begann in meiner Heimat, einer kleinen Inselgruppe weit im Süden. Mein Volk lebte auf der größten Insel, wir nannten sie Ruls. In der Mitte der Insel erhob sich ein großer Berg, der ab und an Feuer spie. Und wenn dies geschah, flüchteten wir auf eine der drei kleineren Inseln, die Ruls umgaben. Denn mit den glühenden Feuerströmen kamen auch andere Gefahren, aber dazu später mehr.“
„Was interessieren mich die Gefahren eines Vulkans? Wir haben wahrlich andere Probleme.“
„Sie werden dich garantiert interessieren, weil Melea einen meiner Feuerahnen in sich trägt und ich in einer Vision sah, dass ich ihr etwas geben muss.“
„Einen was?“
Mo seufzte anhaltend.
„Unterbrich mich nicht ständig, und du wirst es heute noch erfahren. Ansonsten sitzen wir wahrscheinlich morgen noch hier.“
„Dann rede nicht um den heißen Brei herum“, maulte sie.
„Unser Dorf befand sich in der Nähe eines langen Sandstrandes. Ich war damals etwa so alt wie Melea heute. Alles nahm seinen Anfang mit einem aufziehenden Unwetter und seltsamen Lichtspiegelungen im Meer.
Unser Oberhaupt rief die Schamanen und Ältesten der Insel zusammen, um ein Ahnenritual durchzuführen. Ich war ebenfalls dort, denn ich war bei einem Schamanen in der Ausbildung.“
„Oh je, die Arbeit hätte er sich sparen können.“
Mo räusperte sich ungehalten, sprach aber weiter.
„Unser Dorf besaß vier Schamanen, und jeder von ihnen stand für ein Element: Wasser, Luft, Erde und Feuer. Höchst selten beherrschte ein Schamane zwei Elemente, und noch nie kam es vor, dass jemand drei oder vier in sich vereinen konnte. Da ich ein Schüler war, durfte ich nur beobachten. Mein Element war das Feuer, und so hatte sich mein Augenmerk vorerst auf den Feuerschamanen gerichtet. Aber ich spürte auch eine Verbundenheit zu den anderen Elementen, daher schaute ich auch den übrigen Schamanen über die Schultern.
Wenn alle Elemente gerufen wurden, führten wir die Rituale am Strand aus.
Das Ahnenritual war etwas Besonderes und wurde nicht sehr oft durchgeführt. Die Schamanen riefen dabei die Seelen unserer Verstorbenen und baten sie um Hilfe.“
„Was hat das mit den Elementen zu tun?“
„Wir glauben, dass nach dem Tod unsere Seele in einem dieser Elemente wartet, bis sie schließlich wiedergeboren wird.“
„Die Geister, welche ich rufe, um Visionen zu erhalten, haben absolut nichts mit den Elementen zu tun. Und sie sind ebenfalls Ahnen von irgendwem.“
Mo blickte sie erbost an, worauf Respa genervt die Augen verdrehte.
„Ist ja gut, rede weiter. Was geschah während des Rituals?“
„Die Schamanen nahmen ihre Plätze ein und setzten sich Rücken an Rücken und mit untergeschlagenen Beinen in den Sand. Einer saß direkt an der Wasserlinie zum Meer, der dahinter an einem Lagerfeuer. Der Erdschamane grub seine Hände in den Sand, und der dahinter Sitzende hielt seine Hände in die Höhe. Sie flüsterten ihre Beschwörungen, und ich umkreiste sie langsam, weil ich nichts verpassen wollte.
Zur Abenddämmerung hin wurde der Sturm immer heftiger, und Regen setzte ein. Und in dem Moment zeigten sich die ersten Ahnen. Sie umkreisten den jeweiligen Schamanen, und es wurden stetig mehr. Die Luftelementare, bestehend aus dichtem, waberndem Nebel, schwebten um den Kopf des Schamanen. Um den Erdschamanen erhoben sich ebenfalls die Ahnen, groß wie eine Faust. Ihre tropfenförmigen Körper bestanden aus Sand, und sie bildeten Gliedmaßen aus, um am Schamanen emporzuklettern. Die Wasserelementare flossen an den Armen ihres Schamanen hinauf, bis auch sie sich zu Tropfen formten. Sie vereinnahmten seinen Oberköper, Hals und Kopf. Tja, und die Feuerahnen haben eine rundliche Form. Auch sie umkreisten ihren Schamanen, so wie die Luftelementare. Alles verlief völlig normal, bis ganz plötzlich sämtliche Ahnen zum Stillstand kamen. Und anstatt sich den jeweiligen Schamanen zu öffnen, scharten sie sich alle um eine andere Person.“
„Um dich“, hakte Respa nach, da er nicht weitersprach.
„Die Wasser- und Erdelementare krochen an mir empor, und die Feuer- und Luftelementare umkreisten mich, wobei sie immer schneller wurden. Ich bekam mit, wie die Schamanen entsetzt aufsprangen und mit Zaubersprüchen versuchten, die Ahnen zu verbannen, was jedoch nicht gelingen wollte.“
„Vier Schamanen, und es gelang ihnen nicht, eure Geister zurückzupfeifen?“
„Ahnen, nicht Geister! Und nein, es war ihnen nicht möglich“, antwortete Mo, wobei er sie ärgerlich ansah.
