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8. Mond, im 988. Jahr der Barriere

Königin Nalia

1

Die Bewohner eines kleinen Fischerdorfs am Rande der Hauptstadt waren in hellem Aufruhr. Inzwischen hatten sich alle am Strand vor der Königsklippe versammelt, um das eigentümliche Wesen zu sehen, das in der Nacht angespült wurde.

Die Größe der Kreatur entsprach einem Schweinswal, doch die Form erinnerte an eine Nacktschnecke ohne Fühler. Auch die immense Menge an Schleim, die das schiefergraue Tier absonderte, ließ eher auf diese Gattung schließen. Allerdings gab es wohl keine Schnecke mit einem Maul, das aus mehreren kreisrunden Kiefern bestand, die bis weit in den Schlund reichten. Bestückt waren diese mit handlangen und nach hinten gerichteten Zähnen.

Einige Stadtsoldaten waren bereits anwesend und hielten die Dörfler auf Abstand. Die Menschen staunten nicht schlecht, als drei große Planwagen und mehrere Reiter den Strand entlangkamen. Bei den Reitern handelte es sich um Soldaten der Königsgarde, und angeführt wurden sie von einem großen Mann in prachtvoller Rüstung.

Er ritt bis an die Wasserlinie, stieg aus dem Sattel seines dunkelbraunen Schlachtrosses und begrüßte den Hauptmann der Stadtsoldaten, indem er ihm wortlos die Hand gab.

„Und die Königin will es wirklich zum Palast schaffen lassen?“, fragte der Hauptmann.

„Ja. Sie möchte es von den Magiern und Alchimisten untersuchen lassen. Ihr kennt sie doch.“

Der Blick des Hauptmanns fiel auf die Planwagen, aus denen weitere Soldaten sprangen.

„Und wie sollen wir dieses Monstrum dahin bekommen?“

Die blaugrauen Augen seines Gegenübers funkelten amüsiert.

„Nun, Bigelis – schnappt Euch ein paar Männer und hievt es auf einen Wagen. Falls das nicht funktioniert, müsst ihr es wohl in mehreren Teilen abtransportieren. Was der Königin allerdings nicht gefallen wird.“

Der Hauptmann schaute ihn ärgerlich an, musste aber grinsen.

„Also gut, General Halldor! Für diese Drecksarbeit gibt es für die Männer und mich aber ein Fass Bier. Auf Eure Kosten, versteht sich.“

Halldor verdrehte leicht die Augen, schlug aber in die dargebotene Hand ein.

„Aber nur, weil du es bist, Vater“, sagte er leise.

Lauter fragte er dann: „Wo ist der Fischer, der das Wesen gefunden hat?“ Hauptmann Bigelis wies mit der Hand den Strand hinauf.

„Wir haben soeben alle ins Dorf zurückgeschickt. Warum?“

„Ich soll ihm den Dank der Königin aussprechen und ihm etwas geben.“

„Fragt im Dorf nach dem alten Froft, er fand es in der Morgendämmerung.“

Halldor verabschiedete sich und ritt mit seinen Männern zum Dorf.

Die Königin lief in ihren Gemächern nervös auf und ab.

Vergangene Nacht war sie mal wieder von schrecklichen Alpträumen heimgesucht worden. Nun wartete sie auf den obersten Heiler.

„Wie lange soll das noch so weitergehen?“, fragte sie sich.

In jeder Nacht der vergangenen zwei Jahre hatte sie ihren verschollenen Gemahl und dessen Jagdgesellschaft im Traum gesehen. Die Männer ritten im schnellen Tempo durch einen finsteren Wald. Blätter rieselten von den Bäumen, und Baumgeister beobachteten den Trupp von den Wipfeln aus.

Die Gesellschaft machte an den Ruinen einer alten Burg Rast. Nalia beobachtete ihren König und seine Männer, wie sie sich betranken. Irgendwann in der Nacht stolperte ihr Gemahl durch die Ruinen und begegnete einem magischen Geschöpf.

