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8. Mond, im 988. Jahr der Barriere

Medon

1

Leas erster Weg führte an die Reling, wo sie mehrmals erbrechen musste.

„Du solltest dich ausruhen, Lea. Am besten gehst du gleich runter und legst dich eine Weile hin.“

Rion streichelte beruhigend über ihren Rücken. Lea musste erst mal tief durchatmen, bevor sie etwas sagte.

„Ich möchte gerne hier oben bleiben, die kühle Luft tut mir gut.“

Kopfschüttelnd führte Rion sie zum Bug, wo Geralt direkt auf sie zukam.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er besorgt, als er Lea ansah.

Rion schüttelte den Kopf und erzählte.

„Respa musste den Kopf rausschneiden, weil das Mistvieh Gift in Leas Körper pumpte. Es war eine äußerst schmerzhafte Prozedur, und jetzt ist ihr übel.“

Geralt beugte sich vor, um Lea in die Augen sehen zu können.

„Dann solltest du dich vielleicht etwas hinlegen.“

Sie verdrehte genervt die Augen und murmelte irgendetwas Unverständliches, woraufhin Rion grinsen musste.

„Glaub mir, dasselbe habe ich ihr auch schon gesagt. Aber sie möchte an der frischen Luft bleiben.“

„Also gut, dann kommt mit“, sagte Geralt seufzend.

Er führte die beiden auf den Aufbau, der von einem niedrigen Holzgeländer umgeben wurde. Sander stand hier oben, mit einem Kurzspeer in der einen und einer Fackel in der anderen Hand, und schien das Steuerrad zu bewachen.

Geralt trat auf ihn zu.

„Ich bringe dir Verstärkung.“

Sander lächelte Lea an, als sie an ihm vorbeiging.

„So, Lea. Hier oben kannst du dich hinsetzen. Und wenn irgendetwas sein sollte, dann schickst du Sander zu uns“, sagte Geralt.

Sie setzte sich tatsächlich direkt hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen das nasse Holzgeländer. Dann schluckte sie angestrengt.

„Ja, mach ich!“

Rion ging vor ihr in die Hocke.

„Es dauert nicht mehr lange, gleich sind wir hier weg.“

Geralt nahm Sander zur Seite und sprach leise mit ihm.

„Du hast jetzt eine ganz wichtige Aufgabe. Du musst auf Lea aufpassen. Wenn es ihr schlechter geht oder irgendetwas anderes nicht stimmt, dann sagst du Rion oder mir sofort Bescheid. Schaffst du das?“

„Ja, Sander schafft das!“

Geralt trat nun an Rion heran.

„Komm, wir müssen das Hauptsegel kontrollieren und uns um die Ruder kümmern. Die anderen halten Wache, damit wir keine bösen Überraschungen mehr erleben.“

Die beiden verabschiedeten sich von Lea und machten sich an die Arbeit.

Kaum dass sie fort waren, stöhnte sie leise und legte den Kopf in den Nacken. Ihr war richtig übel, und ihr Arm brannte wie Feuer.

„Dein Hemd ist kaputt! Warum?“, fragte Sander.

Lea räusperte sich und drehte den Kopf zu ihm. Da sie nicht die ganze Geschichte erzählen wollte, sagte sie nur: „Es ist vorhin beim Kampf gegen die Biester kaputtgegangen.“

Er deutete auf den Verband.

„Hast du dir dabei auch wehgetan?“

Wieder blickte sie zu Sander auf, wobei sie einen großen Schatten bemerkte, der über sie hinwegglitt.

„Tut es noch weh?“

„Nein, Sander, es ist alles in Ordnung.“

Mit verengten Augen suchte sie den Himmel ab, und ganz kurz erblickte sie einen weiteren Schatten unter den finsteren Wolkenbergen hinweggleiten.

„Was war das?“, flüsterte sie und sagte: „Hol Geralt oder meinen Vater! Beeil dich!“

Sander hielt erschrocken die Luft an.

„Geht es dir wieder schlecht?“

„Sander, tu einfach, was ich dir sage. Sofort“, rief sie.

Erschrocken ging er ein paar Schritte rückwärts und prallte gegen etwas. Lea bekam große Augen, denn es sah so aus, als würden ihm Flügel wachsen. Dann erhob sich eine große Gestalt hinter ihm.

„Renn weg!“, schrie sie ihn an.

Sander drehte sich langsam zu dem Hindernis um. Seine Fackel spiegelte sich im schwarzem Metall eines Brustpanzers. Als er die Fackel höher hielt, sah Lea fasziniert und entsetzt zugleich dabei zu, was sich ihnen offenbarte. Oberhalb des Brustpanzers kam ein kräftiger Hals mit wulstigen Muskelsträngen zum Vorschein, dann ein breites Kinn und ein hämisch grinsender Mund, der lange Eckzähne entblößte. Diese stachen weiß hervor, da die Haut der Kreatur nachtschwarz war. Zudem musste Sander seinen Arm fast ganz ausstrecken, um das Gesicht der Kreatur zu beleuchten. Aber das war zu viel für ihn. Abrupt ließ er die Fackel sinken, wobei das flackernde Licht die riesigen, abgespreizten Schwingen der Kreatur aus der Dunkelheit riss.

Sander ließ die Fackel fallen, drehte sich zu Lea um und machte einen Schritt in ihre Richtung. Dies ließ sie aus ihrer Erstarrung erwachen, und sie stand hastig auf. Dann ging alles blitzschnell.

Sander wurde von hinten gepackt, verlor den Boden unter den Füßen, und Lea brüllte aus Leibeskräften.

„Nein!“

Sie rannte auf ihn zu, sprang hoch und klammerte sich an Sanders Schultern fest.

„Wir brauchen Hilfe!“, schrie sie.

Die Kreatur musste unglaublich stark sein, denn sie erhob sich weiter in die Luft und hielt sich nun, trotz des Gewichtes, ein paar Meter über dem Schiff. Allerdings gewann er nicht sehr schnell an Höhe.

Die schwarzen Schwingen erzeugten beachtlichen Wind. Lea musste ihre Augen zusammenkneifen.

„Melea, lass ihn los“, brüllte ihr Vater von unten.

„Nein, niemals“, schrie sie.

Dabei sah sie in Sanders Augen. Sie würde diesen ängstlichen Blick wohl niemals vergessen.

„Keine Angst, ich lasse dich nicht allein. Wir schaffen das“, versuchte sie, ihn zu beruhigen.

Allerdings ließ ihre Kraft allmählich nach. Sie zog sich mühsam noch ein Stück höher. Vor Schmerzen stöhnte sie auf. Aber sie schaffte es, Sanders Oberkörper mit ihren Beinen zu umklammern. So hatte sie mehr Halt und konnte zumindest einen Arm nutzen. Sofort ballte sie ihre Hand zur Faust und schlug nach dem Kopf der Kreatur. Die Schmerzen, die ihr dabei durch den Arm schossen, versuchte sie zu ignorieren. Sie vergaß diese tatsächlich, als sie plötzlich das Gesicht des Wesens sehen konnte. Und dessen amüsiertes Grinsen. Dies veranlasste Lea, erneut zuzuschlagen. Sie landete einen Treffer auf der Nase. Außer einem unwilligen Knurren und dem Erlöschen seines Grinsens erfolgte jedoch keine weitere Reaktion.