Respa hob abwehrend die Hände.
„Anstatt gleich aus der Haut zu fahren, könntest du mal langsam zum Ende kommen.“
„Ich wäre schon längst fertig, wenn du mich nicht ständig …“
„Ach was, erzähl endlich weiter.“
Mo schloss seine Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach.
„Ich brach zusammen, als die Seelen etwas in meinem tiefsten Inneren berührten. Dann verlor ich den Halt zur realen Welt.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, wenn mir die Ahnen etwas mitteilen wollen, bemächtigen sie sich meines Geistes. Auf diese Weise können sie mich mitnehmen und lassen mich die Antworten sehen. An jenem Abend war das allerdings anders. Ich hatte keine Fragen gestellt, und dennoch zeigten mir die Ahnen unglaubliche Dinge, teils aus der Vergangenheit und Gegenwart. Aber vor allem die Zukunft spielte eine Rolle.
In meiner ersten Vision offenbarten sie mir ein magisches Tor, das sich am Grund des Meeres öffnete. Es war riesig und flimmerte in verschiedenen Grüntönen. Zunächst war ich überwältigt und fasziniert von diesem Anblick, was sich aber schnell änderte. Denn kurz darauf strömten unzählige Wesen aus dem Portal. Es waren so unglaublich viele, und sie wirkten irgendwie missgebildet. Aber meine Sicht verschwamm, und ich sah Ruls in der Morgendämmerung. Der Sturm war vorbei, und die aufgehende Sonne tauchte die Strände in blutiges Rot. Das Licht passte zu den Kreaturen, die sich an die Ufer zogen.
Zuerst dachte ich, sie würden sterben, denn sie krümmten und wanden sich kreischend im Sand, aber das täuschte.“
„Inwiefern?“
„Bei diesen Kreaturen handelte es sich um Mischwesen. Ihre Oberkörper muteten fast menschlich an, doch anstelle der Beine besaßen sie Schwanzflossen, wie die von Nixen oder Wassermännern. Dies änderte sich, sobald sie vollständig am Ufer waren. Denn bereits nach kurzer Zeit zerfielen die Flossen, und darunter kamen Beine zum Vorschein. Dies ging recht schnell vonstatten, und schon bald standen sie auf ihren Füßen und marschierten in mein Dorf.
Ihre Köpfe erinnerten an verschiedene Meeresbewohner, überwiegend Haie. Ich sah aber auch Wesen mit Fangarmen, wie die eines Kraken. Oder welche, die über lange Stachelschwänze verfügten. Äußerlich unterschieden sie sich völlig, aber eines hatten sie alle gemein – es waren blutrünstige Bestien.
Jeder, der sich wehrte, wurde unerbittlich getötet, zerfleischt und zum Teil auch gefressen. Die anderen, die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder, und ein paar Stammeskrieger wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. Dort erwartete sie ein Wesen, das die Fischköpfigen völlig in den Schatten stellte. Anderthalbmal so groß wie Geralt, kohlrabenschwarze Haut, muskelbepackt, eisige graue Augen, lange schneeweiße Haare und riesige schwarze Flügel. Er begutachtete jeden einzelnen Dorfbewohner, und bis auf drei wurden alle anderen fortgebracht.
Die Ahnen brachen dort die Verbindung zu mir ab, und ich wurde wohl bewusstlos. Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und ich war nicht mehr auf Ruls. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, dass ich mich auf einer Nachbarinsel befand. Und bis heute ist mir schleierhaft, wie ich dorthin gelangen konnte. Aber da meine Heimatinsel nicht allzu weit entfernt war, baute ich mir ein schlichtes Floß und setzte über. Abgesehen von Kampfspuren und trockenem Blut fand ich nichts.
Fast einen Mond lang irrte ich über die Insel, in der Hoffnung, noch jemanden aus meinem Volk zu finden, aber ich war allein. Letztlich führte ich Totenrituale durch, auch wenn es an Leichen fehlte, und baute mir ein besseres Floß. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wieso ich dies tat. Wo sollte ich auch hin? Trotzdem sammelte ich einiges an Vorräten, füllte etliche Wasserbeutel und verstaute alles auf dem Floß. Ich tat diese Dinge wie in Trance, und heute denke ich, es waren die Ahnen, die mein Tun lenkten. Wie dem auch sei, in meiner letzten Nacht auf der Insel erwachte ich am Fuße des Feuerberges. Wieder einmal hatte ich keine Ahnung, wie ich dort hingekommen war, was mir in dem Moment auch zweitrangig erschien. Denn der Erdboden bebte, und der Berg spie plötzlich Rauch und flüssiges Feuer. Und mit den Feuerströmen kamen dann auch die Feuerfresser.“
„Feuerfresser? Was soll das sein?“
„Dazu komme ich gleich“, sagte Mo, wobei er ziemlich genervt klang.
Da Respa ausnahmsweise nichts dazu sagte, erzählte er weiter.