In der Erscheinungsform einer wunderschönen Frau verführte es ihn auf einem verwitterten Steinaltar. Sie saß auf seinem Schoß und drückte seine Arme nach unten, sodass sie über seinem Kopf lagen. Steinerne Hände krochen daraufhin aus dem verwitterten Stein und umschlossen seine Hand- und Fußgelenke, was er gar nicht zu registrieren schien. Auch nicht, wie sich das Gesicht des Geschöpfes drastisch veränderte. Die Haut wurde faltig und grau, das lange Haar änderte die Farbe von blutrot zu schlohweiß. Dann entblößte die Hexe faulige Zähne, drehte den Kopf zu Nalia und fixierte sie aus rot-weiß-marmorierten Augen. Währenddessen rammte sie eine Hand in den Brustkorb ihres Gemahls und entriss ihm, unter schrillem Gelächter, das Herz.

Nalia konnte jetzt noch den Blick der Hexe spüren. Tief im Inneren hörte sie ihr fürchterliches Lachen. Aber das war noch nicht das Ende des Traums. Denn auch wenn Alatheus kein Herz mehr besaß, erhob er sich und schlachtete seine Gefährten ab. Auch diese erhoben sich wieder.

Nalia lief es eiskalt den Rücken hinunter. Seit zwei Jahren ließ sie jetzt nach ihrem Gemahl suchen. Nicht dass er ihr sehr ans Herz gewachsen wäre, aber sie wollte ihm zumindest ein anständiges Begräbnis zukommen lassen. Sie glaubte nicht mehr daran, ihn je lebendig wiederzusehen.

Es klopfte an der Tür, und der oberste Heiler trat ein. Er fiel auf ein Knie und beugte sein Haupt.

„Kommt, Helimus. Setzen wir uns.“

Nalia setzte sich und wies mit der Hand auf den Sessel neben sich.

„Der Trank hat leider nicht gewirkt“, sagte sie seufzend.

„Was habe ich meinem Gemahl nur getan? Wieso quält er mich Nacht für Nacht?“

Helimus sah sie besorgt an.

„Ich werde weiter nach etwas suchen, das Eure Träume unterbindet. Vielleicht solltet Ihr auch mal darüber nachdenken, wieder zu heiraten. Es könnte dem Spuk ein Ende bereiten, und Ihr …“

Nalia funkelte ihn zornig an und unterbrach ihn.

„Kein Wort weiter! Bevor ich nicht weiß, was mit Alatheus geschehen ist, werde ich keinen Gedanken an eine neue Heirat verschwenden. Damit das klar ist!“

Ihre Hände zitterten leicht, was dem Heiler natürlich nicht entging.

„Habt Ihr heute schon etwas zu Euch genommen, Hoheit?“

Nalia seufzte erneut und erhob sich.

„Ich werde jetzt nach unten gehen und etwas essen. Bisher hatte ich noch keine Zeit dazu.“

Helimus stand ebenfalls auf und verbeugte sich.

„Ich werde Euch ein Stück des Weges begleiten, falls es Euch genehm ist.“

„Aber ja, kommt. Lasst uns gehen.“

Als sie an dem langen Flur mit den speziellen Gastgemächern vorbeikamen, bemerkte Nalia die nervösen Blicke des Heilers.

„Ihr braucht keine Furcht zu haben. Die Türen sind nicht böse“, sagte sie lächelnd.

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ein Türblatt, auf dem in prächtigen Farben Tiere verewigt waren. Auch magische Wesen schauten hinter Blättern oder Steinen hervor. Je länger sie hinsah, desto mehr entdeckte Nalia. Die Motive verändertensich unentwegt. Wo eben noch ein Hirsch gestanden hatte, saß nun ein Biber, und eine Eule hatte den Platz mit einem Eichelhäher getauscht.

Niemand wusste, wer diese Türen bemalt hatte, aber Gerüchten zufolge soll es eine Fee gewesen sein. Insgesamt gab es fünfzehn dieser Türen. Die Gemächer dahinter waren nur für ganz besondere Gäste. Diese suchten sich ihr Zimmer selbst aus, wodurch Nalia auf den Charakter des Besuchers schließen konnte.

Die Königin wandte sich Helimus zu, der an der gegenüberliegenden Wand verharrte.

„Nun kommt weiter. Ich werde Euch wohl nicht mehr davon überzeugen können, dass diese Türen ungefährlich sind.“

„In diesem Leben nicht mehr“, meinte der alte Heiler schmunzelnd.

Nalia ging in den Bankettsaal hinab und ließ sich ein verspätetes Frühstück bringen. Da sich Helimus unterwegs verabschiedet hatte, war sie wieder allein mit ihren Gedanken.

