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Оглавление8. Mond, im 988. Jahr der Barriere
Bewusstseinsstarre
1
Geralt schlenderte über das Deck der Seeschlange und blickte über die Reling. Von Halldor war noch nichts zu sehen. Sie hatten die Kiste an vier Soldaten übergeben, mit dem Auftrag, diese so schnell wie möglich in den Palast und zu den Alchimisten zu schaffen. Danach war Halldor direkt weitergeritten, um mit dem Flottenkommandanten zu sprechen. Nun wartete Geralt auf dessen Rückkehr.
Unruhig ging er weiter und sammelte dabei ein paar Speere und Fackeln ein, die auf dem Deck herumlagen. Nach einem weiteren Blick über das Hafengelände öffnete er die Luke und verstaute die Sachen im Lagerraum. Eigentlich wollte er direkt wieder nach oben, ging dann aber doch in seine Kajüte. Der Schreibtisch stand noch in der Mitte. Er strich mit den Fingerspitzen über eine trockene Blutspur, bis seine Hand gegen die Holzschüssel stieß, aus der blutiges Wasser schwappte. Er packte sie und warf sie mit einem wütenden Schrei gegen die Wand. Kurz darauf ließ er den schweren Eichentisch folgen, der krachend in der Mitte auseinanderbrach.
Schwer atmend ließ sich Geralt aufs Bett sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Eine Weile saß er so da, bis er Schritte auf der Treppe hörte. Hastig wischte er sich übers Gesicht und atmete ein paarmal tief durch, als auch schon Halldor in der Tür stand. Der schaute sich ein wenig entsetzt um.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte er.
Er musterte Geralt und bemerkte dessen gerötete Augen, überging diese aber. So wie Geralt die Frage nicht gehört zu haben schien.
„Was meinst du? Bist du bereit dazu, einen großen Bruder zu bekommen?“
„Denkst du wirklich, wir seien Brüder?“, fragte Geralt nach.
„Gewissheit werden wir gleich erhalten, wenn wir den Sekretär am Waisenhaus treffen. Aber ich glaube, wir können uns den Weg sparen.“
Er reichte Geralt seine Hand und zog ihn auf die Füße.
„Frag mich nicht, wieso. Aber ich spüre einfach, dass wir Brüder sind.“
„Mir geht es ebenso. Nur eine Sache siehst du absolut falsch.“
„Und die wäre?“
„Ich bin definitiv der Ältere von uns beiden“, meinte Geralt grinsend.
„Ganz sicher nicht!“
„Und ob!“
„Um dies endgültig zu klären, werden wir wohl doch zum Waisenhaus müssen.“
„Na, dann komm endlich.“
Geralt griff nach einem Sack, der auf dem Boden stand. Seines Wissens nach gehörte er Mowanye. Der würde die Sachen darin mit Sicherheit noch brauchen.
Wenig später saßen sie auf ihren Pferden und ritten auf schnellstem Weg zum Waisenhaus. Dort war vom Sekretär noch nichts zu sehen. Wieder einmal hieß es warten für Geralt. Jetzt fehlte nicht nur der Sekretär, sondern auch Halldor, der sich auf die Suche nach dem alten Mann begeben hatte.
Er setzte sich auf die alte und verwitterte Steintreppe, die ins Gebäude führte. Seine Gedanken kreisten mal wieder um Lea.
„Hätte ich doch nur den Mund aufbekommen, als ich ihr den Armreif schenkte. Ich Idiot!“
Zusammen mit dem Geschenk wollte er ihr eigentlich einen Antrag machen, doch in dem Moment hatte er kein Wort herausbekommen. Jetzt war es dafür zu spät, denn nachdem Rion den Armreif entdeckt hatte, konnte der sich wohl denken, was Geralt mit diesem Geschenk bezweckte. Kaum war Lea einen Moment nicht dagewesen, hatte er ihn darauf angesprochen. Und letztlich war Rion ihm an den Kragen gegangen.
„Wenn sie meine Tochter wäre, hätte ich wahrscheinlich auch so reagiert“, dachte Geralt missmutig.
Es gab eine Zeit, in der er seine Wirkung auf Frauen schamlos ausgenutzt hatte. Und Rion wusste von den dutzenden Frauen, die in seinem Leben bereits eine Rolle gespielt hatten. Aber das war seit etlichen Monden vorbei, was Rion ihm jedoch nicht glaubte. Aus diesem Grund hatte er ihm verboten, Lea einen Antrag zu machen. Allerdings hatte er ihm die Möglichkeit eingeräumt, sich zu beweisen.
„Wie soll ich das nur anstellen?“, fragte er sich leise.
„Was?“
Geralt blickte erschrocken auf und sah Halldor an, der lächelnd vor ihm stand.
„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er misstrauisch.
„Eine Weile.“
Geralt erhob sich seufzend.
„Mach dir keine Sorgen. Helimus ist der beste Heiler, den es in den Reichen gibt.
Und unsere Königin hat ebenfalls unglaubliche Fähigkeiten. Melea wird es schaffen, Bruder.“
Geralt nickte, geriet aber ins Stocken. Seine Augen weiteten sich.
„Bruder?“
„Ja, jetzt ist es amtlich. Ich habe einen kleinen Bruder.“
„Ist bekannt, wer unsere Eltern sind?“
„Nein. Man fand uns auf dieser Treppe, eingewickelt in einem weißen Bärenfell. Bei mir lag ein Zettel, auf dem stand Erstgeborener.“
„Den hast du mir bestimmt abgenommen“, meinte Geralt.
Halldor klopfte ihm lachend auf die Schulter.
„Komm, lass uns etwas essen gehen.“
„Sollten wir nicht lieber in den Palast zurückkehren?“
„Nalia wird niemanden zu Melea lassen, solange die Heiler mit ihr beschäftigt sind.“
„Vielleicht ist Lea in der Zwischenzeit aufgewacht und …“
„Auch dann wird Nalia erst mal niemanden zu ihr lassen, abgesehen von Meleas Vater.“
Halldor schob Geralt vorwärts.
„Na, komm!“
Kurz darauf saßen sie in einem guten Gasthaus. Während sich Halldor durch eine Fleischplatte arbeitete, löcherte er Geralt nochmal mit Fragen über die vergangene Nacht. Nach seinem Mahl begann Geralt, Fragen zu stellen. So erfuhr er, dass Halldor bereits als Baby von einem jungen Ehepaar adoptiert worden war. Sein Ziehvater Bigelis tat damals seinen Dienst in der Stadtgarde und hatte sich mittlerweile zum Hauptmann der Stadtsoldaten hochgearbeitet. So war es kein Wunder, dass sein Ziehsohn ebenfalls den Weg eines Soldaten eingeschlagen hatte. Er bewies ein außergewöhnliches Talent mit dem Schwert, und in Dingen wie Strategie und Truppenführung machte ihm schon bald niemand mehr etwas vor. So arbeitete er sich sehr schnell hoch. Zuerst bei den Stadtsoldaten, und später in der Königsgarde. Nun war er mit seinen achtundzwanzig Sommern bereits General der königlichen Truppen.
„Wie hast du das alles in dieser kurzen Zeit geschafft?“
Halldor zuckte mit den Schultern.
„Eigentlich war es nie mein Ziel gewesen, General zu werden. Aber die Königin hielt es für angemessen. Ich ritt fast zwei Sommer lang durch Mesu, auf der Suche nach unserem verschollenen König. Auf diesem Wege habe ich einige Söldnerbanden
hochgenommen, die den Bauern und Lehnsherren das Leben schwergemacht hatten. Ich fand heraus, dass die Söldnerbanden für den gleichen Anführer arbeiteten. Ihn verfolgte ich einen halben Sommer quer durchs Reich. Zeitgleich suchten meine Männer und ich weiter nach unserem König. Wir gingen jedem noch so kleinen Hinweis nach, der zu seinem Verbleib führen konnte. Doch wir fanden weder ihn noch seine Männer.“
„Was wurde aus dem Anführer der Söldner?“
Halldor grinste schief.
„Die Geschichte ist fast aus dem Ruder gelaufen, als wir sein Lager aufspürten. Mit dreißig Bewaffneten marschierte ich dort ein. Allerdings wurde es brenzlig für uns, da wir nicht mit sechzig Söldnern gerechnet hatten. Aber wir haben es geschafft, nicht zuletzt durch die gute Ausbildung meiner Männer. Leider hatten wir auch einige Opfer zu beklagen.“
Halldor trank einen Schluck Bier, bevor er weitererzählte.