„Im Berg gab es einige tiefe Spalten und ein paar Höhlen, aus denen etliche dieser furchteinflößenden Kreaturen kamen. Starr vor Angst beobachtete ich, wie sie in den Magmaströmen badeten und die glühende Schlacke soffen. Und zu spät bemerkte ich das Ross, das wenige Schritte hinter mir stand.“
„Ross?“
Mo ignorierte die Frage.
„Ich spürte seinen kochend heißen Atem im Nacken und fuhr erschrocken herum, woraufhin sich das Magmaross direkt aufbäumte. Seine unglaubliche Hitze trieb mich zurück, aber es sprang mir sofort hinterher, und seine flammende Mähne streifte meine Schulter.“
Mo schob sein Hemd ein wenig zur Seite, um Respa die Brandnarben zu zeigen, die Schulter und Oberarm verunstalteten.
„Ich ging zu Boden und beobachtete entsetzt, wie es mit seinen Vorderbeinen aufstampfte. Ich konnte armdicke Muskelstränge sehen, die unter der schwarz-roten Haut hervortraten, und blickte nach oben in seine glimmenden Augen. Diese beobachteten mich tückisch, während ich auf dem Hintern von ihm wegrutschte. Ich schloss bereits mit meinem Leben ab. Aber es kam anders.
In mir regte sich etwas, und es fühlte sich an, als ob ich innerlich zerrissen würde. Ich weiß noch, dass ich den Mund aufriss, allerdings war es kein Schrei, den ich von mir gab. Die Ahnen des Wassers quollen aus mir heraus und sprangen sofort das Magmaross an. Dieses wieherte und schrie gequält, seine Haut dampfte, und als es ein paar Wasserelementaren gelang, in sein Maul einzudringen, wurde es stetig kleiner.“
„Es schrumpfte?“
„Ja, und nicht nur das. Es wurde zu einer kleinen Figur aus Lavastein, und nachdem dies geschehen war, kamen die Ahnen zu mir zurück. Sie waren sichtlich geschwächt und besaßen gerade einmal ein Zehntel ihrer vorherigen Größe. Doch darüber konnte ich mir keine weiteren Gedanken machen, denn der Berg bebte so heftig, dass ein Teil des Kraters einbrach. Mit einem ohrenbetäubenden Knall wurden unvorstellbare Massen an Lava und glühenden Gesteinsbrocken gen Himmel katapultiert.
Dies rüttelte mich aus meinem Schockzustand. Ich schnappte mir die Figur und rannte los. Wie oft ich wegen der bebenden Erde stürzte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen, aber ich schaffte es irgendwie zum Strand.
Völlig erschöpft und zerschunden zerrte ich mein Floß ins Wasser und ruderte einige hundert Meter aufs offene Meer hinaus. Und von dort beobachtete ich, wie meine Heimat vom Feuer verschlungen wurde. Irgendwann schlief ich ein, und die Ahnen zeigten mir Visionen von der Zukunft. Ich sah eine Insel vor meinem geistigen Auge und eine junge Frau, der ich eines Tages zur Seite stehen sollte.“
Als er dies sagte, blickte er Respa vielsagend an.
„Hast du die Figur des Feuerwesens noch?“
„Ich hätte von dir so ziemlich jede Frage erwartet nach dem, was ich dir soeben erzählt habe, aber gewiss nicht diese. Um sie dir zu beantworten: Dies war auch Meleas erste Frage, nachdem ich Geralt, Rion und ihr meine Geschichte erzählt hatte. Und da sie völlig von dem Magmaross fasziniert schien, schenkte ich ihr die Figur. Aber nicht nur deswegen. Die Feuerahnen ließen mich damals schon wissen, wem sie diese Figur zugedacht hatten.“
„Nicht das einzige Geschenk, das du ihr heute gemacht hast, nicht wahr?“
„Wieso fragst du?“
„Ich sah in einer meiner Vision einen Meerstein, den sie um den Hals trug. Und ich fragte mich, von wem sie diesen wohl erhalten hat.“
„Der Stein wird sie schützen.“
„Ja, das wird er. Allerdings ist es fraglich, ob die Magie des Steins ausreicht, um sie vor dem Dunklen und dessen Vater zu beschützen. Gibt es noch etwas, was du ihr gegeben hast?“
„Nein. Von mir erhielt sie nur diese beiden Dinge. Aber als sie zu mir kam, hatte sie eine Meeresschnecke dabei, und sie trug einen neuen Armreif.“
Mo seufzte leise und schüttelte den Kopf.
„Was?“, hakte Respa nach.
„Sie hat heute unglaublich viel erlebt, und ich frage mich, wieso ausgerechnet alles auf einmal geschehen musste. Ich meine, sie war schon völlig fertig, als sie bei mir ankam.“
„Sie hat sich dir anvertraut?“
„Ja, Melea kommt oft zu mir, wenn ihr etwas auf der Seele liegt. Aber heute überschlugen sich die Ereignisse, und anstatt sie zu beruhigen, musste ich auch noch Öl ins Feuer gießen.“
„Was hat sie dir denn erzählt?“
„Von ihrer ersten Begegnung mit dem Hai und der Meeresschnecke, die sie kurz zuvor fand. Dann von einem kostbaren Geschenk, das Geralt ihr gemacht hat, und von der Prügelei zwischen ihm und ihrem Vater.