„Wer weiß, vielleicht hat er ja sogar Recht? Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Irgendwann werde ich einen neuen König wählen müssen“, dachte sie.

Nach dem Frühstück ließ sie ihr Pferd bringen und unternahm einen Ausritt. Dies tat sie jeden Morgen, um sich selbst zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Sie hatte stets ein offenes Ohr für die Menschen, die im und um den Palast arbeiteten. Immerhin sorgten diese Menschen dafür, dass täglich ihr Essen auf den Tisch kam.

Das Palastgelände war riesig. Mit dem Pferd würde sie eine gute halbe Stunde brauchen, um bis zum Tor zu kommen. Aber dahin wollte Nalia heute nicht. Sie ritt den Waldweg hinauf, weil es im Schatten der Bäume angenehm kühl war. Dann folgte sie dem rechten Weg zu den Nutzgärten.

Der Palast versorgte sich mit fast allem selbst. Es gab einige Obstplantagen, aber auch Gemüse und Getreide wurden angebaut.

In dem Teil des Geländes, den sie nun durchritt, gab es auch ein paar Weiden und einige Gehege, Ställe und Koppeln für Arbeitspferde, Schweine, Rinder, Kühe, Schafe und Hühner.

Nalia winkte zwei alten Frauen zu, die sich um die Kräutergärten kümmerten und unterhielt sich eine Weile mit ihnen, bevor sie schließlich zu den Stallungen ritt.

Sie stieg aus dem Sattel, ebenso ihre ewigen Begleiter. Die vier Wachen der Königsgarde nahmen hinter ihr Stellung auf und folgten ihr.

„Ist jemand hier?“, rief Nalia in den Stall hinein.

Sie band die Zügel an einer nahegelegenen Koppel fest. Als sie leises Gelächter vernahm, hob sie den Saum ihres Kleides an und ging durch das hohe Gras hinter die Stallungen. Dort erblickte sie bei den Zwingern zwei Burschen, die sich einen Spaß daraus machten, einen kleinen Welpen zu quälen. Sie stachen mit spitzen Stöcken auf ihn ein, während der arme kleine Kerl herzerweichend winselte.

Nalia traute ihren Augen nicht, wandte sich ihren Wachen zu und wies mit dem Kopf zu den Burschen.

„Wir sollten den jungen Männern die gleiche Behandlung zukommen lassen, findet ihr nicht auch?“

Die Wachen zückten grinsend die Schwerter und umkreisten die beiden Burschen. Kurz darauf quiekten die Jungs wie Ferkel, da ihnen die Männer abwechselnd in den Allerwertesten stachen.

Nalia ließ sie eine Zeitlang gewähren, bis sie schließlich sagte: „Das reicht vorerst.“

Missbilligend begutachtete sie die Jungs und trat näher an sie heran, worauf zwei Wachen die Burschen am Nacken packten und auf die Knie zwangen.

„Kniet gefälligst vor eurer Königin, ihr kleinen Bastarde“, brüllte der Hauptmann der Wache.

Nalia ging vor den beiden auf und ab und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

Dann erst sah sie dem einen und dann dem anderen fest in die Augen. Die Burschen senkten direkt die Köpfe.

„Mmh, was mach ich nur mit euch? Wie kommt ihr dazu, meine Hunde zu quälen? Und dann auch noch einen, der sich nicht mal wehren kann.“

Wieder musste der Hauptmann einschreiten. Er verpasste jedem einen Schlag in den Nacken.

„Antwortet gefälligst!“

Einer der Jungs stotterte.

„Wir … er … er ist doch bloß eine Missgeburt. Der Meister kaufte einen Sack Welpen am Hafen, bemerkte aber nicht, dass einer von ihnen schwach und blind war.“

Nalia traute ihren Ohren nicht.

„Das gibt euch nicht das Recht, das arme Geschöpf zu quälen. Ich werde mit eurem Meister darüber sprechen, ob Burschen wie ihr überhaupt tragbar für mich sind. So, und nun zu eurer Bestrafung.“

Nalia sah den Hauptmann an.

„Was meint Ihr? Welche Strafe ist gerechtfertigt für solch eine Tat?“

„Nun, ich denke, wir sollten ihnen eine Hand abschlagen und sie vom Palastgelände jagen“, meinte er grinsend.

Der andere Bursche blickte ängstlich auf.