„Von meinen Männern überlebten nur neunzehn, von denen sechs schwer verletzt waren. Darunter auch ich.“
„Und die Söldner?“
„Dreiundzwanzig überlebten die Schlacht, acht waren sehr schwer verwundet, sodass wir ihnen an Ort und Stelle den Gnadenstoß gaben. Die anderen legten wir in Ketten und brachten sie nach Mesura, unter ihnen auch der Anführer. Sie sitzen nun im Kerker und erwarten das Urteil der Königin.
Ich bin seit zwei Monden wieder hier, und die Königin ernannte mich für meine Verdienste zum General.“
„Zu Recht. Du bist ein Held.“
Halldor winkte ab und sah zum Eingang, als die Tür aufgestoßen wurde. Er stand direkt auf und ging dem Soldaten der Hafenwacht entgegen, der eilig auf ihn zuschritt.
Geralt folgte ihm und bekam mit, wie Halldor eine kleine Schriftrolle zusammenrollte und unter seine Armschiene schob.
„Wir müssen schnellstmöglich zum Palast.“
Mit diesen Worten war er auch schon aus der Tür. Er nahm von einem Soldaten die Zügel seines Pferdes entgegen und stieg direkt auf den Rücken des kraftstrotzenden Hengstes. Von dort aus schaute er ungeduldig zur Tür des Gasthauses, durch die soeben Geralt heraustrat. Der bedachte ihn mit einem äußerst verärgerten Blick.
„Was ist los?“
„Ich habe gerade dein Mahl bezahlt und rechne noch nach, wie viele Tage ich dafür gearbeitet habe.“
Halldor musste grinsen.
„Das nächste Mal bezahle ich.“
Geralt saß noch nicht ganz im Sattel, als Halldor auch schon lospreschte.
Vor dem Palast trennten sich zunächst ihre Wege. Halldor hetzte die Stufen des mittleren Gebäudes hinauf, und Geralt ging ins linke Nebengebäude. Er wollte Mo seine Sachen geben und ließ sich von einem Diener zu dessen Zimmer führen.
Mo, Respa und Sander saßen an einem kleinen Tisch beisammen und unterhielten sich leise, als Geralt hinzukam.
Mo nahm dankend seinen Beutel entgegen und wies mit der freien Hand auf einen Stuhl.
„Gibt es schon etwas Neues von Lea?“, fragte Geralt angespannt.
Mo sah ihn verwundert an.
„Ich habe gehofft, dass du uns Neuigkeiten bringst.“
„Nein, ich war mit meinem Bruder unterwegs.“
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast“, sagte Sander verwundert.
„Ich bis heute auch nicht. Aber auf der anderen Seite, wenn ich darüber nachdenke …“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich weiß auch nicht, es ist irgendwie schwierig zu erklären. Als er vorhin zur Besprechung kam fühlte es sich an, als würde ich einem alten Freund begegnen, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe.“
„Es ist offensichtlich, dass ihr Zwillinge seid. Und zwischen Zwillingen soll es eine sehr tiefe Bindung geben“, meinte Mo.
Respa horchte auf und blickte Geralt fast schon entsetzt an.
„Zwillinge? Bloß nicht noch einer von der Sorte.“
Geralt musste laut lachen. Er wusste, dass sie es nicht so meinte. Sie konnte es jedoch nicht lassen, ihn zu sticheln. Seitdem er sich bei einer gewissen Dame vor etlichen Jahren etwas eingefangen hatte und sie ihn daraufhin behandeln musste, ließ sie keine Gelegenheit dazu aus.
„Und wie geht es dir?“, fragte er Sander.
„Wenn ich das nur wüsste. Die beiden hier stellen mich auf den Kopf und fragen mich Dinge, von denen ich noch nicht mal wusste, dass es so etwas überhaupt gibt.“
Geralt sah Mo und Respa abwechselnd an, aber die beiden beachteten ihn gar nicht. Ihre Blicke waren auf den armen Sander geheftet.
„Ich will dann auch nicht weiter stören.“
Geralt bekam noch nicht mal eine Antwort, als er sich verabschiedete und die Tür hinter sich schloss.
Nalia ließ die Nachricht sinken, die Halldor ihr überreicht hatte.
„Von wann ist der Bericht?“
„Die Nachricht muss Gento erreicht haben, nachdem ich bei ihm war. Ein Bote brachte sie mir eine Stunde später. Ich kam damit sofort zu Euch.“
„Dann ist es also gewiss. Irgendwer sammelt da draußen seine Truppen und wird früher oder später angreifen.“
„Davon ist auszugehen.“
„Kennt Ihr die Kapitänin der Feindbrecher?“
„Ja! Sie neigt nicht dazu, zu übertreiben. Das heißt, alles, was sie dem Flottenkommandanten in ihrem Bericht niedergeschrieben hat, entspricht der Wahrheit.“
„Sind noch andere Schiffe von uns in der Nähe von Kalmar?“
„Nein. Die Feindbrecher war auf Patrouillenfahrt, und zu unserem Glück segelte sie vor Kalmar. So, wie ich Fanya kenne, schrieb sie direkt den Bericht und schickte diesen dann per Möwe zu Gento.“
„Wann wird die erste Flotte bei ihr eintreffen?“
„Gento gab sofort den Befehl, zwölf Schiffe klarzumachen, als ich noch bei ihm war. Ich schätze, sie sind bereits auf dem Weg, werden aber nicht vor Einbruch der Nacht dort ankommen.“
„Ich hoffe, Fanya ist schlau genug, sich von den feindlichen Schiffen fernzuhalten.“
„Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, mit einem der Schiffe in Kontakt zu treten, wird sie sich sicherlich zurückgezogen haben. Sie kann froh sein, dass sie nur in einen Pfeilhagel geriet und ihr Schiff nicht versenkt wurde.“
„Schickt einen Boten zu Gento! Ich will, dass er auch die übrigen Schiffe bereit machen lässt. Außerdem soll er die anderen Küstenstädte benachrichtigen. Wir werden unsere gesamte Flotte brauchen.“
Während ihrer Worte zog Nalia eine Schublade auf und beförderte einige in Leder gebundene Schriftrollen auf den Tisch. Sie entrollte eine und nahm eine Schreibfeder in die Hand.
„Auf dem Kamintisch steht ein Krug Wein. Seid so gut und holt uns zwei Kelche.“
Halldor erhob sich direkt und warf dabei einen Blick auf das Pergament, welches bereits beschrieben war. Nalia kritzelte noch zwei Sätze unter den Text und setzte ihr Siegel darunter, bevor sie aufsah.
„Ich war nicht untätig und habe die Nachrichten an die Herrscher bereits vorbereitet.“
Halldor nickte und ging zum Tisch, um zwei Kelche mit tiefrotem Wein zu füllen. Als er zum Schreibtisch zurückkehrte, verstaute Nalia die Schriftrollen bereits in einem Beutel und wollte damit zur Tür.
„Halt!“
Sie blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Zoll. Halldor bekam einen hochroten Kopf.
„Oh … ich meinte … wartet bitte.“
Nalia wandte sich ihm zu und sah ihn amüsiert an. Er räusperte sich leise.
„Euer Wein, Hoheit.“
Sie nahm Halldor einen Kelch ab, setzte diesen an die Lippen und drückte ihm kurz darauf den leeren Kelch wieder in die Hand.
„Darf ich nun gehen, General Halldor?“, fragte sie lächelnd.
Er glotzte den leeren Kelch verblüfft an, zuckte dann aber mit den Schultern und leerte den anderen ebenfalls in einem Zug. Nachdem er die beiden Kelche auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, nickte er Nalia zu.
„Jetzt dürft Ihr!“
Halldor eilte ihr nach, als sie zur Tür lief.
„Ich werde Botschaften an die Herrscher der geeinten Reiche schicken. An den Zwergenkönig, den Elfenkönig und an Torgulas ebenfalls.“
Halldor blieb kurz stehen und lief dann wieder hinter ihr her.
„Torgulas? Wollt Ihr ihn wirklich einbeziehen?“
„Mir graut es ebenfalls, allein bei dem Gedanken. Aber es gibt zwei Gründe, wieso ich ihm eine Nachricht zukommen lasse. Einer davon sind dreiundneunzig feindliche Schiffe vor Kalmar. Laut Fanya nähern sich weitere Segel am Horizont. Zudem dürfen wir diese blutrünstigen Kreaturen nicht vergessen, von denen wir heute zu hören bekamen.“
„Und der zweite Grund?“, fragte Halldor.