Tja, und als sie mir von dem Hai berichtete, war für mich klar, dass es begonnen hatte. Die erste Gabe hat sich gezeigt. Es ist nun an uns ihr zu helfen, damit umzugehen.“
„Was bezweckte Geralt mit dem Geschenk? Sag jetzt bloß nicht, der Schwerenöter hat ihr einen Antrag gemacht.“
Mo musste unwillkürlich lächeln, weil Respa mehr entsetzt als ärgerlich klang.
„Er machte ihr keinen Antrag. Aber ich denke, es läuft darauf hinaus. Ich gehe davon aus, dass Rion davon ebenso wenig angetan sein wird wie du.“
„Deswegen die Schlägerei?“
„Lea wusste nicht, warum sich die beiden gestritten haben. Und keiner der beiden hat sich bis jetzt dazu geäußert.“
„Oh je, das kann ja noch heiter werden.“
Er nickte und wich etwas zurück, als die Alte ihn plötzlich anfunkelte.
„So! Und jetzt erzählst du mir, wie Melea an einen deiner seltsamen Feuergeister kam.“
„Es sind Ahnen, oder nenn sie meinetwegen Elementare. Lea kam an einen, weil er sich sie ausgesucht hat. Oder, wenn es nach Lea geht, dann war es eine ‚sie‘.“
„Wenn es nach Lea geht? Wie meinst du das?“
„Ich sehe in den Ahnen feurige Kugeln. Auch Geralt, der mit Lea zusammen in das Ritual reinplatzte, sah sie so. Doch Lea erzählte uns, nachdem der Ahne in sie gefahren war und sie aus einer kurzen Bewusstlosigkeit erwachte, etwas anderes. Sie erkannte Gesichter in den feurigen Kugeln, und jene, die sie verfolgte, besaß wohl ein weibliches Antlitz. Und nur einen Lidschlag, bevor sie durch Leas Mund in ihren Körper drang, hat die Frau sie angelächelt.“
„Seltsam!“
„Und da ist noch was. Obwohl Lea in die Nähe mehrerer Ahnen gekommen war und sogar einen verschluckte, machte ihr die Hitze nichts aus. Zudem konnten Geralt und ich beobachten, wie ihre Augen glühend rot aufleuchteten, als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte. So wie die Augen des Magmarosses, als sie seine Figur berührte.“
„Dann hat sie wohl auch schon eine weitere Gabe erhalten.“
3
Lea stand an der Reling und atmete die kühle Nachtluft ein. Als sie jedoch für einen Moment ihre Augen schloss, sah sie direkt in die tiefschwarzen Augen des Dunklen. Und ganz nah an ihrem Ohr vernahm sie ein finsteres Knurren. Erschrocken riss sie die Augen auf und wandte den Kopf nach links, da von dort das Knurren erklungen war. Aber dort war niemand. Ein eisiger Schauer überlief sie.
„Wie kann das sein?“, fragte sie sich.
Sie tastete über ihren Hals und fühlte stechende Schmerzen.
„Ob dieses Flammenwesen damit zu tun hat?“
Lea zermarterte sich das Hirn, auch über die anderen Dinge, von denen Respa und Mo gesprochen hatten.
„Was hat das bloß alles zu bedeuten?“, flüsterte sie in den Wind.
„Was meinst du?“, fragte Rion, der urplötzlich neben ihr stand.
Lea zuckte zusammen.
„Wo kommst du so plötzlich her?“
„Ich stehe schon eine ganze Weile hinter dir. Aber sag, wie geht es dir? Du siehst mitgenommen aus.“
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es ist so viel passiert in den letzten Stunden.“
Rion legte einen Arm um ihre Schultern.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Ja, natürlich.“
„Wie hast du den Hai dazu gebracht, euch zu helfen? Heute Morgen, das hätte ich noch als glücklichen Zufall gewähnt. Aber als er euch vorhin zum Boot brachte …“
Er unterbrach sich seufzend und bedachte Lea mit einem Kopfschütteln.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll“, meinte er.
„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Als ich Getica hinterhergetaucht bin und dieser Fischmann uns in seinen Fängen hatte, habe ich gedanklich um Hilfe gerufen. Der Hai hat mich anscheinend gehört. Er tötete das Wesen und bewahrte uns anschließend vor dem Ertrinken.“
„Geralt hat mir von der Kreatur erzählt. Ich begreife trotzdem nicht, wie dich der Hai verstehen konnte, oder diese seltsame Kreatur.“
Lea warf die Hände in die Luft.
„Ich weiß es doch auch nicht! Am besten fragst du Mowanye. Er meint, ich würde eine Gabe besitzen, die es mir erlaubt, mit Tieren zu sprechen. Ich hielt ihn daraufhin für verrückt, bis er mir mitteilte, dass magische Fähigkeiten vererbt werden können.“
Rion bekam große Augen.
„Vererbt?“
„Weißt du, ob meine Mutter über eine solche Gabe verfügte?“
„Deine Mutter? Ich … weiß nicht“, druckste er herum.