Also holte Lea erneut aus, doch dieses Mal fing er ihre Hand ab. Sander rutschte ein Stück nach unten.

Die Kreatur hielt Sanders und ihr Gewicht jetzt nur noch mit einem Arm.

„Melea, lass endlich los“, brüllte ihr Vater wieder.

Der Geflügelte löste ihre Hand, ergriff grob ihr Kinn und zwang sie, in sein Gesicht zu sehen.

„Dich werde ich mitnehmen. Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben, kleine Schönheit“, grollte er mit tiefer Stimme.

„Ganz sicher nicht“, keuchte Lea.

Er hob Sander und somit auch sie höher, und Leas Gedanken überschlugen sich. Angespannt suchte sie nach einer Lösung, doch Sander wimmerte in einem fort, und unter ihnen herrschte das reine Chaos. Alle schrien durcheinander. Jon brüllte nach seinem Sohn, und Geralt und Rion riefen nach ihr. Das alles bekam sie mit, während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch dann verschwanden die Geräusche plötzlich, und sie vernahm das Pochen ihres Herzens. Es dröhnte fast schon in ihren Ohren, als sie beobachtete, wie der Geflügelte den Mund aufriss, seine kräftigen Eckzähne entblößte und diese in Sanders Nacken rammte. Ihr Herz setzte aus. Als sie Sanders Namen brüllte, vernahm sie wieder die normale Geräuschkulisse. Und das Schmatzen des Geflügelten, der genüsslich Sanders Blut trank. Dabei hielt er immer noch ihren Kiefer fest, und es schien ihm nicht im Geringsten etwas auszumachen, dass sie nach ihm schlug und sogar seinen Unterarm aufkratzte.

„Hör auf, du Bestie!“, schrie sie.

Seine kalten Augen, mit denen er sie die ganze Zeit anstarrte, funkelten amüsiert. Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie zu Sander schielte, der leise stöhnte.

„Bitte, lass ihn gehen“, presste sie mühsam hervor, da der Griff der Kreatur um ihr Kinn fester wurde.

Es war zu spät. Sanders Kopf fiel haltlos nach vorn, und Lea sah entsetzt den zerfleischten Nacken. Der Geflügelte lachte, als Lea zu würgen begann.

„Verzeih, wie unhöflich von mir! Willst du auch was?“

Er ließ ihr Kinn los, packte stattdessen ihren Hinterkopf und drückte ihr Gesicht in die blutende Wunde. Lea schrie gedämpft und schlug auf ihn ein, was jedoch nichts brachte. Sie krallte ihre Finger in seine langen Haare und riss heftig daran. Endlich nahm er seine Pranke fort, aber dafür ließ er Sander los und legte seinen Arm um ihre Körpermitte.

Lea stöhnte auf, hielt Sander aber noch mit ihren Beinen fest. Zornig sah sie zu dem Biest auf. In dem Moment spürte sie, dass jemand an ihrem Hosenbein zog. Das rückte jedoch in den Hintergrund, als der Geflügelte nach ihrem verletzten Oberarm griff. Er drückte unerbittlich zu, aber Lea tat ihm nicht den Gefallen, zu schreien. Sie presste die Kiefer so hart aufeinander, dass diese protestierend knirschten. Die Schmerzen nahmen zu, als er nun auch noch die Kralle seines Daumens in den Verband drückte.

Lea kämpfte darum, nicht besinnungslos zu werden. Dabei half ihr der Geflügelte, denn er schürte ihre Wut, als er sagte: „Lass ihn los! Ich brauche Platz für die nächste Mahlzeit.“

„Niemals, du elender Mistkerl“, giftete sie ihn unter Tränen an.

Lea wusste, dass sie verloren wäre, sobald sie Sander losließ. Außerdem wollte sie nicht herausfinden, ob er sich sofort ein neues Opfer holen würde.

Der Geflügelte lachte dunkel.

„Mistkerl? Du kannst mich ruhig bei meinem Namen nennen. Man nennt mich Medon.“

„Mistkerl passt besser zu dir“, keuchte Lea.

„Hoffentlich fällt den anderen langsam mal was ein“, dachte sie gequält.

Genüsslich leckte sich Medon mit seiner schwarzen Zunge über die Lippen.

„Außer seinen Augen und den Zähnen ist alles schwarz an ihm“, dachte Lea.

Er hielt ihren Arm noch immer fest gepackt. Seine Augen funkelten vergnügt, als er fragte: „Es hat dir gefallen, nicht wahr?“

Jemand schlug mit einem Gegenstand gegen Leas Bein.

„Na endlich“, dachte sie erleichtert.

Um den Gegenstand greifen zu können, musste sie allerdings den Arm lösen, mit dem sie Sander am Hemdkragen festhielt. Und sie befürchtete, da ihre Beine heftig zitterten und die Muskeln mit jedem Lidschlag mehr verkrampften, dass sie ihn dann nicht mehr halten könnte. Aber es war ihre einzige Chance. Sie nahm alle Kraftreserven zusammen, als sie ihre Hand löste und ganz langsam den Arm ausstreckte. Sie ertastete etwas Heißes. Ein leiser Fluch folgte, und als sich der Geflügelte anspannte und über Leas Schulter nach unten schauen wollte, ließ sie ­Sander los. Dies veranlasste Medon zu einem hämischen Grinsen, doch bevor er Sanders Absturz kommentieren konnte, riss Lea ihren Arm hoch.

„Mistkerl!“, schrie Lea und rammte ihm die brennende Fackel ins Gesicht. Medon brüllte gepeinigt, schlug mit beiden Händen nach der Fackel, und Lea stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Der Sturz dauerte keinen Lidschlag. Sie wurde von jemandem aufgefangen, der mit ihr zu Boden ging.

Hastig rollte sie sich zur Seite und erblickte in vier Metern Höhe Medon. Er brüllte schmerzerfüllt und wutentbrannt zugleich, schlug kraftvoll mit den Flügeln und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

Lea sah sich hektisch um und entdeckte Geralt, der wankend auf dem Geländer stand. Er hatte ihr wohl die Fackel gereicht. Matt, Adaric und Jon standen, mit Speeren und Fackeln bewaffnet, um das Steuerrad herum. Dann fiel ihr Blick auf ihren Vater, der neben ihr lag und sich soeben aufrappelte.

„Er hat mich aufgefangen“, dachte sie noch, bevor er sie ungestüm umarmte.

Er schob sie jedoch schnell wieder von sich. Seine Augen weiteten sich, bevor er entsetzt flüsterte: „Du bist verletzt!“

Rion fuhr mit dem Daumen sanft über ihr Gesicht, und Lea bekam feuchte Augen, weil sie direkt an Sander denken musste.