„Ihr wart dabei, als Mowanye von seinen Visionen berichtete.“
„Ich war anwesend und hörte dem Mann auch genau zu. Was aber nicht heißt, dass ich ihm Glauben schenke.“
Nalia blieb abrupt stehen und blickte in die graublauen Augen ihres Generals. „Mowanye hat nicht gelogen, Halldor. Er sah diese Dinge. Und nicht nur er. Mit Respa habe ich mich zwar noch nicht unterhalten, aber eines könnt Ihr mir glauben – ein Schamane und eine Hexe mit fast den gleichen Visionen, das kann kein Zufall sein.“
„Ihr kennt Euch besser mit solchen Dingen aus. Verzeiht mir, Hoheit.“
„Es gibt nichts zu verzeihen. Sagt mir lieber, was mein Sekretär herausgefunden hat.“
Halldor grinste breit.
„Nun, ich habe einen kleinen Bruder.“
Nalia ergriff seine Hand und drückte diese sanft. Aus dem Grinsen wurde ein verträumtes Lächeln.
„Das freut mich für Euch, Halldor. Wir sollten dies feiern, wenn es die Zeit erlaubt. Aber jetzt haben wir erst mal einiges zu tun.“
Sie eilte weiter und rief ihm über die Schulter zu: „Schickt Gento bitte umgehend eine Nachricht wegen der Flotte.“
Halldor lächelte immer noch. Bis er die amüsierten Blicke der Leibwachen auffing, die Nalia hinterherliefen. Daraufhin machte er auf dem Absatz kehrt, um seinem Auftrag nachzukommen.
Die Königin eilte etliche Stufen hinauf und folgte einem ansteigenden Gang, der sich durch die Königsklippe zog. Hier gab es keinen Prunk, nur blanken Felsen. Alle fünf Meter beleuchteten Feuerschalen den Weg.
Von solchen Gängen gab es einige. Sie führten zu den Gemächern der Alchimisten und Magier, zu Alchemie- und Forschungshöhlen. Auch eine große Bibliothek gab es hier oben. Diese Abzweigungen ließ sie jedoch alle hinter sich, denn sie wollte zu ihrem Meistermagier.
Valamars Höhlen lagen hoch über dem Palast. Die Erbauer des Palastes hatten nicht nur die drei Gebäude in die Klippe integriert. Darüber befanden sich noch vier weitere Etagen, die jedoch nicht ausgebaut waren. Die vielen Höhlen sollten in Notzeiten als Schutz dienen. Hier war es stets kühl, sodass man über längere Zeit Lebensmittel lagern konnte, um zum Beispiel eine Belagerung auszusitzen. Zudem waren Gänge und Höhlen so angelegt, dass sie mit wenigen Soldaten zu verteidigen wären. Da es aber schon sehr lange Frieden gab, hatten sie die Höhlen umfunktioniert und den Alchimisten und Magiern zur Verfügung gestellt. Weit ab von den Palastbewohnern konnten sie hier oben ihren Experimenten und Forschungen nachgehen, ohne jemanden zu gefährden.
Nalia trat in eine große Höhle ein.
„Valamar, seid Ihr hier?“, rief sie.
Der Magier kam unvermittelt aus einem Seitengang und beugte ein Knie.
„Ich bin hier drüben, meine Königin.“
Er trug eine graue Robe, in deren viel zu langen Ärmeln seine Hände verschwanden.
„Was kann ich für Euch tun?“
Seine Ketten klimperten leise. Ein paar Funken stoben auf, als sich die Anhänger berührten. Das veranlasste Nalia zu einem Stirnrunzeln, doch sie ging an ihm vorbei und hielt auf einen dunklen Gang zu, der von zwei Wachen versperrt wurde. Die Männer traten hastig zur Seite, um ihre Königin passieren zu lassen.
„Kommt, Valamar. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich muss den Rat einberufen, und das auf schnellstem Wege.“
Der Magier schaute ihr verwundert nach, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann keuchte er entsetzt auf und beeilte sich, ihr zu folgen.
„Ihr wollt doch nicht die Garlitze wecken? Eure Hoheit, ich bitte Euch. Es gibt auch noch andere Boten.“
Die Königin reagierte nicht auf seine Worte und eilte weiter, bis sie ihr Ziel erreichte. Die lichtdurchflutete Höhle war mit Käfigen, hohen Regalen und drei Experimentiertischen ausgestattet. Mehrere Durchbrüche sorgten für Tageslicht und einen fantastischen Ausblick aufs Meer.
Nalia wartete ungeduldig auf Valamar, der nun endlich bei ihr ankam. Etwas außer Atem und seine Robe ordnend blieb er im Höhleneingang stehen.
„Valamar, wir haben wirklich keine Zeit. Ich brauche sechs Boten. Also beeilt Euch! Oder soll ich die Beschwörungen selbst sprechen?“
Seine Augen weiteten sich.
„Wieso sechs Boten? Für den Rat brauchen wir maximal zwei.“
Die Königin seufzte genervt.
„Ich brauche sechs. Eure Neugier muss vorerst warten, denn wie ich schon sagte – es eilt!“
Valamar rang nervös die Hände.
„Eure Hoheit! Wie Ihr wisst, verlangen sie nach Fressen, sobald sie erwachen. Und ich habe hier nicht so viele Ziegen.“
„Beginnt mit der Beschwörung! Die Ziegen sind bereits auf dem Weg hierher.“
Valamar sah sie noch einen Augenblick lang erschüttert an, dann verschwand er im hinteren Bereich der Höhle. Die Königin folgte ihm langsam und betrachtete die versteinerten Wesen an der Rückwand.
Die Garlitze wiesen Ähnlichkeit mit Bären auf. Sie waren jedoch größer und wuchtiger und besaßen kein Fell. Stattdessen hatten sie silberschimmernde Haut, die sich auch über die großen Schwingen spannte.
Valamar nahm eine Kette ab, an der ein fingerlanger grüner Kristall hing, und ging zum ersten Garlitz. Er befand sich auf Augenhöhe und drückte den Kristall gegen die Stirn des Wesens.
Der Magier flüsterte düstere und unverständliche Worte, die durch die Höhle hallten. Und jeder, der sie vernahm, bekam sofort eine Gänsehaut.
Nalia beobachtete Valamar genau. Auf seinem haarlosen Kopf bildeten sich Schweißtröpfchen, und beim fünften Garlitz begann seine Stimme zu zittern. Aber er führte die Beschwörungen bis zum Ende durch, was Nalia erleichtert aufatmen ließ. Valamar neigte schon mal dazu, etwas tollpatschig zu sein.
Nalia richtete ihre Augen auf den ersten Garlitz in der Reihe, dessen Verwandlung bereits begonnen hatte. Die Statue bekam feine Risse. Steinstaub rieselte zu Boden, und es knackte vernehmlich, als er eine Vorderpfote anhob. Der Stein platzte ab.
Das Meckern einiger Ziegen hallte zu ihnen. Valamar drehte sich um und eilte hinaus.
„Den Göttern sei Dank, gerade noch rechtzeitig“, hörte Nalia den Magier rufen.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf und ging ebenfalls in die andere Höhle. Dort standen drei Soldaten, jeder hatte vier Ziegen bei sich.
„Bindet je zwei Tiere an den Eisenringen fest!“
Dabei wies sie mit der Hand zu den Durchbrüchen.
„Danach geht auf Eure Posten zurück“, wies Nalia die Männer an.
Es dauerte einen Moment, weil sich die Tiere sträubten und an den Stricken zerrten, die um ihre Hälse lagen. Aber alle Gegenwehr nutzte nichts. Kaum waren die Männer draußen, kam der erste Garlitz aus der angrenzenden Höhle. Er ging steif und ungelenk, aber er witterte sein Futter und schnappte sich die erste Ziege. Die anderen Ziegen sprangen panisch durcheinander, und Nalia musste tief Luft holen. Es war wahrlich kein schöner Anblick, die armen Tiere in Todesangst zu sehen. Die magischen Wesen nahmen jedoch kein totes Fleisch an, und so blieb ihr keine andere Wahl.
Der Garlitz hatte die Ziege fast vertilgt. Knackende und berstende Geräusche erklangen, als seine starken Kiefer den Kopf zermalmten.
Von der Ziege blieb absolut nichts übrig, ebenso wenig von der zweiten, die er genauso schnell verschlang. So erging es auch den anderen Tieren, nachdem die übrigen Garlitze herbeigekommen waren.
Sichtlich zufrieden setzten sich die geflügelten Boten auf die Hinterbeine und warteten auf ihre Aufträge.