„Das könnt Ihr doch nicht zulassen, Herrin.“

Der Hauptmann verpasste ihm einen heftigen Schlag in den Nacken.

„Sie ist deine Königin, du Trottel.“

Er sah Nalia an und sagte nun todernst: „Beide Hände. Und im Alp Hain aussetzen.“

Die Königin bemerkte das schelmische Funkeln in seinen Augen. Zudem zuckten seine Mundwinkel verdächtig, als die Burschen zu wimmern anfingen. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht auch zu grinsen.

„Ich werde es mir überlegen. Zunächst sollen die beiden jeweils zehn Peitschenhiebe erhalten. Und wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr auch nur eine Fliege erschlagen habt, dann seien euch die Götter gnädig.“

Nalia nickte ihren Wachen zu.

„Kümmert euch um die Bestrafung. Umgehend!“

Die Burschen wurden auf die Beine gezerrt, ihrer Hemden entledigt, und einer der Männer besorgte eine Lederpeitsche aus dem Stall. Während Nalia die Peitschenhiebe zählte, nahm sie das kleine Fellbündel, das sich gegen ihr Bein gedrückt hatte, auf ihre Arme.

Sie sah traurig in die weißen pupillenlosen Augen des schwarzen Welpen.

„Du siehst trotz deiner Behinderung kräftig aus. Du wirst deinen Weg finden, da bin ich mir sicher.“

Sie setzte ihn in einen freien Zwinger und stellte eine Schale Wasser hinein. Auf dem Weg zum Palast sprach sie noch einmal den Hauptmann an.

„Würdet Ihr bitte einen Blick auf die beiden haben? Ich will wissen, was sie sonst noch so anstellen.“

Er verbeugte sich.

„Natürlich, Eure Hoheit. Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Nalia ging über den großen Vorplatz des Hauptgebäudes, als laute und sehr schnelle Hufschläge sie innehalten ließen.

Ein rothaariger Junge und ein Torwächter zügelten ihre Pferde und sprangen aus den Satteln. Während der Wächter bereits kniete, kam der Junge zögerlich näher und sah sie aus großen Augen an. Zumindest so lange, bis er am Handgelenk gepackt und auf die Knie gezerrt wurde.

„Majestät, der Junge hat eine dringende Nachricht vom Hafen. Er beharrte darauf, zu Euch vorgelassen zu werden und sagte, es ginge um Leben und Tod.“

Nalia ließ die beiden aufstehen und betrachtete den zerzausten und verschwitzten Burschen.

„Er muss wie ein Dämon geritten sein“, dachte sie.

Sie trat einen Schritt auf den Jungen zu.

„Wie ist dein Name?“

„Tanais“, antwortete er leise.

„Nun, Tanais, was hast du mir mitzuteilen? Sprich!“

„Am Hafen hat ein Schiff angelegt, die Seeschlange. Der Kapitän und die Besatzung stammen von der Insel Kalmar. Der Kapitän und ein Mann namens Rion berichteten von fremdartigen Kreaturen, die sie angegriffen und die Insel eingenommen haben. Sie haben es gerade so geschafft, zu fliehen. Bei ihrer Flucht sahen sie noch viele fremde Schiffe, die nahe der Insel vor Anker gingen. Die Kalmarer sind auf dem Weg hierher und wollen mit Euch sprechen. Außerdem …“

Nalia hob eine Hand, woraufhin Tanais verstummte, und wandte sich einem Wachmann zu.

„Holt sofort Hauptmann Celvin her. Er soll ein paar Männer mitbringen.“

Nalia sah ihm nach, bis er im rechten Nebengebäude verschwand. Wenig später kam der Hauptmann mit Gefolge angelaufen, und die Männer fielen vor Nalia auf die Knie. Doch sie wedelte ungeduldig mit einer Hand.

„Erhebt Euch, Hauptmann, und hört zu. Es geht um die Insel Kalmar.“

Sie wandte sich wieder an den Jungen.

„Wann werden sie hier sein?“

„Ich schätze, dass sie bereits am Tor sind. Ich wäre ja schneller hier gewesen, aber ich wurde am Tor ziemlich lange aufgehalten.“

Er bedachte die Torwache mit einem gehässigen Seitenblick, was Nalia ignorierte.

„Gibt es sonst noch etwas zu berichten?“

Tanais nickte heftig.