„Es ist nicht mein Blut.“

Über ihnen erklang das Rauschen mächtiger Schwingen. Ein furchterregendes Brüllen ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Rion sprang sofort auf und zog Lea auf die Füße.

„Hebt die Fackeln, er kommt zurück“, rief er.

Medon rauschte über die anderen Männer hinweg. Rion schob Lea direkt hinter sich, hob den Speer und stach blitzschnell zu. Just in dem Moment, als Medon vor ihm landete. Die Speerspitze drang tief in den Hals der Kreatur ein, und Rion riss sie direkt wieder heraus. Dann fiel er auf ein Knie, so dass Medons niedergehende Pranke knapp über seinen Kopf hinwegrauschte.

Derweil stachen die anderen Männer auf Medons Rücken ein, aber die ausgebreiteten Flügel und das dichte Federkleid schützten ihn vor schwerwiegenden Verletzungen. Erst als Geralt sein Schwert zog, hervorsprang und die Klinge in die Wade des Geflügelten stieß, erhielten sie dessen Aufmerksamkeit. Unerwartet schnell drehte er sich, brachte Geralt mit einem Flügel zu Fall und entriss ihm das Schwert. Dabei schnitt er sich selbst die halbe Wade auf, was Medon jedoch kaum zu spüren schien. Er kam sofort wieder hoch und trat mit voller Wucht gegen Geralts Brustkorb. Der rutschte einige Meter über die Planken, bevor er unsanft vom Steuerrad gebremst wurde.

Medon ließ das Schwert achtlos fallen, spreizte die Flügel und fegte Jon, Adaric und Matt von den Füßen, bevor er sich zu Rion und Lea umdrehte.

Rion duckte sich unter einer niedergehenden Pranke hinweg und hob direkt den Speer, um auf Medons Kopf einzustechen. Dieses Mal fing der Geflügelte den Speer jedoch ab, zog kraftvoll daran und schickte Rion mit einem brutalen Schlag seiner Rückhand zu Boden.

Lea fiel neben ihrem Vater auf die Knie, rüttelte an seiner Schulter, jedoch vergeblich. Ihr Vater war bewusstlos, und als Medon sich zu ihr beugte, sprang sie hastig auf die Füße.

„Was willst du von uns?“, brüllte sie und wich zurück, weg von ihrem Vater.

Einen Moment lang verharrte seine klauenbeschwerte Hand über Rions Kopf, bis Lea erneut brüllte.

„Verschwinde, du widerliches Scheusal!“

Sofort richtete er sich auf. Lea schaute entsetzt zu Geralt, der sich an Medon vorbeischieben wollte, doch dieser schickte ihn erneut zu Boden, indem er nur kurz den Flügel hob.

Lea hatte inzwischen das Geländer erreicht und wollte sich daran entlang schieben, was Medon direkt mit seinen Flügeln unterband. Auch die andere Seite versperrte er. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht zu sehen. Dieses lag im Schatten, dennoch fiel ihr erst jetzt auf, wie groß er war. Er maß gute drei Meter, und mit ausgebreiteten Schwingen nahm er den gesamten Aufbau des Schiffes ein. Außerdem fiel Lea auf, dass er nun alles andere als amüsiert war. Sein furchteinflößendes Knurren ging ihr durch und durch, als er sich vorbeugte und ihre Oberarme packte. Dieses Mal vermochte sie es nicht, einen Schrei zu unterdrücken, da er zielgenau zwei Krallen in ihre Wunde presste und immer tiefer hineindrückte. Dabei hob er sie empor. Lea vergaß den Schmerz, als sie sein Gesicht erblickte. Die linke Hälfte war eine blutige Masse, wahrscheinlich, weil er sich die Brandblasen aufgekratzt hatte. Das Auge war als solches nicht mehr zu erkennen.

„Das wollte ich nicht“, flüsterte Lea schockiert.

Medon erwiderte nichts darauf, schloss allerdings seine Pranke noch fester um ihre Wunde, sodass die Krallen ihren Arm vollständig durchbohrten.

Lea wurde schwarz vor Augen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Kopf auf seine Schulter fiel. Aber sie schaffte es irgendwie, bei Bewusstsein zu bleiben und sogar ihre Augen zu öffnen. Sie sah dabei direkt in Geralts Augen, der voller Sorge zu ihr hochschaute. Matt und er waren dabei, den Inhalt zweier Öllampen auf Medons Schwingen zu gießen, was sie entsetzt zur Kenntnis nahm.

„Nein“, keuchte sie.

Medon riss ihren Kopf an den Haaren zurück und presste sie mit einem Arm an sich.

„Siehst du meine Gedanken?“, fragte er knurrend.

„Was? Wie meinst du das?“

„Ist jetzt egal! Ich habe mich entschieden, dir dein Leben zu nehmen. Und niemand wird mich davon abhalten.“

Lea stemmte eine Hand gegen sein Kinn und nahm die zweite zur Hilfe, um seinen Kopf wegzudrücken, was Medon jedoch ziemlich unbeeindruckt ließ. Er entblößte seine Zähne. Diese näherten sich unaufhaltsam ihrem Hals.

„Verabschiede dich von deinen jämmerlichen Freunden. Obwohl, das ist gar nicht nötig. Sie werden dir in Kürze folgen.“

„Das bezweifle ich. Und ich hoffe, du kannst schwimmen, denn fliegen wirst du ganz sicher nicht mehr.“

Er gab einen verwunderten Laut von sich und legte sogar den Kopf etwas schief. Doch dann sog er witternd die Luft ein und knurrte aufgebracht, als er den Ölgeruch wahrnahm. Ruckartig drehte er sich um, jedoch zu spät.

Jon hatte die brennende Fackel bereits geworfen, und die schwarzen Federn seiner Schwingen standen bald lichterloh in Flammen.

Alle Männer warfen sich auf den Boden, als sich der Geflügelte im Kreis drehte. Dabei brüllte er aus Leibeskräften und schleuderte Lea gegen das Steuerrad, an dem sie benommen liegenblieb. Allerdings sah sie noch, wie er sich abstieß, ein paar Meter an Höhe gewann und dann wie ein Stein ins Meer stürzte.

Geralt fiel vor Lea auf die Knie und zog sie in seine Arme.

„Ich bin fast gestorben vor Angst. Ich dachte, ich würde dich verlieren“, keuchte er.

Sie spürte sein rasendes Herz, aber noch viel mehr die Prellungen an ihrem Rücken. Sie schob ihn ein Stück zurück.

„Hilfst du mir bitte hoch?“

Mit Geralts Hilfe kam sie auf die Füße. Kaum dass sie stand, fiel ihr Blick auf ihren Vater.

Der lag immer noch am Boden, und Geralt konnte nicht so schnell reagieren wie Lea loslief. Es waren nur wenige Schritte, bei denen sie heftig schwankte. Es war wohl eher nicht beabsichtigt, dass sie neben Rion hart auf die Knie stürzte. Doch sie gab keinen Schmerzlaut von sich und legte eine Hand auf Rions Wange, der daraufhin hochschreckte.