„Du hast mir noch nie etwas über sie erzählt. Warum eigentlich nicht?“
Rion seufzte und wich ihrem Blick aus.
„Ich weiß, Lea. Und es tut mir auch leid. Ich verspreche dir, wenn das hier vorbei ist, werde ich dir alles erzählen.“
„Das würde mich sehr freuen.“
Vorne im Bug schrie plötzlich jemand auf. Rion reagierte sofort und lief los.
„Geh hinunter und bleib dort“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.
Im Fackelschein konnte Lea die Männer sehen, die mit Speeren wild auf etwas einstachen.
„Was ist da los?“, murmelte sie und wandte sich der Luke zum Unterdeck zu, da sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Die Abdeckung stand noch offen. Irgendetwas schlängelte sich soeben hindurch und verschwand in der dunklen Öffnung. Lea überlegte nicht lange und sprintete hinterher. Bereits auf der steilen Treppe hörte sie aufgeregte Schreie, dennoch schloss sie die Luke über sich. Dann zog sie den Dolch und polterte eilig die Stufen hinab.
Im Lagerraum liefen die Frauen durcheinander, und Mo kam gerade aus Geralts Kajüte gestürmt.
„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.
Lea achtete nicht auf ihn und fragte die Frauen: „Wo ist es?“
Getica deutete mit zittriger Hand in eine Ecke, in der sich einige aufeinandergestapelte Säcke türmten.
„Hat es euch angegriffen?“, fragte Lea, als sie vor dem Stapel in die Hocke ging. Sie versuchte, das Tier oder was auch immer es war zwischen den Lücken zu entdecken.
„Es klatschte die Treppe runter und ging sofort auf die Kinder los. Susan hat danach getreten, traf es am Kopf und dann verschwand es in der Ecke“, antwortete Livilia.
„Was ist es?“, fragte Lea.
Niemand kam zu einer Antwort, denn in diesem Moment schoss etwas unter einem Sack hervor und auf Lea zu. Sie reagierte, indem sie den Dolch niederfahren ließ. Durch einen glücklichen Treffer nagelte sie es am Boden fest. Es wand sich zischend um den Dolch, und Mo, der neben Lea in die Hocke ging, meinte: „Es hat Ähnlichkeit mit einem Aal.“
Das Tier war gut einen Meter lang und so dick wie Leas Oberarm. Die graue Haut sonderte Unmengen von Schleim ab, aber da hörte die Ähnlichkeit mit einem Aal auch schon auf. Wo normalerweise der Kopf sein sollte, befand sich ein rundes Maul mit hunderten von nadelspitzen Zähnen, die in mehreren Reihen bis in den Rachen hinein reichten.
Mo bückte sich und begutachtete das seltsame Tier genauer.
„Es scheint keine Augen zu haben“, stellte er fest.
Lea stand auf und stellte einen Fuß einige Zoll unterhalb des vor Zähnen starrenden Mauls auf das Wesen. Dann zog sie den Dolch heraus und setzte diesen unmittelbar hinter dem vermeintlichen Kopf an, da, wo sie den Nacken vermutete. Die scharfe Klinge durchtrennte problemlos die ledrige Haut und das Fleisch, doch Lea wartete vergeblich auf den Widerstand der Wirbelsäule.
„Seltsam, das Vieh hat anscheinend keine Knochen im Körper“, meinte sie irritiert.
Der kopflose Körper zuckte und schlängelte sich wild hin und her, als Lea ihren Fuß wegnahm, doch der Kopf lag still. Mit dem Dolch drehte sie diesen auf die andere Seite, und sie sahen in ein großes blaues Auge.
„Es hat ein Auge, um genau zu sein“, sagte Lea und blickte Mo an.
„Gib mir mal einen leeren Sack.“
Mo reichte ihr einen, und Lea warf mit Hilfe des Dolches die Überreste des Wesens hinein und verknotete den Sack.
„Ich teile den Männern mit, wie sie die Viecher töten können“, sagte Lea und sah zu den Frauen, die wieder an der Wand kauerten.
Getica, Livilia und Susan wichen furchtsam ihren Blicken aus. Lea wandte sich Mo zu, der sofort ihre feuchten Augen bemerkte.
„Würdest du hier unten aufpassen?“
„Natürlich, Lea!“
Er beobachtete, wie Lea zur Treppe eilte und sah dann entgeistert zu den Frauen. Als das Geräusch der zufallenden Luke ertönte, schnaufte er verärgert.
„Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein. Nur weil sie eine besondere Gabe besitzt, lasst ihr sie jetzt im Stich? Weil sie anders ist? Sie hat euch soeben vor diesem Biest beschützt.“
Er wandte sich Getica zu und herrschte sie erbost an: „Und gerade du! Lea hat vorhin ihr Leben für dich riskiert. Obwohl du sie derart hintergangen hast.“
Die Frau ließ betrübt den Kopf hängen, und er blickte nochmal jede einzelne an.