„Ja, Hoheit. Eine junge Frau ist schwer verletzt. Rion trug sie und sagte, sie bräuchte so schnell wie möglich Hilfe. Und er weinte bei den Worten, Hoheit.“

Celvin schob sich vor den Jungen und griff nach seiner Schulter.

„Wie sah die Frau aus?“, fragte er atemlos.

Tanais bekam leuchtende Augen.

„Sie hat lange dunkelbraune Haare und bestimmt ein sehr schönes Gesicht, wenn sie nicht so viele Prellungen hätte. Außerdem war sie sehr schlank und groß.“

„Bei den Göttern“, flüsterte Celvin.

Er drehte sich zur Königin um und sah sie nervös an.

„Nehmt ein paar Männer mit und bringt die Leute auf schnellstem Wege hierher. Ich werde mich darum kümmern, dass sich Helimus persönlich der Frau annimmt.“

Einen Augenblick später war vom Hauptmann nichts mehr zu sehen, und Nalia wandte sich wieder Tanais zu. Sie nestelte an ihrem Gürtel und zog aus einem kleinen Fach, das auf der Innenseite eingenäht war, eine Silbermünze hervor.

„Das hast du sehr gut gemacht, Tanais“, sagte sie lächelnd und drückte ihm die Münze in die Hand.

Kurz darauf eilte Nalia durch den Palast zu den Krankenquartieren. Dort trug sie Helimus auf, ein Zimmer herrichten zu lassen und ihr zwei Männer mit einer Trage zu schicken. Außerdem sollte er sich bereithalten, wenn die junge Frau gebracht würde. Danach eilte sie zurück und fing unterwegs einen Diener ab. Ihm gab sie die Anweisung, im Nebengebäude einige Gästezimmer herrichten zu lassen und auch Essen und Getränke bereitzustellen. Dann schickte sie einen Boten los, der General Halldor holen sollte.

Als Lea die Augen öffnete, bemerkte sie sofort das dämmrige Licht und erhob sich langsam.

„In welcher Hölle des Schattenreichs bin ich hier nur gelandet?“, murmelte sie ängstlich.

Langsam näherte sie sich der Mitte ihres weitläufigen Gefängnisses. Von dort sah sie zuerst zur linken und dann zur rechten Wand. An beiden Wänden befand sich jeweils eine Tür, und diese waren vorhin definitiv nicht da gewesen. Beide leuchteten fahl, so wie die Tür, durch die Lea auf die Seeschlange gelangt war.

Unschlüssig, was sie tun sollte, trat sie von einem auf den anderen Fuß, bis sie wegen eines lauten Fauchens herumfuhr. Sie taumelte entsetzt zurück, da sich unmittelbar vor ihr ein flammendes Frauengesicht befand.

„Was willst du von mir?“, fragte Lea ängstlich.

Das Flammengesicht verharrte an Ort und Stelle.

„Hab keine Furcht vor mir, Melea. Ich will versuchen, dir zu helfen.“

„Hast du mich hierhergebracht?“

Die Feuerahnin kam nun etwas näher.

„Nein! Das Blut des toten Gottes hält dein Bewusstsein gefangen.“

Lea schüttelte unverständlich den Kopf.

„Was soll das heißen? Was für ein toter Gott?“

Die Flammenfrau sagte nichts, sondern wies mit einer feurigen Hand, die plötzlich auftauchte, zur rechten Tür. Dann verschwand sie einfach. Lea drehte sich langsam um und ging zu der Tür. Dort schaute sie auf ihre zittrige Hand, die bereits auf dem

Knauf lag.

„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

Lea drehte den Knauf und fand sich in einem großen, langgestreckten Raum wieder, der komplett mit Holz verkleidet war. An der Decke hingen Öllampen, die ein seltsames blaues Licht verströmten. Erstaunt besah sie sich die Lampen, die in dreieinhalb Metern Höhe leicht hin und her schaukelten.

„Ich bin auf einem Schiff.“

Am anderen Ende des Raumes bemerkte sie im Halbdunkel eine Bewegung. Sie ging an der Außenwand entlang in die Richtung.

„Tretet ein!“

Lea hätte fast aufgeschrien, als die Stimme in ihrem Kopf erklang.

Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund und hockte sich hastig neben eine riesige Truhe, als es plötzlich heller wurde. Zwei große Feuerschalen standen da, und ihr Inhalt ging plötzlich in Flammen auf. Die Schalen flankierten einen großen, goldenen Thron. Leas Augen weiteten sich, als sie die seltsame Kreatur darauf betrachtete.