„Das Meer hat den Bastard einbehalten.“

Geralt drehte den Kopf zu Adaric, der ihm dies mitgeteilt hatte, und sah dann kurz zum Geländer, an dem Matt stand. Mit einer Fackel, die er an einem langen Speer befestigt hatte, leuchtete er das Wasser ab.

„Allerdings konnten wir einen Schwarm von den Biestern sehen. Sie bewegten sich knapp unter der Oberfläche, und so wie es aussieht, ziehen sie Kreise um dein Schiff. Wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen, sie warten nur auf den Befehl zum Angriff.“

„Wird höchste Zeit zu verschwinden“, sagte Geralt, als plötzlich jemand aufschluchzte.

Alle sahen zu Jon, der über der Leiche seines Sohnes kauerte und bittere Tränen vergoss.

Tränen rannen auch über Leas Wangen, als sie hinter Jon zum Stehen kam und zögerlich eine Hand auf seine Schulter legte.

„Es tut mir so schrecklich leid“, flüsterte sie.

Unwirsch schüttelte Jon ihre Hand ab, sprang auf die Füße und schrie Lea an.

„Das ist alles deine Schuld!“

Sie wich erschrocken vor ihm zurück, doch er folgte ihr und hob sogar einen Speer auf. Adaric errang als erster die Fassung zurück und hielt Jon am Arm fest. Geralt baute sich schützend vor Lea auf.

„Verfluchte Hexe! Nur ihretwegen ist er jetzt tot!“, brüllte Jon zornig.

Rion führte Lea ein Stück weg.

„Er meint es nicht so. Die Trauer trübt seinen Verstand.“

„Jon meint es genau so, wie er es sagt“, sagte sie unter Tränen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie hinter dem Handgemenge zwischen Geralt und Jon eine Bewegung. Als sie dort hinsah, keuchte Lea entsetzt auf.

„Das kann nicht sein“, flüsterte sie.

„Was ist los?“, fragte Rion und folgte ihrem Blick.

Hastig zog er sie ein paar Schritte fort.

„Das ist unmöglich“, sagte er schockiert.

2

Geralt und Adaric ließen Jon entgeistert los und wichen ebenfalls zurück.

„Aus welchem Grund schreist du so, Vater?“

Jon drehte sich langsam um, starrte seinen Sohn an und sackte zusammen. Geralt ging neben Jon in die Hocke, wobei er Sander im Auge behielt. Der kam langsam näher, schaute in die Runde und dann auf seinen Vater herab, der bereits wieder zu sich kam.

„Stimmt etwas nicht? Ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen“, fragte Sander verunsichert.

Lea ging auf Sander zu, wobei sie ihren Vater ignorierte, der ihr zuraunte:„Nicht, Lea!“

Er wollte sie festhalten, doch Lea ließ sich nicht beirren und schüttelte seine Hand ab. Währenddessen half Geralt Jon auf die Füße, der sich nun auch ein Herz fasste und seinen Sohn ungestüm umarmte.

„Du lebst! Den Göttern sei Dank, du lebst!“

Lea blieb zwei Schritte vor Sander stehen und schaute ihn aus schmalen Augen an. Auch er sah sie über Jons Schulter hinweg an und schob seinen Vater von sich, bevor er fragte: „Kannst du mir sagen, was geschehen ist? Ich verstehe das alles nicht. Ich fühle mich so seltsam.“

Lea räusperte sich und schluckte schwer.

„Erinnerst du dich an die geflügelte Kreatur? Sie hat dich angegriffen.“

Er legte den Kopf schief und schien nachzudenken, bis sich Jon vor ihm aufbaute. Mit seinem Zeigefinger fuchtelte er vor Leas Nase herum und sah sie bitterböse an.

„Du wirst dich von Sander fernhalten, du verdammte Hexe. Deinetwegen ist er fast gestorben. Wenn ich dich noch einmal in seiner Nähe sehe, dann …“

Geralt trat neben Lea, schlug Jons Hand weg und sagte zornig: „Bist du jetzt total überschnappt? Lea versuchte alles, um Sander zu retten und hätte dafür fast mit dem Leben bezahlt.“

Geralt legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.

„Und noch was, Jon. Wenn du ihr noch einmal drohst, dann vergesse ich mich“, fügte Geralt gefährlich leise hinzu.

Jon zitterte vor Wut und wollte gerade auf Geralt losgehen, als Sander eine Hand auf seine Schulter legte. Mühelos zog er seinen Vater einige Schritte zurück.

„Geralt hat Recht, Lea hat mein Leben gerettet. Als der Geflügelte mich packte, ist sie an mir hochgesprungen und behinderte ihn mit dem zusätzlichen Gewicht.“

Jon baute sich nun vor Sander auf.

„Widersprich mir nicht, Junge! Ich weiß, was ich gesehen und gehört habe. Er wollte ‚sie‘.“

Sander zuckte die Achseln.

„Vielleicht, nachdem er mich ausgeschaltet hatte. Aber vorher wollte er Lea nur leiden sehen, er fand dies äußerst amüsant. Ich erinnere mich jetzt wieder an alles.“

Jon hob seine Hand zum Schlag, doch Sander fing sie ab und sah seinem Vater fest in die Augen.

„Das wirst du nie wieder tun, Jon. Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, nachdem mich diese Kreatur gebissen hat, aber es hat mich verändert. Ich sehe plötzlich alles viel klarer.“

Jon stolperte einige Schritte zurück, schaute seinen Sohn noch einen Moment lang verwirrt an und eilte dann vom Aufbau hinunter.

Rion zog Geralt zur Seite und flüsterte mit ihm. Auch Adaric und Matt tuschelten miteinander. Lea bemerkte dabei die Blicke, die sie Sander zuwarfen. Sie nahm seine Hand, um mit ihm zum Geländer zu gehen. Dort setzte sie sich auf den Boden und stöhnte leise auf.

Sie spürte jeden Knochen im Leib, und vor allem ihr Arm schmerzte fürchterlich.

Sander hockte sich mit untergeschlagenen Beinen vor sie.

„Darf ich mal deinen Nacken sehen?“, fragte Lea leise.

Es dauerte einen Moment, doch dann beugte er seinen Kopf, und Lea schob vorsichtig das blutgetränkte Hemd zur Seite.

„Unfassbar! Es ist rein gar nichts zu sehen. Wie ist das nur ­möglich?“

Lea sank wieder zurück und schaute ihn verwundert an.

„Kannst du dich an etwas erinnern, nachdem er dich gebissen hat?“

„Nein. Seit meinem Erwachen fühle ich mich ganz seltsam. Alles ist viel klarer und … ich weiß auch nicht“, seufzte er.

Lea nahm seine Hand und drückte sie.

„Mach dir keine Gedanken! Vielleicht solltest du mal mit Mo und Respa sprechen?