„Ich muss schon sagen, bei solchen Freunden braucht es keine Feinde mehr. Überlegt mal, was ihr der Kleinen damit antut. Ihr seid wie eine Familie für sie.“
Mo drehte sich zornig um und rannte Respa fast um, die im Türrahmen stand. Sie bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick und wollte ihm folgen, als er in Geralts Kajüte verschwand. Respa hielt inne und sagte: „Melea ist etwas ganz Besonderes und hat es nicht verdient, so von euch behandelt zu werden.“
Leas Kleidung triefte vor Blut und Schleim, noch bevor sie einem der Männer begegnete. Sie bewegte sich an der Reling entlang, und sobald sich eines der Biester darüber schlängeln wollte, hackte sie den Kopf ab. So arbeitete sie sich immer weiter vor und traf unterwegs auf Sander, der mit einer Fackel hantierte. Auch er stand an der Reling und verbrannte gerade eines der Wesen, das zischend ins Meer zurückfiel. Als er sie erblickte, grinste er übers ganze Gesicht, da sie gerade einem Wesen den Kopf abschlug.
Lea nickte Sander lächelnd zu und ging weiter, bis sie Matt und Jon entdeckte. Die beiden standen Rücken an Rücken und stachen mit Kurzspeeren auf die Kreaturen ein, was aber wenig Erfolg brachte. Lea rief ihnen zu: „Ihr müsst ihnen die Köpfe abschlagen, oder sie mit Feuer bekämpfen.“
Sie selbst schlug noch einige Köpfe ab, bis sie schließlich bei Geralt, Adaric und Rion ankam. Auch ihnen teilte sie mit, wie die Wesen am besten zu bekämpfen waren und eilte wieder an die Reling.
„Sander ist in der Mitte des Schiffes allein, und im Heck steht niemand“, rief sie über die Schulter hinweg.
„Ich werde Sander helfen“, sagte Adaric sofort und lief los.
Geralt unterließ es, die Biester mit seinem Schwert in mehrere Teile zu zerhacken und hieb jetzt nur noch auf die Köpfe ein. Rion schnappte sich eine Fackel, ließ den Speer fallen und zog sein Messer.
„Ich geh zum Heck“, rief Lea, woraufhin er direkt zu ihr kam.
Eigentlich rechnete sie damit, dass er sie wieder unter Deck schicken würde und war entsprechend überrascht, als er meinte: „Nicht ohne mich!“
Am Heck des Schiffes hatten die beiden noch einmal viel zu tun, bevor die Invasion endlich nachließ und schließlich ganz verebbte. Erschöpft lehnte Lea am Segelmast und blickte zu ihrem Vater auf, der sich mit verschränkten Armen vor ihr aufgebaut hatte.
„Sag mal, solltest du vorhin nicht nach unten gehen?“
„Da war ich, und dort habe ich dem ersten Biest den Kopf abgeschlagen“, sagte sie grinsend.
Rion schüttelte seufzend den Kopf. Matt lachte laut auf.
„Sie ist halt ganz der Vater, ebenso dickköpfig“, sagte er.
Rion drehte sich um und erblickte neben Matt auch die anderen Männer. Abgesehen von Jon grinsten alle breit, zumindest bis Geralt vortrat und Aufgaben verteilte.
„Wir haben noch etwa eine Stunde bis zur Dämmerung. Wir sollten die Zeit nutzen und das Deck säubern. Dort draußen toben hohe Wellen, und die Planken sind glatt von Schleim und Blut. Ich will nicht, dass jemand über Bord geht.“
Jon und Adaric kamen an seine Seite.
„Wir sollten einige Tiere mit aufs Festland nehmen, sozusagen als Beweis.“
Geralt nickte.
„Das ist eine gute Idee. Nehmt euch eine Kiste und sammelt ein paar ein. Und die anderen schnappen sich Eimer und Schrubber.“
Geralt und Rion besahen sich kurz darauf eines der Tiere genauer. Rion begutachtete das runde Maul mit den wulstigen Lippen.
„Sieht aus wie die Kreatur, die sich an den Klippen hochgezogen hat.“
„Es könnten Jungtiere sein“, meinte Geralt.
„Wäre möglich, aber dann durchlaufen sie gerade mal das Larvenstadium. Denk mal an die monströse Größe der Kreatur, die wir gesehen haben“, sagte Rion und drehte das Wesen um.
„Wo kommen diese Biester nur her? Ich habe noch nie ein Tier mit nur einem Auge gesehen, und die Farbe ist unglaublich. Außerdem ist es riesig, es würde bequem meine Handfläche ausfüllen“, stellte Geralt verblüfft fest.
Kopfschüttelnd richtete er sich auf.
„Ich werde den anderen helfen.“
Die Männer hatten sich auf dem Schiff verteilt und säuberten das Deck. Auch Lea nahm einen Eimer und warf diesen an einem Seil ins Wasser. Während sie ihn wieder einholte, durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Oberarm. Zischend zog sie die Luft zwischen den Zähnen ein und ließ das Seil fahren, denn an ihrem Arm zappelte eines der Tiere. Hastig griff sie danach, da es sich um die eigene Achse drehen wollte, um ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen. Mit einem unterdrückten Schrei zog sie an dem Tier, welches aber ihren Fingern entglitt. Sofort bäumte es sich erneut auf, um sich zu drehen. Der Schmerz war heftig. Lea schrie auf. Daraufhin kam Geralt angelaufen und starrte schockiert auf ihren Arm.