Das Wesen besaß einen fast menschlichen Körper, abgesehen davon, dass die dürren Arme und Beine viel zu lang waren. Der Kopf war nicht menschlich und wirkte viel zu groß, ebenso wie die giftgrünen und lidlosen Augen. Einen Mund gab es nicht, und dort, wo die Nase hätte sein sollen, befanden sich zwei kleine Löcher. Unter der milchig weißen Haut schimmerten grüne Adern.

Lea wandte fassungslos den Blick ab, da sie laute Schritte vernahm, und hielt unwillkürlich den Atem an, als Medon und ein weiterer Geflügelter den Raum betraten.

Die beiden knieten vor dem Thron nieder, und wieder erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Diese besaß einen sehr sanften Klang. Dennoch bekam Lea eine Gänsehaut.

„Sprecht!“

Sie besah sich den zweiten Geflügelten und stellte fest, dass dieser um einiges breiter und größer als Medon war.

„Herr, mein Sohn hat schwere Wunden davongetragen, als er die Flüchtigen stellen wollte.“

Lange dürre Finger winkten den Verletzten zu sich.

„Komm zu mir, Medon. Lass mich sehen, was sich zugetragen hat.“

Er erhob sich stöhnend und kniete unmittelbar vor dem Thron wieder nieder. Lea beobachtete, wie das Wesen eine Hand auf den Kopf des Geflügelten legte, woraufhin er gequält aufstöhnte. Das war kein Wunder. Medon hatte heftige Verbrennungen erlitten, und das Wesen nahm keinerlei Rücksicht. Es drückte die Finger in das rohe Fleisch an Stirn und Schläfen, doch Medon gab keinen weiteren Ton von sich.

„Dass er überhaupt noch lebt“, dachte Lea.

Sie betrachtete entsetzt die Verletzungen, die er vom Feuer davongetragen hatte. Sein Rücken war eine große, blutende Wunde, und die gigantischen Schwingen waren zu schwarzen Klumpen geschmolzen. An Armen und Beinen gab es offene und nässende Brandwunden, bei den meisten konnte sie bis auf das rohe Fleisch sehen.

Lea löste sich schockiert von diesem Anblick, als das Wesen sagte: „Das Mädchen ist stark im Geiste und anscheinend sehr mutig. Aber sie wurde von einem Klyhrr gebissen und trägt somit mein Blut in sich. Sie wird noch in einer Bewusstseinsstarre sein.“

Das Wesen nahm die Hand von Medons Kopf.

„Was wünschst du von mir, Medon?“

Der Geflügelte blickte hasserfüllt auf.

„Rache!“

Das Wesen nickte zufrieden und legte seine Hand erneut auf Medons Kopf.

Dieser brüllte nun schmerzerfüllt und krümmte sich.

„Das kann nicht sein“, wisperte Lea völlig entsetzt.

Medons Körper wurde immer durchscheinender, als würde er sich auflösen. Es dauerte nicht lange, bis seine gepeinigten Schreie abrupt verstummten.

Lea starrte den grauen Nebel in der Gestalt des Geflügelten ungläubig an.

Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als das Wesen sagte: „Finde das Mädchen. Dringe in ihr Bewusstsein ein, und du wirst deiner Rache freien Lauf lassen können.“

Als sich Lea bewusst wurde, was er da gesagt hatte, schlug sie eine Hand vor den Mund. Sie spürte den Schrei, der sich ihre Kehle hocharbeitete. Das Wesen lachte leise, und Lea spürte plötzlich seinen Blick. Doch als sie zu ihm schaute, starrte er immer noch Medon an.

Sie schüttelte sich unbehaglich und beobachtete den Nebel, der sich schnell verzog.

„Und nun zu dir, Oreus. Warum ist mein Heer noch nicht vollzählig?“

Der andere Geflügelte senkte den Kopf.

„Das Portal ist zusammengebrochen, Herr. Eure Hexer arbeiten fieberhaft daran, es wiederherzustellen, um die Armeen hierher zu holen. Aber es treffen immer mehr Schiffe von Euren Inseln …“

Lea verspürte einen Sog und fand sich wenig später im Saal wieder, wo sie schreiend auf die Knie fiel und wie ein kleines Kind auf den Boden trommelte.