Nalia ging zum ersten und zog eine Lederrolle aus ihrem Beutel, die mit einem grünen Band verschnürt war. Sie streichelte dem Garlitz über den Kopf, als er diesen senkte, und flüsterte den Empfänger in sein aufgestelltes Ohr. Dann hielt sie ihm die Lederrolle hin, die er vorsichtig zwischen die Zähne nahm. Auf diese Weise verteilte sie auch die anderen Rollen und trat ein paar Schritte zurück. Jedem Einzelnen sah sie noch einmal in die grünen leuchtenden Augen.
„Habt ihr eure Aufträge verstanden?“, fragte sie.
Wie auf ein Kommando erhoben sich die magischen Wesen auf die Hinterbeine und senkten kurz die Häupter.
„Überbringt die Lederrollen. Und wartet auf eine Botschaft für mich. Erst wenn ihr diese erhalten habt, kehrt hierher zurück, und ihr werdet eure Belohnung erhalten. Nun macht euch auf den Weg. Die Zeit drängt!“
Die Garlitze sprangen aus den Durchbrüchen. Nalia wandte sich Valamar zu, der fragte: „Erklärt Ihr mir jetzt, was geschehen ist?“
Sie nickte und setzte sich in Bewegung.
„Ja, auf dem Weg nach unten. Ihr müsst einige Menschen kennenlernen, darunter einen Schamanen und eine Hexe. Es geht um die Beschwörung der Elemente, Zukunftsvisionen und die Gabe, mit Tieren zu sprechen. Des Weiteren werden wir ein fremdartiges Wesen begutachten.“
Nalia ging bereits durch den dunklen Gang und ließ einen sehr verwirrten Magier zurück.
„Valamar! Wollt Ihr nun mit mir kommen?“, ertönte Nalias Stimme.
Valamars Augen weiteten sich, als ihm die Worte der Königin so langsam klar wurden. Er eilte ihr nach.
Auf dem Weg in den Palast versuchte sie, ihm so viel wie möglich zu berichten von dem, was sich zugetragen hatte. Als sie schließlich im Bankettsaal ankamen, blieb sie stehen.
„Wisst Ihr schon, über welches Gift die Tiere verfügen, die ich Euch hinaufschicken ließ?“, fragte sie.
„Die Alchimisten arbeiten fieberhaft daran, bisher jedoch ohne Erfolg. Sobald sie etwas herausfinden, werden sie Euch umgehend in Kenntnis setzen.“
„Gut! Geht nun zu Mowanye und nehmt auch Respa mit hinzu. Lasst Euch alles über ihre Visionen berichten. Dann seht Euch bitte auch den jungen Mann an. Es muss eine Erklärung für seine wundersame Heilung geben.“
Valamar verbeugte sich und eilte davon, bis die Königin rief: „Die drei wurden im Gästehaus einquartiert, nicht im Thronsaal.“
Kurz blieb er stehen, murmelte etwas Unverständliches und lief in die richtige Richtung. Nalia sah dem Magier kopfschüttelnd hinterher. Er wirkte verwirrt, was nach diesen Nachrichten wohl kein Wunder war. Dann setzte auch sie sich in Bewegung.
2
Lea wanderte unruhig durch den Saal, in der Hoffnung, dass ihr jemand helfen würde. Es war ihr egal, von wem diese Hilfe kam, ob von den Heilern oder von der Königin.
„Verflucht, kann sich nicht noch einmal eine Tür öffnen? Ich will wissen, was die mit mir machen?“, dachte sie aufgebracht.
Sie war vorhin durch eine weiße leuchtende Tür gegangen und hatte das Gespräch zwischen ihrem Vater, dem Heiler und der Königin mitbekommen. Sie fragte sich zwar, wie es möglich sein sollte, in den Geist eines anderen Menschen vorzudringen, aber dies rückte in den Hintergrund, als sie die schwarze Tür sah. Nach ihrem Besuch in der Realität war sie plötzlich dagewesen. Und allein der Anblick bescherte Lea ein äußerst ungutes Gefühl.
Im Gegensatz zu den anderen Türen, die mitten im Saal erschienen und wahrscheinlich magischen Ursprungs waren, befand sich diese in einer Wand. Dennoch war es keine normale Tür, auch wenn sie auf den ersten Blick den Anschein erweckte. Zum einen tauchten Türen nicht urplötzlich auf, und zum anderen – bewegten sie sich nicht. Denn egal, zu welcher Wand Lea schaute – es dauerte keinen Herzschlag, bis diese Tür darin auftauchte.
„Sie hat etwas mit dem dunklen Nebel zu tun, der in meinen Körper eingedrungen ist“, dachte Lea.
Wieder lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie wusste genau, was es mit dem Dunst auf sich hatte, verdrängte diesen Gedanken jedoch.
„Und was ist, wenn die Königin diese Tür für mich erschuf?“
Ganz langsam ging Lea zur Tür und griff zögernd nach dem Knauf.
„Ich öffne die Tür. Wache auf, und dieser Alptraum hat ein Ende“, murmelte sie und drehte den Knauf.
„Du wirst nie mehr erwachen. Aber bevor ich dir dein Herz herausreiße und es vor deinen sterbenden Augen verspeise, werde ich zu deinem schlimmsten Alptraum.“
Lea starrte Medon an, der lässig an einer Reling lehnte.
„Das kann nicht sein“, flüsterte sie völlig entsetzt.
Er lachte böse und stand von jetzt auf gleich vor der Tür. Lea knallte sie hastig zu. Sie rannte in die hinterste Ecke und kauerte sich zitternd auf den Boden.
„Schon bald wirst du zu mir kommen“, hallte seine Stimme durch den Saal.
„Ich hätte niemals von Kalmar fortgehen sollen“, meinte Celvin.
Rion schaute seinen Sohn an.
„Ich habe es nie gutgeheißen, dass du fortgegangen bist. Aber nun sehe ich, was aus dir geworden ist. Ich bin stolz auf dich, Hauptmann.“
Celvin musste lächeln, als sein Vater ihn so nannte, doch die Laune hielt nicht lange an.
„Sagte die Königin, wann sie zu Lea möchte?“
„Nein. Sie wollte noch etwas erledigen und mich dann abholen.“
Es klopfte an der Tür. Beide sahen erwartungsvoll hin.
„Herein“, rief Rion und seufzte leise, als Geralt hereinplatzte.
„Ihr werdet es nicht glauben. Ich habe tatsächlich einen Bruder.“
Rion musterte Geralt, der sich ebenfalls umgezogen hatte. Er trug ein weißes Hemd, das vorne mit Bändern zugeschnürt war, eine schwarze Lederhose und schwarze Lederstiefel. Seine langen, dunkelblonden Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz
zusammengebunden.
„Lass mich raten. Es ist General Halldor.“
Geralt nickte Celvin grinsend zu.
„Hat dir Rion davon erzählt?“
„Nein, es war allerdings nicht schwer, das zu erraten.“
„Hast du Halldor nie von seinem Doppelgänger erzählt?“, fragte Rion.
„Sicher habe ich das. Aber Halldor dachte wohl, ich würde ihn auf den Arm nehmen.“
Celvin drehte sich etwas, sodass er Geralt ansehen konnte, der sich zu ihnen setzte.
„Wie hat er es denn aufgenommen, dass er nun einen Bruder hat?“
„Es wird für ihn ebenso seltsam sein wie für mich“, meinte Geralt achselzuckend.
„Aber sagt mir lieber, ob es Neuigkeiten von Lea gibt. Ist sie mittlerweile erwacht?“
„Nein, wir warten auf …“
Rion sprang auf die Füße, als Nalia plötzlich den Raum betrat. Nach einem kurzen Blick zu Celvin, der auf ein Knie ging, tat er es ihm nach. Geralt stand derweil vor seinem Sessel und wunderte sich ein wenig über das amüsierte Funkeln in Nalias Augen, bis Celvin ihm zuraunte: „Du stehst vor der Königin!“
Hastig kam er zwischen den Sesseln hervor und wollte gerade auf die Knie gehen, als die Königin lächelnd abwinkte.
„Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal“, meinte sie.
Dann sprach sie zu Rion und Celvin gewandt.
„Erhebt Euch!“
„Ist meine Tochter erwacht?“
„Nein, leider nicht. Deshalb werde ich gleich versuchen, in ihren Geist vorzudringen.“
„Haben die Alchimisten etwas herausgefunden, Hoheit?“, fragte Celvin.
„Bisher habe ich noch keine Rückmeldung erhalten.“
„Darf ich Euch zu meiner Schwester begleiten?“
„Schwester?“
Nalia sah von Celvin zu Rion und wieder zurück.