Könnte sein, dass die beiden wissen, was mit dir geschehen ist.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Sander.

Lea zuckte mit den Schultern.

„Die beiden hatten seltsame Visionen. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, dann kann man diesen nicht unbedingt Glauben schenken.“

„Visionen? Was haben sie dir darüber erzählt?“

Mit einem Mal wurde Lea unglaublich müde, sodass ihr fast die Augen zufielen.

„Ich soll die geeinten Reiche und Torgulas von einem Bündnis überzeugen. Denn so, wie die beiden sagten, können die Reiche nur gemeinsam gegen diese Kreaturen bestehen. Außerdem werde ich wahrscheinlich dem Mann mit den schwarzen Augen wiederbegegnen. Er hatte so einen seltsamen Geruch an sich. Er war nicht unangenehm, aber irgendwie merkwürdig“, erzählte sie leise.

„Wer ist der Mann?“

Lea schlug die Augen auf, sah ihn verdattert an und schüttelte dann seufzend den Kopf.

„Tut mir leid, Sander. Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist.“

„Du siehst schlecht aus, Lea. Ich hole dir Wasser und eine Decke, du zitterst am ganzen Leib. Oder soll ich dich runterbringen?“

„Nein, das ist lieb von dir. Aber hier draußen fühle ich mich wohler. Ich mag keine engen Räume.“

„Na gut, dann hole ich dir ein paar Sachen.“

Er stand auf und verschwand nach unten. Keinen Herzschlag später hockten Rion und Geralt vor ihr.

„Meinst du, er ist ungefährlich? Was ist, wenn er ein Wiedergänger ist oder so was“, fragte Geralt.

Lea schüttelte erschöpft den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass wir ihn fürchten müssen. Auch wenn ich nicht verstehe, wieso er plötzlich mehr Verstand zu besitzen scheint als so manch anderer hier.“

Ein Ruck ging plötzlich durch das Schiff. Geralt erhob sich.

„Es geht los! Adaric hat den Anker gelichtet, ich muss ans Steuerrad. Rion, du könntest mit Adaric das Segel setzen. Danach werdet ihr mit Matt und Jon versuchen, uns vom Riff fernzuhalten. Für den Zweck liegen an der Reling lange Stangen.“

Geralt schaute Lea besorgt an und hockte sich wieder vor sie.

„Ich bin gleich hier vorne, falls etwas sein sollte.“

Rion strich über ihren Kopf.

„Gleich sind wir endlich hier weg.“

Die beiden gingen nun eilig davon, und Lea schaute zum Himmel empor.

„Hoffentlich ist es noch nicht zu spät“, flüsterte sie.

Sander interpretierte ihren Blick falsch, als er wieder bei ihr war.

„Glaubst du, er kommt zurück?“

Er reichte ihr eine Decke und einen vollen Wasserbeutel.

„Nein, ich denke er ist tot“, antwortete sie leise.

„Würdest du mir erzählen, was passiert ist, nachdem er mich gebissen hat?“

Lea nickte und berichtete ihm, was geschehen war.

Geralt stand am Steuerrad und drehte sich ständig zu Lea um. Es tat ihm in der Seele weh, sie so zu sehen. Ihr Gesicht war blutverschmiert und verdeckte schlimme Prellungen, die zum Teil von Rions Schlag herrührten. Auch der Geflügelte hatte reichlich Spuren hinterlassen.

Das Schiff fing plötzlich an zu bocken, und Lea erhob sich wankend.

Zur rechten und linken Seite des Schiffs ragten hohe Felsklippen empor, aber es waren jene unter Wasser, die ihnen gefährlich werden konnten. Bei dem herrschenden Wellengang würden sie mehr als Glück brauchen, um heil durchzukommen. Aber auch wenn Geralt die Ausfahrt der Bucht meistern würde – direkt hinter den Felsen wartete das Riff. Dieses bei dem Wetter zu überqueren grenzte an Selbstmord.

„Das ist Irrsinn, das schaffen wir nie.“

„Wenn es einer schafft, dann Geralt“, versuchte Sander, sie zu beruhigen. Dabei sah sie zu Geralt. Der schien all seine Kraft aufbringen zu müssen, um das Steuerrad zu halten. Sein Hemd spannte sich über den Muskelbergen, die sich darunter erhoben.

„Die Felsen haben wir geschafft“, meinte Sander.

Lea löste ihren Blick von Geralt.

„Es dauert nicht mehr lange, bis wir im tiefen Wasser sind“, sagte sie.

Mo stöhnte neben ihr.

„Na hoffentlich. Das heftige Schaukeln halte ich nicht mehr lange aus.“

Lea erschrak und schaute ihn verwirrt an.

„Wo kommst du denn so plötzlich her?“

Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie sich zu ihm drehte.

„Eine Weile“, murmelte er und legte eine Hand an Leas Wange.

„Was ist denn mit dir geschehen? Wieso bist du voller Blut?“

„Hast du ihnen nicht erzählt, was hier oben los war?“, fragte sie Sander.

„Als ich nach unten wollte, sah ich Mo an der Reling, wo er ausgiebig kotzte. Dabei wollte ich ihn nicht stören. Deshalb bin ich runter und habe mit Respa gesprochen. Die schickte mich wieder hoch, um Mo zu holen. Doch er war noch nicht fertig damit, die Fische zu füttern. Darum kam ich erst mal zurück.“ Lea musste grinsen, da Mo von ihr abgelassen hatte und stattdessen Sander genau in Augenschein nahm. Mit Daumen und Zeigefinger zog er dessen Lider auseinander, um in die Augen des jungen Mannes zu glotzen.

„Hast du Respa denn Bescheid gesagt?“

„Nein! Ich hatte keine Lust auf weitere Untersuchungen, denn sie reagierte genauso wie Mo jetzt. Nur, dass sie auch an meinen Ohren zog, um hineinzusehen, und meinen Mund aufzwang. Als ob sich darin die Antwort befinden würde, die meine Wandlung erklärt.“

„Unglaublich“, flüsterte Mo, wobei er eine Hand auf Sanders Stirn legte.

Aber seine Untersuchung wurde jäh unterbrochen, als Sander ihn zur Seite schob und an das Geländer trat.

„Seht nur, was ist das?“

Wegen des großen Segels konnte Lea nur einen kleinen Ausschnitt des Strandes erkennen. Was sie im morgendlichen Dämmerlicht erblickte, raubte ihr allerdings den Atem.

„Sind das die Kreaturen, die seinerzeit auch deine Insel eingenommen haben?“

Mo trat neben sie. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er antwortete.

„Ja, Lea. Allerdings ist kein geflügeltes Wesen unter ihnen, so wie ich es in Ruls sah.“

„Eines war hier, was aber nicht genau deiner Beschreibung entsprach. Seine Haare waren nicht schneeweiß, sondern schwarz. Das bedeutet wohl, dass es nicht nur eines davon gibt?“

„War?“, hakte Mo atemlos nach.