„Es ist zu glitschig, ich kann es nicht packen“, stöhnte Lea beim nächsten Versuch, das Biest festzuhalten.
Geralt zog sein Hemd aus, nahm sein Messer zur Hand und sah ihr kurz in die Augen.
„Halt still! Ich will dich nicht unnötig verletzen.“
Er nahm sein Hemd, um das Tier festzuhalten, setzte das Messer ein paar Zoll hinter dem Maul an und schnitt blitzschnell den Kopf ab. Den windenden Körper warf er über Bord und hantierte dann mit seinem Messer, um den Kopf von Leas Arm zu lösen. Doch er hielt inne und sah sie aus großen Augen an.
„Ich glaub, das wird wehtun. Das Mistvieh hat sich richtig verbissen.“
Lea betastete den Kopf und versuchte, mit den Fingern unter die Kiefer zu kommen.
„Verdammt, tut das weh. Ich geh runter zu Mo und Respa, vielleicht können die beiden etwas tun.“
„Ja, mach das! Ich sag deinem Vater Bescheid.“
Geralt öffnete die Luke für sie und schloss diese hinter ihr, bevor er zu den Männern lief und von dem Vorfall berichtete.
Bis auf Rion, der direkt unter Deck verschwand, begannen die anderen Männer, jeden Winkel des Schiffes zu durchsuchen.
Rion fand Lea in Geralts Kajüte, wo Mo den Schreibtisch freigemacht hatte und diesen gemeinsam mit Getica in den Raum hineinzog.
„Lea, geht es dir gut?“, fragte Rion.
Er setzte sich neben sie aufs Bett und nahm ihren Arm in Augenschein. Das Biest hatte sich durch den Stoff tief in den Oberarm verbissen. Während er den Kopf betastete, verzog Lea schmerzlich das Gesicht und funkelte ihn ärgerlich an.
„Wenn niemand daran rumfummelt, dann merke ich gar nicht, dass dort etwas ist. Und ja, mir geht es gut“, antwortete sie barsch.
Lea war gereizt, weil jeder unbedingt an dem Kopf ziehen musste, und dies verursachte irrsinnige Schmerzen.
Rion zog seine Hand zurück und wandte sich an Mo.
„Kannst du es entfernen?“
Der Schamane drehte sich zu ihm und warf einen besorgten Blick auf Lea.
„Respa und ich werden es versuchen. Aber du und Getica, ihr wartet besser draußen.“
Wie aufs Stichwort betrat Respa den Raum. Sie trug mit beiden Händen eine Wasserschüssel, und unter ihren Armen klemmten saubere Tücher. Sie wies mit dem Kopf zur Tür.
„Ihr habt ihn gehört. Raus hier und schließt die Tür.“
Nachdem Rion und Getica die Kajüte verlassen hatten, wandte sich Respa an Lea.
„So, und du, mein Kind, legst dich bitte auf den Tisch.“
Lea stand langsam auf und ließ sich zögernd auf dem Tisch nieder.
Respa legte ihre Utensilien auf der Truhe zurecht, und Mo erschien mit einem sehr spitzen Dolch neben dem Tisch. Er blickte Lea mitleidig an.
„Bist du bereit?“
Obwohl sie am liebsten davongelaufen wäre, nickte Lea. Daraufhin kam Respa und drückte ihren Oberkörper hinab, sodass Lea flach auf dem Tisch lag. Dann hielt sie Leas Arm fest und sagte leise: „Am besten guckst du in die andere Richtung.“
Das tat Lea, als Mo den Dolch hob. Doch gegen die Schmerzen half es nicht.
Sie spürte die kalte Spitze der Klinge, und obwohl diese noch nicht mal unter der ersten Zahnreihe war, knirschte Lea mit den Zähnen. Die Schmerzen waren unglaublich, und sie war drauf und dran aufzuspringen, als Respa sagte: „Das bringt nichts!“
Der Schmerz verebbte sofort. Lea atmete tief durch. Dabei beobachtete sie Respa, die ein Tuch fest zusammenrollte und an den Tisch zurückkam.
„Hier, beiß darauf.“
Ohne Umschweife schob sie das Tuch zwischen Leas Zähne und wandte sich wieder an Mo.
„Gib mir den Dolch, und halt sie fest.“
Nachdem sie den Kopf nochmal in Augenschein genommen hatte, setzte sie den Dolch an.
„Ich werde den Kopf in der Mitte teilen. Dann wird es einfacher sein, die Zähne aus dem Fleisch zu ziehen.“
Ihr Vorhaben entpuppte sich als nicht so einfach, da die Klinge ständig auf Zähne traf, die in mehreren Reihen vorhanden waren. Doch letztlich schaffte sie es, und Respa setzte den Dolch erneut an. Es gelang ihr, die Mitte des Kopfes herauszulösen, da es dort keine Zähne gab. Und so sahen sie, wie sehr sich die kreisrunden Kiefer in Leas Arm verbissen hatten. Es waren gleich drei Zahnreihen, und die Zähne waren nach hinten ausgerichtet, sodass sie Leas Fleisch zerfetzen würden, sollten sie diese einfach herausziehen.