„Ich wusste zwar, dass Ihr Verwandtschaft auf Kalmar habt, aber nicht, dass es sich um Rion und Melea handelt. Wieso habt Ihr mir denn nichts gesagt, Hauptmann?“
„Na ja … immer, wenn ich zu Euch wollte, um mit Euch zu sprechen, wart Ihr unterwegs.“
Nalia seufzte kopfschüttelnd.
„Ich wäre auch gerne dabei“, sagte Geralt.
„Ich brauche absolute Ruhe. Daher werdet Ihr vor der Tür warten müssen. Vielleicht wäre es für Euch angenehmer, hierzubleiben. Es wird einige Zeit dauern.“
„Ich warte vor Leas Tür“, sagte Rion direkt.
„So wie ich“, setzte Geralt hinzu.
„Und ich!“
Nalia sah die drei der Reihe nach an und nickte.
„Also dann, meine Herren. Lasst uns gehen!“
Wenig später stand die Königin an Leas Krankenbett und atmete tief durch.
„Bitte überanstrengt Euch nicht, Hoheit“, sagte Helimus.
„Das sagt der Richtige. Ihr seht entsetzlich aus. Sobald ich hier fertig bin, werdet Ihr Euch mindestens einen Tag freinehmen. So, und jetzt setzt Euch und sorgt einfach nur dafür, dass ich nicht gestört werde. Es kann für die junge Frau und mich gefährlich werden, sollte ich aus der Trance gerissen werden.“
Helimus stellte einen Stuhl direkt neben die Zimmertür und setzte sich.
„Viel Glück, Eure Hoheit.“
Nalia atmete noch einmal tief durch und legte dann die Fingerspitzen auf Meleas Schläfen. Sie konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf das zarte Pochen darunter und wisperte in Gedanken Meleas Namen.
Nalia mochte es nicht, in den Gedanken anderer Menschen zu forschen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste Meleas Geist finden und wollte in den letzten Erinnerungen der jungen Frau forschen, weil sie sich dort wahrscheinlich verfangen hatte.
Um in die Erinnerungen eines Wesens zu gelangen, musste sie sehr tief in dessen Geist eindringen. Für gewöhnlich benutzte sie dazu ein Geflecht, das einer stark verästelten Wurzel ähnelte. Und jede noch so feine Wurzel war eine Erinnerung. Doch in Meleas Geist gab es ein solches Geflecht nicht.
Verwundert schaute Nalia einen langen Flur entlang, der sich irgendwo im dämmrigen Licht verlor.
„Was ist das hier?“
Zögernd ging sie los, blieb jedoch schon bald wieder stehen und hielt den Atem an. Dabei beobachtete sie verblüfft eine Tür, die sich in der rechten Wand manifestierte.
Langsam berührte sie das helle Eichenholz und tippte gegen den silbrig leuchtenden Türknauf.
Sie schaute noch einmal den Flur hinauf, aber es blieb bei dieser einen Tür.
„Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als nachzusehen, wohin sie führt“, dachte sie und drehte den Knauf.
Prompt erlitt sie Atemnot. Panik ergriff Nalia, als sie einen großen Hai erblickte, der auf sie zu schwamm. Zudem überkamen sie heftige Schmerzen in Augen und Schläfen, sodass sie eiligst in den Flur zurück flüchtete. Schwer atmend starrte sie die Tür an, dann ihr triefend nasses Kleid.
„Bei den Göttern“, wisperte sie.
Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie erlebt. Aber ihr war bewusst, dass sie soeben in einer von Meleas Erinnerungen gewesen war. Rion hatte ihr von der Geschichte mit dem Hai berichtet. Auch Mowanye wusste etwas darüber zu erzählen, da sich Melea ihm anvertraut hatte. Allerdings hätte Nalia diese Erinnerung als Außenstehende sehen müssen und nicht als Melea. Wenn sie in Erinnerungen eintrat, schwebte sie neben der Person. So konnte sie alles beobachten und sogar die Gedanken des anderen auffangen.
„Das gibt es nicht. Es ist einfach unglaublich“, murmelte sie.
Als sie aus dem Augenwinkel ein Flackern bemerkte, schaute Nalia nach links. Und starrte eine weitere Tür an, die sich fünf Schritte von ihr entfernt manifestierte.
„Da bin ich aber mal gespannt.“
Vorsichtshalber holte Nalia tief Luft, bevor sie die Tür öffnete. Sie fand sich an einem wunderschönen Sandstrand wieder. Sie spürte Wasser und feinen Sand zwischen den Zehen, da Melea durch seichtes Gewässer ging. Und immer wieder schaute sie zu Geralt, der neben ihr herlief.
„Was ist mit dir? Du bist so schweigsam“, fragte sie ihn schließlich.
Geralt blieb abrupt stehen, kramte in seinem Beutel, den er am Gürtel trug, und holte etwas heraus. Allerdings hielt er den Gegenstand in seiner geschlossenen Hand, sodass nichts davon zu sehen war.
„Ich habe auf dem Markt etwas entdeckt und musste direkt an dich denken. Aber jetzt bin ich mir nicht sicher, ob es dir gefällt.“
Er lächelte verunsichert, als er Meleas Hand nahm.
„Schließe bitte deine Augen.“
Da es dunkel wurde, war Melea wohl seiner Bitte nachgekommen. Nalia fühlte etwas Kühles, das um ihr oder vielmehr Meleas Handgelenk gelegt wurde. Dann drückte Geralt sanft ihre Finger.
„Ich hoffe, er gefällt dir.“
Lea öffnete ihre Augen, und Nalia betrachtete den Armreif, den die junge Frau nun am Gelenk trug. In den silbernen Reif waren zwei Seeschlangen aus Gold eingelassen. Sie standen ein wenig über, und ihre Köpfe überkreuzten sich mittig. Die Schlangen waren unglaublich detailgetreu. In Feinarbeit hatte der Schmied halbrunde Schuppen und die gespaltenen Zungen herausgearbeitet. Des Weiteren verfügten die Schlangen über dunkelgrüne Augen aus winzigen Smaragden.
„Das hat ein Meister angefertigt. Es wird eine Kleinigkeit gekostet haben“, dachte Nalia.
„Ich kann das unmöglich annehmen, Geralt.“
Er beugte sich hinab, bis er mit Lea auf Augenhöhe war.
„Gefällt er dir nicht?“
„Doch, er ist wunderschön, aber viel zu wertvoll. Der Reif muss ein Vermögen gekostet haben.“
Geralt lächelte erleichtert.
„Der Armreif gehört dir. Und ich will keine Widerrede hören.“
„Aber …“
„Nein“, unterbrach er sie.
Lea schüttelte verständnislos den Kopf.
„Womit habe ich ein solches Geschenk verdient?“
Geralt druckste eine Weile herum und betrachtete dabei eingehend seine Stiefel.
„Oh je, so schwer kann das doch nicht sein“, dachte Nalia.
„Nun ja, eigentlich wollte ich …“
Er wurde jäh unterbrochen, als Rion an der Baumgrenze auftauchte und nach den beiden rief.
„Was ist denn los bei euch? Das Essen wird nicht besser, je länger es über dem Feuer hängt.“
Melea und Geralt beeilten sich, zu ihm zu kommen und gingen dann schweigsam zum Haus. Nalia fand sich im Flur wieder.
„Was für ein Trottel. Warum sagt er ihr denn nicht, was er empfindet?“
Sie ging den Flur weiter entlang. Nach dreißig Schritten erschien eine neue Tür.
„Wozu der große Abstand? Die zweite Tür befand sich doch nur wenige Schritte neben der ersten.“
Sie wunderte sich zwar über diesen Umstand, drehte aber den Knauf und fand sich in eiskaltem Wasser wieder. Ihr Atem ging schwer, die Muskeln in Armen und Beinen brannten wie Feuer. Sie hörte Melea, wie sie Geralts Namen rief.
„Und ich dachte, er hätte übertrieben, als er diese Geschichte erzählte“, dachte Nalia.
Melea umklammerte Geralt tatsächlich mit den Beinen und einem Arm, um zu verhindern, dass er unter die Brücke gezogen wurde. Nalia spürte die unfassbare Erschöpfung der jungen Frau, aber auch den unbändigen Willen, Geralt auf gar keinen Fall loszulassen.