Er bemerkte Leas Hände, mit denen sie sich verkrampft an der Reling festhielt, und ihm fiel ihr schwerer Atem auf.

„Was ist geschehen?“, fragte er Sander, da Lea nicht antwortete.

„Sander, du musst mir helfen“, rief Geralt plötzlich.

In dem Moment neigte sich Geralts Schiff „Die Seeschlange“ extrem zur Seite. Mo und Lea beobachteten, wie Sander schlitternd bei Geralt ankam.

Gemeinsam stemmten sich die beiden gegen das Steuerrad, bekamen es aber auch zu zweit kaum gehalten.

„Die Rückströmung muss wahnsinnig stark sein“, meinte Lea.

Ihr Blick wanderte zu den anderen Männern, die unter ihnen an der Reling standen. Mit dicken Holzstangen versuchten sie, die Seeschlange von den spitzen Felsen des Riffs fernzuhalten, die sich knapp unter der Wasseroberfläche verbargen. Dann ging ein heftiger Ruck durchs Schiff, als der Wind mit voller Wucht ins Hauptsegel griff.

„Wir haben es geschafft“, flüsterte Lea.

Doch Mo war nicht mehr neben ihr. Er hatte sich nicht mehr halten können und rutschte auf dem Hintern über die Planken, wobei ihn die heftigen Wellen sämtliche Ecken des Aufbaus besuchen ließen.

Lea bewegte sich langsam auf ihn zu. Normalerweise bereitete ihr ein solcher Wellengang keine Probleme, doch ihr Befinden machte ihr immer mehr zu schaffen. Allein sich auf den Beinen zu halten bereitete ihr gewaltige Mühe. Und als sie endlich bei Mo ankam, fehlte ihr die Kraft, ihm aufzuhelfen. Sie schaffte es allerdings, sich am Geländer festzuhalten und seine Hand zu ergreifen, als er an ihr vorbeischlitterte. Dies führte dazu, dass er gegen das Geländer krachte. Er hielt sich direkt fest, und wenig später stand er neben ihr.

„Danke, du hast mein Leben gerettet“, sagte er grinsend.

Das Grinsen verging Mo jedoch, als er Lea anblickte, die sämtliche Farbe eingebüßt hatte und am ganzen Leib zitterte. Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Seeschlange von einer hohen Welle getroffen und überspült.

Das eiskalte Wasser traf die Männer unten wie ein Hammerschlag. Sie hielten sich verzweifelt an der Reling fest. Auch Mo klammerte sich an das Geländer, wobei er Lea zwischen seinen Armen hielt. Eine weitere Welle traf das Schiff, zwar nicht ganz so heftig, aber die Wucht reichte für eine weitere eisige Dusche.

3

Allmählich wurde die Fahrt ruhiger, und Mo schaute erleichtert zu Geralt. Er hatte es geschafft, das Schiff in die Wellen und in tiefes Wasser zu steuern.

„Ich bringe dich unter Deck, Lea“, sagte Mo besorgt, da sie sich schwer auf seinen Arm stützte.

Sie drehte sich zu ihm, wandte dann aber hastig den Kopf zu Seite.

„Was ist los?“

Mos Frage erübrigte sich, als Lea zu würgen anfing. Er half ihr eilig die Stufen hinab zur Reling. Dort erbrach sie sich mehrmals, und als sie sich völlig fertig umdrehte, erblickte sie einige verschwommene Gesichter.

„Geht es dir etwas besser?“, hörte sie ihren Vater fragen.

Außer einem Nicken brachte Lea nichts zustande. Es ging ihr richtig schlecht, was sie ihrem Vater aber nicht sagen wollte.

Ihr Arm pochte, und ein fieser kleiner Kobold schien sich einen Spaß daraus zu machen, mit einem Messer in der Wunde herumzurühren. Zudem plagten sie heftige Kopfschmerzen, und ihr Magen rebellierte bei jedem Atemzug.

Jemand drückte ihr einen Wasserbeutel in die Hand, den Lea dankbar annahm. Sie trank und verschluckte sich prompt. Hustend und würgend kämpfte sie gegen den Drang an, sich erneut übergeben zu müssen.

Mo trat an ihre Seite.

„Du gefällst mir gar nicht. Ich werde mir die Wunde nochmal anschauen, hoffentlich hat sie sich nicht entzündet“, sagte er.

„Schiffe! Seht nur, dort sind eine Menge Schiffe“, hörten sie plötzlich Matt rufen.

Und dann vernahm sie wieder ihren Vater.

„Bei allen guten Göttern, wie viele es sind.“

Zitternd drehte sie sich zur Reling um und stöhnte dabei gequält. Eine Hitzewelle überkam sie plötzlich. Binnen weniger Herzschläge war sie schweißgebadet und krallte sich an der Reling fest, da ihre Beine wegknickten. Benommen schüttelte Lea den Kopf und versuchte, irgendetwas zu erkennen, doch dann wurde es dunkel um sie herum.

Rion hatte nach den fremden Schiffen geschaut, ebenso wie alle anderen. Er konnte Lea gerade noch auffangen, bevor sie auf den Boden fiel.

„Mo, was ist mit ihr?“

Der Schamane fühlte ihre Stirn und hob die Augenlider.

„Schnell, bring sie runter.“

Mo eilte voraus. Wenig später legte Rion seine Tochter aufs Bett und wurde von Respa prompt zur Seite geschoben. Sie fühlte ebenfalls Leas Stirn und sah dabei entsetzt auf den zerfetzten Verband. Blut rann Leas Arm hinab und tropfte vom Ellenbogen auf den Boden.

„Sie hat sehr hohes Fieber und ich muss sofort an die Wunde ran. Rion, leg sie auf den Tisch und dann will ich wissen, wie das passiert ist.“

„Bei den Göttern! Es war zu dunkel draußen, das ist mir gar nicht aufgefallen“, keuchte Rion, als er das viele Blut sah, und sagte bitter: „Das war diese Bestie! Aber ich verstehe nicht, wieso Lea nichts gesagt hat. Sie muss doch unglaubliche Schmerzen haben.“

Besorgt nahm Rion seine Tochter wieder hoch und legte sie auf dem Schreibtisch ab.

„Ja, die hat sie, ganz bestimmt sogar. Aber ich fürchte, das ist nicht der Grund für ihre Bewusstlosigkeit.“

Mo hatte in der Zwischenzeit eine Schüssel frisches Wasser besorgt und trat neben Rion, der Leas Hand hielt.

„Was ist denn nur los mit ihr?“

Respa löste vorsichtig den improvisierten Verband. Ein bestialischer Gestank verbreitete sich in der Kajüte.

Rion presste den Handrücken auf seinen Mund und wich ein Stück zurück, als er die Blutklumpen am Verband sah. Eiter hielt diese zusammen. Er musste arg mit sich kämpfen, um die Fassung zu bewahren.

Sofort begann Mo, die Wunde auszuwaschen, während Respa Leas Augenlider anhob und erneut ihre Stirn fühlte.