Mit zusammengekniffenen Augen besah sich Respa die Zahnreihen und seufzte gequält.
„Was ist los?“, fragte Lea, die das Tuch aus dem Mund genommen hatte.
„Die Zähne sind wie Widerhaken nach hinten gebogen. Ich werde den Kiefer herausschneiden müssen.“
Mo stupste die Alte an und deutete auf eine grünliche Flüssigkeit, die von einigen Zähnen in Leas Wunde tropfte. Ihre Augen weiteten sich daraufhin entsetzt.
„Du musst jetzt die Zähne zusammenbeißen, Lea. Ich muss den Kopf sofort entfernen, er scheint Gift in deinen Körper zu pumpen. Wir können nicht warten, bis wir zum Festland kommen.“
Lea blickte sie aus wässrigen Augen an.
„Tut es, aber bitte schnell“, wisperte sie unter Tränen.
Sie hatte eben schon unglaubliche Schmerzen ausgehalten und dachte, auch dies aushalten zu können. Außerdem wollte sie das Ding einfach nur loswerden.
Respa nickte und rief nach Rion. Sie hatte den Namen noch nicht ausgesprochen, da stand er auch schon in der Tür.
„Du musst Mo helfen und Lea festhalten“, sagte sie.
Rion stellte sich auf die andere Seite des Tisches und legte besorgt eine Hand auf Leas Stirn, während Mo ihr den Stoff zwischen die Zähne klemmte.
„Was habt ihr vor?“, fragte Rion beunruhigt.
„Wir müssen den Kopf herausschneiden, da er Gift in ihren Körper pumpt“, sagte Mo.
„Was? Ihr könnt doch nicht einfach …“
Respa unterbrach Rion und sah ihn streng an.
„Wir haben keine andere Wahl! Ich weiß nicht, um was für ein Gift es sich handelt, und ich will kein Risiko eingehen. Also, seid ihr so weit?“
Rion sah die Alte noch einen Moment schockiert an und ergriff Leas Hand. Mit der anderen fixierte er ihre Schulter auf dem Tisch, und Mo tat es ihm auf der anderen Seite nach.
Lea starrte derweil angestrengt in die braunen Augen ihres Vaters, bis Respa die Klinge ansetzte. Die Spitze des Dolches schrammte an den Zähnen vorbei, und sie spürte, wie die Klinge tief in ihr Fleisch fuhr.
Respa versuchte, so schnell wie möglich zu arbeiten, aber Lea machte es ihr nicht leicht. Und sie war ein wenig verwundert, weil die beiden Männer die junge Frau kaum halten konnten. Lea bäumte sich immer wieder auf und schaffte es öfter als einmal sich aus dem Griff ihres Vaters zu winden. Doch Rion bekam sie immer wieder in den Griff, und letztendlich schaffte Respa es, beide Teile des Kopfes zu entfernen. Leas gedämpfte Schreie verstummten.
Rion legte eine Hand auf ihre tränennasse Wange und befreite sie von dem Tuch, weil sie hektisch atmete und kaum Luft bekam. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich etwas beruhigte.
Derweil riss Respa den Ärmel ab.
„Mo, schnell, Wasser und die Tücher“, forderte sie ihn auf.
Sie säuberte die tiefe und stark blutende Wunde, während Mo ein Tuch in Streifen riss. Danach reichte er Respa einen kleinen Tiegel Salbe, mit der sie einen Stofffetzen bestrich. Diesen legte sie direkt auf die Wunde und bandagierte Leas Oberarm.
„So, das wird erst mal reichen. Sobald wir in Mesura sind, müssen wir uns die Wunde aber nochmal ansehen“, meinte Respa und schob Mo zur Seite, um Lea in die Augen zu sehen.
„Geht es dir gut, Kindchen? Deine Augen sind etwas trüb.“
Lea hielt mühsam weitere Tränen zurück.
„Ja, es geht schon. Ich möchte einfach nur an die frische Luft, mir ist ganz schön warm geworden“, sagte sie leise.
Sie rutschte vom Tisch und musste sich an ihrem Vater festhalten, da ihr schwindelte.
„Sicher, dass es dir gut geht? Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn du dich eine Weile ausruhst“, meinte Rion besorgt.
„Nein, ich muss raus. Mir wird übel!“
„Also gut, ich bringe dich nach oben.“
Er stützte Lea unter den Armen. Sobald die beiden draußen waren, wandte sich Respa an Mo.
„Wir müssen sie im Auge behalten. Wer weiß, was das für ein Gift war.“
„Zumindest nichts Tödliches, sonst käme sie nicht in unseren Visionen vor“, versuchte Mo die Alte zu beruhigen.
„Lass den Blödsinn! Du und auch ich hatten Visionen darüber, was passiert, wenn Lea den Rat nicht überzeugt. Und dass sie ihn nicht überzeugt, könnte durchaus daran liegen, weil sie es nicht mehr kann.“