Nalia beobachtete mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination, wie die beiden es schließlich ans Ufer schafften. Dort machte Geralt seinem Ärger darüber, dass Melea sich derart in Gefahr gebracht hatte, Luft. Doch dann umarmte er sie fest und trug sie auf eine Anhöhe, wo der Boden einigermaßen fest war. Er selbst ging wieder zurück zum reißenden Bach, und Nalia lauschte Meleas Gedanken. Allerdings war es schwierig, einen Sinn darin zu finden, da Melea völlig durch den Wind war. Ihre Gedankengänge überschlugen sich förmlich, bis sie ihren Vater erblickte.
„Der ist ganz schön wütend“, dachte sie.
Rion kam die Anhöhe hinauf und Nalia keuchte schockiert auf, als er Melea auf die Füße zerrte und ihr eine Ohrfeige verpasste. So heftig, dass sie zu Boden ging. Entsetzt sah Melea auf, genau in dem Moment, als Geralt ihren Vater von den Füßen riss. Auch Geralt ging zu Boden, warf sich direkt auf Rion, schüttelte ihn durch und brüllte ihn an.
„Was hast du getan? Bist du wahnsinnig geworden, wie konntest du sie nur schlagen?“
Nalia warf die Tür ins Schloss und rieb ihre schmerzende Wange.
„Na warte, wenn ich dich in die Finger kriege“, regte sie sich auf.
„Das gibt’s ja wohl nicht.“
Sie ging weiter, und wieder waren es mehrere Schritte, bis sich erneut eine Tür manifestierte. Was sie dahinter erlebte, war für Nalia fast mehr als sie ertragen konnte. Dies lag nicht nur an dem kaltherzigen Geflügelten und den furchtbaren Dingen, die er getan und gesagt hatte. Vielmehr machten Nalia die unfassbaren Schmerzen und Gefühle von Melea zu schaffen.
Sie lehnte an der Wand neben der Tür und rieb sich fröstelnd über die Arme.
„Bei allen guten Göttern“, wisperte sie schockiert.
Sie schluckte hart, doch der dicke Kloß im Hals blieb.
„Schrecklich, was sie durchgemacht hat. Es würde mich nicht wundern, wenn sich ihr Geist aufgrund dieser Erlebnisse zurückgezogen hat.
Nalia richtete sich auf und ging dreißig Schritte bis zu einer weiteren Tür. Diese unterschied sich von den anderen, denn sie bestand nicht aus hellem, sondern aus fast schwarzem Holz. Und der Knauf funkelte auch nicht silbern – er schimmerte blutrot.
„Eine Tür schaffe ich noch.“
Nalia spürte, wie allmählich ihre Kräfte schwanden. Sie musste sich beeilen. Deshalb ignorierte sie das ungute Gefühl, das ihr diese Tür vermittelte und öffnete sie. Sofort überkam sie ein eisiger Schauer, als sie in einen düsteren Saal hineinsah. Es herrschte nur dämmriges Licht, sodass sie den Saal nicht überblicken konnte.
„Melea, bist du hier?“, fragte sie laut.
Nalia spürte, dass sie nicht allein war und rief in den Saal hinein.
„Ich bin hier, um dir zu helfen. Auch wenn du mich nicht kennst, so bitte ich dich, herauszukommen und …“
„Ihr seid die Königin von Mesu“, wurde sie unterbrochen.
Verwundert legte Nalia den Kopf schief.
„Woher weißt du das?“
Sie sah eine schattenhafte Bewegung, einige Meter von ihr entfernt.
„Ich schaffe es nicht, zu Euch zu kommen. Sobald ich einen Schritt auf Euch zugehe, entfernt Ihr Euch um zwei Schritte“, sagte Melea.
„Ich werde wohl für immer hier festsitzen.“
Nalia hörte pure Verzweiflung in der Stimme der jungen Frau.
„Nein, das wirst du nicht. Kannst du mich sehen, Melea?“
„Ja!“
Nalia streckte ihren rechten Arm in die Richtung aus, in der sie die Bewegung gesehen hatte.
„Du musst dich jetzt ganz fest auf meine Hand konzentrieren.“
Die Königin atmete schwer vor Erschöpfung, konnte und wollte aber nicht aufgeben.
„Stell dir vor, wie du sie ergreifst. Du darfst an nichts anderes denken. Und dann komm auf mich zu. Sieh nur meine Hand an.“
Nalia bemerkte wieder eine schattenhafte Bewegung. Wenig später konnte sie Meleas Konturen erkennen.
„Das machst du sehr gut. Gleich hast du es geschafft“, sagte Nalia keuchend.
Melea war noch fünf Schritte entfernt, als plötzlich ein fauchender Feuerball aus ihrer Brust heraus und auf Nalia zuschoss. Entsetzt schrien beide Frauen auf. Nalia warf sich auf den Boden, um nicht getroffen zu werden. Doch die Flammenkugel flog nicht über sie hinweg – sie verharrte vor ihrem Gesicht. Nalia sah zu Melea, die verzweifelt aufschrie. Als ob sie jemand an einem Seil zurückzog, stolperte sie rückwärts. Melea stemmte sich zwar dagegen, aber alle Gegenwehr half nichts.
„Nein, komm zurück“, rief Nalia.
Die Feuerkugel kam näher. Nalia stand schnell auf und wich zurück. In dem Moment formte sich ein Gesicht in den Flammen, und eine Frauenstimme schrie: „Jetzt noch nicht!“
Arme aus lohendem Feuer formten sich. Ehe Nalia reagieren konnte, prallten Hände gegen ihren Brustkorb. Sie wurde nicht nur aus der Tür geschleudert, sondern auch aus Meleas Geist.
Für einen kurzen Moment erwachte sie in der Realität, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie in jemandes Arme fiel.
3
„Warum hast du das getan? Sie wollte mir helfen!“, schrie Lea das Feuerwesen an.
Dieses schwebte vor ihrem Gesicht.
„Medon hätte sie getötet, was ich nicht zulassen konnte. Du hättest das sicherlich auch nicht gewollt. Aber ‚er‘ kommt! Er ist bereits auf dem Weg. Du musst durchhalten.“
Lea schüttelte unverständlich den Kopf.
„Wen meinst du?“
„Morkson“, wisperte die Flammenfrau und verschwand.
„Bleib hier! Und sag mir, was los ist, verdammt“, schrie Lea.
Mit der Faust schlug sie wütend auf den Boden und traf dabei etwas Glitschiges.
Lea starrte die Kreatur an. Sie keuchte erstickt auf, weil sich plötzlich der gesamte Boden bewegte. Zu Dutzenden kamen die aalähnlichen Wesen auf sie zugeschlängelt. Hastig sprang sie auf die Füße.
Lea rannte zur anderen Seite des Saals, wo sie sich an die Wand kauerte. Mit zittriger Hand fuhr sie sich übers Gesicht und bemerkte sofort die feuchte Wärme an der Wange.
„Verdammt!“
Sie betrachtete ihre aufgeplatzten Fingerknöchel und beobachtete einen Blutstropfen, der zwischen ihren Füßen auf den Boden fiel. Dort begann der Tropfen, Blasen zu werfen, als würde er kochen.
„Was zum Henker …“
Lea unterbrach sich selbst, als sich plötzlich ein winziges Aalwesen in ihrem Blut wand. Wenig später war vom Blut nichts mehr da, dafür hatte das Wesen seine Länge verdoppelt. Und es wuchs noch weiter. Lea erhob sich und ging rückwärts an der Wand entlang. Keine drei Schritte später rutschte sie auf einem anderen Wesen aus. Indem sie wild mit den Armen ruderte, verhinderte sie einen Sturz. Sie bekam etwas zu fassen, das sich an der Wand befand. Als sie jedoch sah, worum es sich handelte, ließ sie den Knauf hastig los. Sie starrte die schwarze Tür einen Moment lang fassungslos an, bevor sie sich abwandte und drei Schritte nach vorne stolperte. Mit einem Aufschrei sprang sie direkt wieder zurück und sah sich leise wimmernd um.
Die Tiere kamen von allen Seiten und ließen absolut keine Lücke, durch die Lea hätte fliehen können. So blieb ihr nur noch ein Ausweg.
„Ich werde ganz leise hindurchschlüpfen und mich irgendwo verstecken“, dachte sie.
Nalia schlug die Augen auf und wusste sogleich, was geschehen war. Sie schreckte hoch. Dies führte jedoch zu heftigem Schwindel und dröhnenden Kopfschmerzen, weshalb sie erst mal stöhnend ihre Schläfen massierte.
„Nicht so hastig, meine Königin. Lasst es langsam angehen.“
Nalia blickte auf und schaute Helimus verwirrt an, der auf ihrer Bettkante saß.
„Wie komme ich hierher?“
Er überging ihre Frage und reichte ihr einen Kelch mit Wasser.