„Sagt mir jetzt mal jemand, was los ist?“, fragte Rion aufgebracht.

Respa sah ihn an und wollte gerade antworten, als die Tür aufgestoßen wurde und Geralt hineinpolterte.

„Adaric hat mir erzählt, was passiert ist. Geht es ihr gut?“

Respa schüttelte den Kopf und holte tief Luft, um erneut etwas zu sagen. In dem Moment bäumte sich Lea auf, und ihr Körper begann unkontrolliert zu zucken.

„Haltet sie fest, sie hat eine Art Anfall“, sagte Mo schockiert.

Geralt kam herbei und hielt Leas Beine fest, während Mo und Rion ihre Schultern und Arme auf den Tisch drückten. Ihre Muskeln verkrampften immer mehr, und sie bäumte sich plötzlich mit unglaublicher Kraft auf. Völlig schockiert hielten die Männer Lea, und es dauerte eine Weile, bis sie sich endlich entspannte und still lag.

„Ohne bestimmte Kräuter kann ich nicht viel für sie tun. Wir müssen dringend nach Mesura, sonst …“

„Sonst was?“, blaffte Rion den Schamanen an.

„Wir tun, was wir können. Aber wenn wir die Entzündung und das Gift nicht aufhalten, dann steht es schlecht um Lea.“

Mo liefen Tränen über die Wangen, als er dies sagte.

„Durch die Entzündung hat Melea hohes Fieber, und ihre Bewusstlosigkeit ist sehr tief. Das heißt, wenn wir das Fieber nicht senken und die Entzündung nicht aufhalten können, dann wird sie wahrscheinlich nicht mehr erwachen. Der Anfall soeben … ich denke, dass es mit dem Gift des Wesens zusammenhängt.“

Geralt stützte sich auf dem Tisch ab und fragte mühsam beherrscht: „Könnt ihr mit euren Heilkräutern überhaupt etwas ausrichten?“

Mo sah Respa an. „Ich hörte, dass es im Palast außergewöhnliche Heiler gibt. Ich halte es für das Beste, Lea zu ihnen zu bringen. Abgesehen davon, sollte der Weg zum Palast sowieso unser erster sein.“

Respa schüttelte den Kopf.

„Nicht zu diesen Quacksalbern. Das kann nicht dein Ernst sein, Mo.“

Rion hielt Leas Hand und blickte zu Mo auf.

„Bist du sicher, dass sie ihr dort helfen können?“

„Ja!“

Geralt nickte.

„Ich bin auch dafür. Ich habe schon von einigen wundersamen Heilungen gehört, die vom Orden der Heiler bewirkt wurden.“

Rion sah Geralt aus feuchten Augen an.

„Orden der Heiler?“

Geralt streichelte über Leas Wange.

„Ja, so nennen sie sich. Aber entschuldigt mich jetzt. Ich werde uns so schnell wie möglich nach Mesura bringen. Am besten sichert ihr die Möbel, die Fahrt wird holprig.“

Er warf noch einen besorgten Blick auf Lea und hetzte dann hinaus.

Mo nahm Lea den Armreif, den Dolch und auch die Kette ab und legte die Sachen in ihren kleinen Beutel. Diesen stellte er aufs Bett. Dann begann er, das Blut von Leas Gesicht zu waschen.

„Wie kommt sie an die Verletzungen? Und wo kommt das ganze Blut her? Sag mir jetzt bloß nicht, es hat mit dem Geflügelten zu tun, den Lea vorhin kurz erwähnte“, sagte Mo an Rion gewandt.

Rion hielt Leas Hand und ließ sie nicht aus den Augen, während er berichtete, was geschehen war.

Die Überfahrt dauerte fast drei Stunden. In dieser Zeit kamen alle Bewohner der Insel Kalmar mal herein, um nach Lea zu sehen. Sogar Jon stand eine kleine Weile am Tisch und rang nach Worten, bis er schließlich flüsterte: „Es tut mir leid.“

Rion schaute ihm nach, als er aus der Tür verschwand. Dort erschien nun Sander.

„Ich glaube, diese Worte haben ihm alles abverlangt“, meinte er.

Er kam herein und setzte sich aufs Bett. Von dort sah er abwechselnd zu Mo und Respa, die ihn mit seltsamen Blicken bedachten.

„Seht mich bitte nicht so an. Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschehen ist.“

Respa nahm sich mal wieder kein Blatt vor den Mund.

„Entweder bist du ein Wiedergänger, von einer bösen Macht beseelt, um uns auszuspionieren oder noch Schlimmeres zu tun. Oder du hast einen göttlichen Segen erfahren, weil du noch eine Aufgabe erfüllen musst. Egal, was es ist, deinen angeborenen Schwachsinn hast du jedenfalls verloren.“

Sander musste lächeln.

„Zumindest du sagst ehrlich, was du denkst.“

Respa legte den Kopf schief.

„Freu dich nicht zu früh. Ich habe nämlich vor, herauszufinden, welche der beiden Möglichkeiten der Wahrheit entspricht. Und bis dahin werde ich dich nicht aus den Augen lassen.“

Rion keuchte erschrocken auf, als Lea erneut anfing zu krampfen. Der Anfall dauerte erheblich länger als der erste.

Sander stand an ihrem Kopf und hielt ihn mit beiden Händen fest. Rion und Mo fixierten ihre Arme und Beine, und Respa lag auf Leas Knien, um den Männern irgendwie zu helfen. Als es vorbei war, kehrte eine bedrückende Stille ein, bis Rion heftig mit der Faust auf den Tisch schlug.

„Warum wacht sie denn nicht auf? Verdammt!“

In diesem Moment kam Adaric in die Kajüte.

„Der Hafen ist in Sicht!“

Wenig später legte die Seeschlange am Hafen von Mesura an. Hafenarbeiter kamen herbeigelaufen und vertäuten das Schiff, während Matt und Jon die Planke auslegten. Geralt wartete nicht, bis diese lag, und sprang an Land. Er hielt nach dem Hafenmeister Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Von der Hafenwacht war auch nichts zu sehen. Er schnappte sich kurzerhand einen Arbeiter und schickte nach Berik.

Die anderen Hafenarbeiter bildeten eine schaulustige Traube, da die Besatzung, die nun das Schiff verließ, alles andere als normal aussah.

Rion kam von Bord. Er trug Melea auf seinen Armen und stellte sich neben Geralt.

„Und was nun?“

Geralt schaute in Leas Gesicht.

„Ich habe nach Berik geschickt. Ich hoffe, dass er uns Kutschen besorgen kann. Zu Fuß dauert es zu lange, außerdem ist der Weg zu beschwerlich. Das halten die Leute nicht mehr aus.“

Ein großer Mann mit kurzem rotem Haar eilte auf sie zu und blieb vor Geralt stehen. Er schaute in die erschöpften Gesichter, bis sein Blick an Lea hängenblieb.

„Geralt, was ist geschehen?“, fragte er.

Er zog ihn ein Stück beiseite und sprach leise mit ihm.