„Wie fühlt ihr Euch?“
Nalia nahm den Kelch entgegen.
„Wenn ich sage gut, werdet Ihr mir wahrscheinlich nicht glauben.“
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, weil sich ihr Magen lautstark meldete. „Aber Ihr werdet zufrieden sein, wenn ich Euch sage, dass ich einen Bärenhunger habe.“
Helimus sah sie ernst an.
„Das ist kein Wunder. Ihr habt seit fast zwei Tagen nichts mehr zu Euch genommen.“
Der Kelch fiel Nalia aus der Hand.
„Was sagt Ihr da?“, fragte sie entsetzt.
„Ihr wart am Abend des vorgestrigen Tages bei dem Mädchen. Und Ihr wart fast drei Stunden lang in ihren Geist vertieft, bevor Ihr schreiend zusammengebrochen seid und bewusstlos wurdet.“
Nalia sah ihn noch einen Moment schockiert an. Dann sprang sie aus ihrem Bett. Auf dem Weg zu ihrem Ankleidezimmer hielt sie jedoch inne und wandte sich ihm noch einmal zu.
„Ich habe nicht von Alatheus geträumt.“
„Immerhin eine gute Nachricht.“
„Was ist mit Melea?“, fragte Nalia alarmiert.
„Vier meiner besten Heiler sind bei ihr und versorgen ihre Wunden, soweit dies möglich ist.“
„Wunden?“
Helimus seufzte anhaltend und blickte kopfschüttelnd zu Boden.
„Kleidet Euch erst mal an, dann können wir …“
„Sprecht!“
„Es ist uns ein Rätsel, aber Melea erleidet immerzu neue Verletzungen. Angefangen von heftigen Prellungen bis hin zu tiefen Kratzspuren und sogar den einen oder anderen Knochenbruch.“
„Bei den Göttern! Ich muss …“
„Ihr werdet Euch erst mal von der letzten Reise in Meleas Geist erholen. In Eurem derzeitigen Zustand werdet Ihr nämlich nicht weit kommen. Das wisst Ihr auch.“
„Wir müssen etwas tun.“
„Die Alchimisten sind noch nicht so weit. Das Gift dieser Biester ist mit nichts zu vergleichen, was wir bisher kannten. Also ist es derzeit an uns Heilern, dem Mädchen zumindest Linderung zu verschaffen.“
Helimus bemerkte Nalias feuchte Augen, auch wenn sie sich von ihm abwandte und im Nebenraum verschwand. Von dort erscholl ihre Stimme.
„Sagt dem Pagen, er soll mir den obersten Magier herschaffen, und zwar sofort. Und dazu möchte ich General Halldor sehen. Und die Herren Rion und Geralt.“
Helimus erhob sich, als sie noch hinzufügte: „Ach ja, und Hauptmann Celvin.“
„Meine Königin, mit Geralt wird es leider ein Problem geben.“
Nalia kam ins Schlafgemach zurück und setzte sich auf einen Stuhl, um ihre Schuhe anzuziehen.
„Wieso?“
„Als Ihr aus Eurer Trance erwacht seid, habt Ihr mehrmals laut geschrien. Na ja, und da die Wachen Euch nicht zu Hilfe eilen wollten, schlug Geralt zwei Männer nieder und stürmte ins Zimmer. Er fing Euch auf, bevor Ihr auf den Boden aufschlagen konntet.“
Die Königin musste sich ein Lächeln verkneifen.
„Ah ja. Was geschah dann? Jetzt lasst Euch doch nicht jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen.“
„Als er Euch neben das Mädchen aufs Bett legte, kamen weitere Wachen herein und verhafteten ihn.“
Nalias Augen verengten sich.
„Auf wessen Befehl hin?“
„Auf Befehl des Kommandanten der Königswache. Er ließ ihn in den Kerker schaffen.“
Nalias Augen sprühten vor Zorn.
„Er hat was? Holt Geralt da raus und bringt mir Kommandant Sarus! Was denkt der sich?“
Helimus verbeugte sich und eilte hinaus, bevor ihr noch etwas einfallen konnte. Im Vorraum rief er vier Diener herbei und schickte sie los, um Sarus, Rion, Valamar und Halldor in den Audienzraum zu holen. Er selbst eilte zu Celvin, um mit ihm zusammen Geralt aus dem Kerker zu befreien.
Nachdem Nalia sich fertig angekleidet und frisch gemacht hatte, begab sie sich in den großen Audienzraum, der direkt an ihre Gemächer grenzte. Die großen Flügeltüren waren geschlossen, trotzdem hörte sie aufgeregte Stimmen auf dem Flur und atmete tief durch.
„Lass sie herein“, sagte sie zu ihrem Diener.
Sie setzte sich in ihren Sessel, da sie noch immer etwas wackelig auf den Beinen war. Als endlich alle versammelt waren, sah sie jeden Knieenden eindringlich an. Bis ihr Blick am Kommandanten der Königsgarde hängenblieb. Dieser stand mit hoch erhobenem Haupt hinter den anderen und drängte sich nun zwischen Rion und Geralt hindurch nach vorn. Nalias Gesicht verhärtete sich. Wie so oft gaffte er sie anzüglich an.
„Erhebt Euch bitte“, sagte sie freundlich an die übrigen Anwesenden gewandt.
Ihre Stimme nahm einen verärgerten Unterton an, als sie den Kommandanten ansprach.
„Erstattet Bericht, wieso Ihr einen meiner Gäste in den Kerker einquartiert habt.“
Sarus verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
„Eure Hoheit! Dieser Kerl hat zwei meiner Männer niedergeschlagen und drang in einen Raum ein, obwohl der Zutritt von Euch untersagt wurde. Da Ihr nicht ansprechbar wart, habe ich ihm das zukommen lassen, was er für dieses Verhalten verdiente.“
Nalia waren eben schon etliche Prellungen aufgefallen, die Geralts Gesicht zierten.
„Und was habt Ihr ihm zukommen lassen?“, fragte Nalia mühsam beherrscht. Auf Sarus’ Gesicht erschien ein süffisantes Lächeln.
„Nun ja, ich ließ ihn halt in den Kerker werfen.“
Geralt verzog verächtlich das Gesicht und sagte halblaut: „Feigling!“
Daraufhin drehte sich Sarus zu ihm um und herrschte ihn an.
„Haltet den Mund. Ihr wurdet nicht gefragt, oder soll ich Euch gleich wieder abführen lassen?“
Geralt wollte aufbegehren, wurde aber von Rion am Arm gepackt. Halldor legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders. Nalia fiel auf, wie sehr der General die Kiefer aufeinanderpresste. Sie sah in seinen Augen, wie zornig er war.
„So wütend habe ich ihn noch nie gesehen“, dachte Nalia.
„Tretet vor, Geralt! Berichtet mir bitte, was geschehen ist.“
Er räusperte sich leise und kam nach vorn.
„Wir haben eine lange Zeit vor der Tür gewartet, Eure Hoheit, und wurden allmählich nervös. Es zerrte an den Nerven, drei Stunden lang dort zu stehen und nicht zu wissen, was vor sich ging. Als wir dann Eure Schreie hörten, wollten uns die Wachen den Zutritt verwehren. Die beiden Männer beharrten darauf, dass Ihr unter keinen Umständen gestört werden wolltet. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ihr zum Spaß geschrien hattet. Ich dachte, es sei etwas Schlimmes passiert und verschaffte mir Zugang, indem ich die beiden niederschlug. Als ich ins Zimmer kam, sah ich Euch wanken und fing Euch auf, bevor Ihr zu Boden stürzen konntet. Der Heiler kann das bestätigen, denn auch er wollte Euch zu Hilfe eilen, aber ich war eben
schneller.“ Geralt grinste Helimus entschuldigend an. Nalia konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen. Sie nickte Geralt zu.
„Erzählt weiter! Was geschah dann?“
Geralt wurde ernst und drehte den Kopf zu Sarus.
„Dann kam der da, mit vier Wachen, und ließ mich in den Kerker werfen. Er scheute auch keine Mühen, mich persönlich in meiner Zelle aufsuchen.
Er befahl drei Männern, mich festzuhalten, bevor er auf mich einprügelte. Seine Soldaten taten dies nur widerwillig, aber er drohte ihnen wegen Befehlsverweigerung mit dem Strang.“
Kommandant Sarus verfiel in lautes Gelächter.
„Das werdet Ihr ihm doch nicht abnehmen, Eure Hoheit?“
Nalias Gesicht verfinsterte sich zusehends.
„Wer waren die Wachen, die mit Euch unten waren?“
Sarus hob abwehrend die Hände.
„Ich war nicht bei diesem Verrückten. Das bildet der sich ein.“
Geralt machte drohend einen Schritt auf ihn zu.
„Klar! Und die Wunden habe ich mir selbst geschlagen, oder was?“
Nalia erhob die Stimme.
„Genug jetzt! Hauptmann Celvin, habt Ihr von den Männern diesbezüglich etwas gehört?“
„Bisher nicht, meine Königin. Ich werde jedoch nicht lange brauchen, um in Erfahrung zu bringen, wer dabei war.“
Die Königin nickte und hatte durchaus bemerkt, dass Celvin keinen Zweifel daran ließ, wem er glaubte.
„Holt sie hierher!“
Celvin verbeugte sich und verließ eilig den Raum. Halldor baute sich mit verschränkten Armen vor Sarus auf. Der Kommandant schaute zu Boden.
„Ich habe noch einiges zu tun, Hoheit. Ihr entschuldigt mich bestimmt.“
„Nein, Sarus, Ihr werdet bleiben“, sagte Nalia.
Er wurde zunehmend nervöser, trat von einem Fuß auf den anderen und zupfte unablässig an seinem Umhang.
„Noch habt Ihr Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen, Sarus.“
„Das habe ich, Hoheit“, sagte er empört.
„Nun, das will ich für Euch hoffen.“
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Celvin mit drei Männern der Königsgarde zurückkehrte. Sie fielen vor der Königin auf die Knie und Nalia befragte sie. Und alle drei bestätigten Geralts Aussage.
Nalia lächelte, als sie sich an den Kommandanten wandte.
„Sarus, ich enthebe Euch sämtlicher Titel. Des Weiteren werdet Ihr vorerst in einem anderen Quartier unterkommen. Zumindest so lange, bis ich eine Entscheidung getroffen habe, wie ich mit Euch weiter verfahre.“
Nalia nickte den drei Soldaten zu, die immer noch vor ihr knieten.
„Führt ihn ab und bringt ihn in die gleiche Zelle, in der Geralt verharren musste.“
Sein grauer Bart zitterte, als er die Königin anflehte.
„Eure Hoheit, dass könnt Ihr doch nicht tun. Nicht in dieses finstere Loch.“
„Oh doch, ich kann! Geralt hat absolut vorbildlich gehandelt, im Gegensatz zu Euren Männern. Die hätten mich sehr wahrscheinlich verrecken lassen, wäre etwas Ernsthaftes passiert. Und das nur, weil sie falsch ausgebildet wurden.“
Halldor baute sich vor Sarus auf.
„Ich werde Euch später einen Besuch abstatten“, sagte er leise und drehte sich zu den Wachen um.
„Abführen!“
Die Männer nahmen Sarus in die Mitte und brachten den feisten Mann hinaus.
„Geralt, ich möchte mich bei Euch entschuldigen und bedanken.“
„Bedanken? Wofür?“
„Ihr habt mich vor dem harten Steinboden bewahrt.“
Er grinste und verbeugte sich galant. Nalia musste lächeln, als Halldor ihn zurückzog und Geralt die Sicht auf sie versperrte. Sie wurde jedoch sofort wieder ernst.
„Was gibt es Neues von unseren Schiffen, General?“
„Es ankern etwa einhundertfünfzig Schiffe vor Kalmar. Wir kommen allerdings nicht nahe genug heran, um festzustellen, wie sie bewaffnet sind. Denn sobald sich unsere Schiffe nähern, greifen die Aalwesen an. Die Biester besitzen Saugnäpfe an den Unterseiten und haben keinerlei Probleme, auf unsere Schiffe zu kommen. Zudem überfliegen große Kreaturen mit riesigen Schwingen unsere Flotte. Die Beschreibung passt zu dem Wesen, das die Seeschlange angegriffen hat.“
Die Königin atmete tief durch.
„Solange diese Kreaturen nicht angreifen, soll sich die Flotte ruhig verhalten und Abstand wahren. Valamar und ich werden uns etwas einfallen lassen, wie wir die feindlichen Schiffe auskundschaften können. Aber darüber sprechen wir später noch einmal. Kommt in einer Stunde hierher.“
Nalia entließ Halldor. Der eilte direkt aus dem Audienzraum, wahrscheinlich, um Sarus einen Besuch abzustatten.
„Und nun zu Euch, Valamar. Habt Ihr etwas über die Elementarzauber in Erfahrung bringen können?“
Der Magier kam zögernd näher.
„Ich habe mit Mowanye und Respa gesprochen. Und wenn ich ehrlich bin, verstehe ich so einiges nicht. Es ist eine Beschwörung dafür notwendig, soviel ist schon mal sicher. Allerdings unterscheiden sich die Rituale der beiden völlig, ebenso die Wesen, von denen sie die Visionen erhalten. Mowanye möchte heute Abend ein Ritual durchführen, und ich darf ihm dabei zusehen. Vielleicht bringt dies etwas Licht ins Dunkel.“
Nalia nickte dazu.
„Das halte ich für eine sehr gute Idee.
Geralt, Ihr habt mir doch erzählt, Melea würde eines dieser Feuerwesen in sich tragen.“
„Ja, das stimmt.“
Die Königin versuchte, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie weitersprach.
„Wie Ihr wisst habe ich versucht, Melea zu helfen. Ich fand sie auch und schaffte es fast, sie zurückzuführen. Aber ich wurde von diesem Feuerwesen daran gehindert, es griff mich an. Auch wenn ich der Meinung bin, dass es mich nicht verletzen wollte, so hat es mich doch ziemlich unsanft aus Meleas Geist geworfen.“
Begeisterung schwang in Valamars Stimme mit.
„Das ist ja unglaublich! Wie sah es aus? Besaß das Feuer eine bestimmte Form, oder …“
„Valamar, wir können uns später darüber unterhalten.“
Sie wandte sich wieder Geralt zu.
„Wäret Ihr so freundlich, Mowanye und Respa hierherzubringen? Ich möchte mit den beiden darüber sprechen, bevor ich erneut versuche, Melea in die Realität zurückzuholen.“
Geralt setzte sich sofort in Bewegung.
„Ich werde die beiden holen.“
Nalia wandte sich nun wieder an Valamar.
„Gibt es schon Nachrichten aus den anderen Reichen?“
„Nein, Eure Hoheit. Ich war aber auch schon seit drei Stunden nicht mehr oben. Ich habe mit einem meiner Lehrlinge und den Herren Rion und Jon das Wesen begutachtet, welches am Strand gefunden wurde.“
„Was habt Ihr herausgefunden?“
„Rion und Jon sind sich sicher, dass es der gleichen Art angehört wie das Wesen, das sie auf Kalmar sahen. Es ist sehr faszinierend. Ihr solltet Euch selbst ein Bild davon machen.“
„Das werde ich. Und Ihr solltet nachschauen, ob der eine oder andere Garlitz zurückgekehrt ist.“
Er verbeugte sich.
„Ja, Eure Hoheit.“
Da der Magier keine Anstalten machte zu gehen, sah Nalia ihn noch einen Moment lang vielsagend an. Schließlich verdrehte sie die Augen.
„Jetzt!“
Valamar schaute verdutzt zu ihr auf, bis sich seine Augen ein wenig weiteten.
„Oh, natürlich! Ich bin schon unterwegs.“
Helimus, der neben der Königin Aufstellung genommen hatte, bat darum, ebenfalls gehen zu dürfen. Und als auch er aus der Tür war, schaute Nalia den verbliebenen Gast an.
„Kommt, Rion. Lasst uns zum Kamin gehen, dort ist es ein wenig gemütlicher.“
Nalia erhob sich und sprach zwei Wachen an, die an der Flügeltür standen.
„Schickt mir Inyan herein. Ihr dürft die Türen von draußen bewachen.“
„Aber, Hoheit …“
„Raus!“
Rions Augenbrauen hoben sich wegen des ungewohnt harten Tons, den die Königin bei dem Wort anschlug. Auch die beiden Leibwachen schauten verdutzt drein, bevor sie schließlich dem Befehl nachkamen. Kaum waren sie draußen, kam ein Diener herein.
„Hoheit?“
„Inyan, sei so gut und bring uns etwas zu essen und einen Krug Wein.“
Er verbeugte sich und eilte wieder hinaus. Nalia ließ sich in der Kaminecke nieder.
„Wollt Ihr nicht mit mir sprechen?“
Rion stand immer noch an Ort und Stelle, ging aber nun zu ihr und setzte sich seufzend in einen Sessel.