„Berik, hör mir jetzt gut zu. Kalmar wurde angegriffen, und wir mussten Hals über Kopf fliehen.“

Beriks Augen weiteten sich.

„Angegriffen? Von wem?“

Geralt packte seine Schulter.

„Das wissen wir nicht. Es waren seltsame Kreaturen. Auf unserer Flucht sahen wir unzählige fremde Schiffe, die auf Kalmar zuhielten.“

Der Blick des Hafenmeisters wurde ungläubig.

„Kreaturen? Bist du verrückt geworden?“

„Berik, ich beschwöre dich, schau in die Gesichter der Inselbewohner. Wir haben auch Beweise. Matt, bring mir mal die Kiste her.“

Matt kam mit der Kiste herbei, und die Männer gingen in die Hocke, um den neugierigen Arbeitern keinen Einblick zu gewähren.

„Sieh dir die Köpfe an, Berik. Hast du so etwas schon mal gesehen?“

„Seltsam sehen die Viecher aus, das muss ich zugeben. Aber die steuern keine Schiffe, oder?“

Geralt verdrehte genervt die Augen.

„Nein, natürlich nicht. Das war so eine Art Vorhut, sie haben uns zu Hunderten angegriffen. Und da waren auch noch andere Wesen. Aber wir haben keine Zeit, dir alles zu berichten. Also bitte, hilf uns einfach.“

„Also gut, Geralt. Was willst du von mir?“, fragte Berik seufzend.

„Ich brauche zwei große Kutschen, die uns zum Palast fahren. Ein Mann, der vorausreitet, wäre ganz gut, um uns anzumelden. Und außerdem ein paar Männer, die mein Schiff bewachen. Ich möchte nicht, dass jemand dort herumschnüffelt.“

Berik nickte und überlegte einen Augenblick.

„Also gut! Dafür schuldest du mir aber was.“

Er winkte einen Mann heran, der ein paar Schritte hinter ihnen gestanden hatte, und sprach leise mit ihm. Kurz darauf lief der Mann zu den Lagerhäusern und rief einige Arbeiter zu sich.

„Wir bekommen die Kutschen“, sagte Geralt an Rion gewandt.

Berik schaute wieder auf Lea und fragte besorgt: „Was ist mit ihr?“

„Lea wurde von einem dieser Viecher gebissen und wacht nicht mehr auf. Die Wunde ist schwer entzündet, und sie hat sehr hohes Fieber“, sagte Geralt mit feuchten Augen.

Berik legte eine Hand auf Leas Stirn und zog diese erschrocken zurück.

„Sie glüht ja! Du solltest dem Boten auftragen, dies zu erwähnen. Der Orden kann sich ihrer vielleicht annehmen. Ah, da kommt er ja schon.“

Ein rothaariger Junge kam auf einem großen braunen Hengst angaloppiert. Berik griff in die Zügel, als er vor ihnen zum Stehen kam.

„Das ist mein Sohn, Tanais. Er wird euch vorausreiten und melden, was ihr ihm auftragt. Ihr könnt ihm vertrauen.“

Geralt beobachtete, wie vier stämmige Pferde aus einem der Ställe geführt wurden, die an die großen Lagerhäuser grenzten. Einige Arbeiter zogen zwei große Planwagen herbei. Geralt winkte Matt heran und wies auf die Wagen.

„Geh mit den anderen schon mal zu den Kutschen. Vergesst die Kiste nicht.“

Danach wandte sich Geralt dem Jungen zu, der Lea mitleidig musterte.

Rion und er trugen ihm auf, was er den Wachen am Tor mitteilen sollte. Als alles geklärt war, warf Tanais einen traurigen Blick auf Lea und preschte in halsbrecherischem Tempo davon.

„Hoffentlich geht das gut. Er reitet wie ein Wahnsinniger“, meinte Rion kopfschüttelnd.

„Macht Euch keine Gedanken. Er ist der beste und schnellste Reiter, den ich aufzubieten habe. Obwohl, so schnell ist er bisher noch nie einem Auftrag nachgekommen. Das mag wohl an der schönen jungen Frau auf Euren Armen liegen“, meinte der Hafenmeister lächelnd.

Geralt zog Berik ein Stück zur Seite, um ihn vor Rions finsterem Blick in Sicherheit zu bringen. Er bedankte sich per Handschlag bei ihm.

„Du hast was gut bei mir“, sagte Geralt.

Rion und Geralt eilten zu den Kutschen und versuchten, es Lea so bequem wie möglich zu machen. Dazu legten sie den Boden mit einigen Fellen und Decken aus, die Geralt von Berik entgegennahm, der ihnen gefolgt war. Nachdem sie Lea auf den Boden gebetet hatten, ging es weiter in Richtung des Palastes.

Rion kauerte neben Lea und hielt ihre Hand.

„Wie lange wird die Fahrt dauern?“

Geralt, der ebenfalls auf dem Boden saß, hatte ihren Kopf auf seinen Oberschenkel gelegt und hielt Leas andere Hand.

„Wir werden in weniger als einer halben Stunde am Tor sein.“

Lea war vor einiger Zeit erwacht und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie sich nicht mehr auf Geralts Schiff befand. Eine ganze Weile war sie durch den düsteren Saal gerannt und hatte panisch nach ihrem Vater und Geralt gerufen, jedoch ohne Erfolg. Ergebnislos verlief auch die Suche nach einem Ausgang. Es gab keine Tür, kein Tor – nicht einmal einen feinen Spalt in den Wänden. Diese bestanden aus schimmerndem Material, das Lea eher an Perlmutt erinnerte. Aber die Wände waren steinhart, wie sie nach mehreren Tritten und Faustschlägen feststellen musste.

Dann erschien in der Mitte ihres weitläufigen Gefängnisses plötzlich eine Tür, bestehend aus einem bläulich schimmernden Licht. Diese hatte sie mehrmals umrundet und ungläubig gemustert, bis sie schließlich hindurchgegangen war. Letztlich gab es keine andere Wahl, und tatsächlich fand sie sich auf der Seeschlange wieder. Ihre Erleichterung wich schierem Entsetzen, als sie ihren Vater umarmen wollte und einfach durch ihn hindurchfiel.

Weder er noch die anderen sahen, hörten oder spürten sie. Sie hatte wirklich alles versucht, um auf sich aufmerksam zu machen. Und nachdem ihr die Puste ausgegangen war und sie gerade tief durchatmen wollte, sah sie ihren Vater, der ihren Körper vom Bett hob und auf dem Schreibtisch ablegte.

Daraufhin hatte sie geschrien, getobt und versucht, in ihren Körper einzudringen, was aber nicht gelang. Denn jedes Mal, wenn sie ihren Körper berührte, verkrampfte dieser und zuckte unkontrolliert. Das ging so lange, bis sie von einem Sog erfasst wurde, der sie in den Saal zurückbrachte.

Die Tür war verschwunden. Nun lag sie zitternd in einer Ecke und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah.

Melea

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