„Wie lange dauert das denn noch? Verflucht noch mal“, regte sich Rion auf.

Sie standen seit geraumer Zeit vor den Toren zum Palast, und nicht nur er verlor langsam die Geduld.

„Solange wir keinen Befehl erhalten, Euch passieren zu lassen, werdet Ihr warten müssen“, sagte einer der Wachen.

„Meine Tochter liegt dort in der Kutsche, und …“

„Das habt Ihr uns schon ein Dutzend Mal mitgeteilt. Ohne entsprechende Order bleiben diese Tore geschlossen.“

Rion war drauf und dran, dem Mann an die Kehle zu gehen, weshalb Matt ihn am Arm packte und ein paar Schritte wegzog. In dem Moment sprang Geralt vom Wagen, und allein dessen Gesichtsausdruck reichte aus, Matt dazu zu bewegen, Rion loszulassen und stattdessen Geralt zu packen.

„Lass mich los! Ich hau die Idioten jetzt weg.“

Matt keuchte vor Anstrengung bei dem Versuch, Geralt festzuhalten. Doch der schien sein Gewicht gar nicht zu spüren. Während er hinter ihm herschlitterte, sah Matt zu den Wachen. Die sechs Männer starrten Geralt an, der jeden von ihnen um

mindestens eine Haupteslänge überragte. Zudem war er doppelt so breit und seine Oberarme so dick wie ihre Oberschenkel.

„Lass den Mist, Geralt! Die Jungs haben Schwerter und Hellebarden, und diese werden sie auch einsetzen.“

„Ich wickele denen ihre Scheißhellebarden um die Hälse, wenn sie nicht auf der Stelle die Tore öffnen.“

Geralt blieb verblüfft stehen, da die Männer eilig die Tore aufrissen.

„Geht doch“, murmelte er.

„Na, endlich! Ich sage den anderen Bescheid und bleibe dann bei Lea“, sagte Rion und lief zu den Wagen.

Matt atmete tief durch. Als er die Männer erblickte, die auf der anderen Seite der Tore soeben ihre Pferde zügelten, fragte er: „Ist das Celvin?“

„Er trägt den Umhang eines Hauptmannes, das kann er nicht sein.“

Der Mann, über den sie sprachen, war direkt aus dem Sattel gesprungen und stand nun seitlich zu ihnen, während er kurz mit einem Wachmann sprach. Dann kam er mit ausgreifenden Schritten zu ihnen.

„Er ist es tatsächlich“, meinte Geralt und umarmte Celvin kurz.

„Wo ist Lea? Geht es ihr gut? Was ist überhaupt passiert?“

„Wir werden dir alles erklären, aber Lea braucht unbedingt einen Heiler, und wir müssen zur Königin.“

Celvin rannte zu den Wagen und rief: „Lea! Lea, wo bist du?“

Sander zeigte auf den hinteren Wagen, woraufhin Celvin darin verschwand. Kurz darauf sprang er wieder heraus und rannte zu den Toren. Dort sprach er mit einem Mann zu Pferd, der wenig später davonpreschte. Celvin stieg ebenfalls auf sein Pferd.

„Ich bringe euch zum Palast!“

Die Insassen der beiden Kutschen wurden ziemlich durchgeschüttelt, da Celvin ein hartes Tempo vorgab. So gelangten sie schnell zum Palast, und nun standen die Kalmarer vor dem Hauptgebäude.

Die Fassade war in Grau gehalten, wie der gigantische Felsen, in den der Palast und die beiden Nebengebäude hineingebaut waren. Das Hauptgebäude ragte mehrere Meter heraus, sodass es aussah, als wäre es aus dem Felsen gewachsen. Weiße Balkone entlang der ersten und zweiten Etage hoben sich von dem tristen Grau ab und verliefen über die gesamte Breite von etwa dreißig Metern. Über den Balkonen gab es weitere drei Etagen. Zwischen den breiten Fensterfronten hatten Steinmetze fantastische Figuren in den Stein gemeißelt, tierische sowie menschliche.

Rion konnte sich nur schwer vom Anblick des Palastes lösen. Er war noch nie hier gewesen, und ihm waren bereits die Stallungen riesig erschienen, an denen sie vorhin vorbeifuhren. Aber dieser Anblick raubte ihm schier den Atem.

Kopfschüttelnd sah er zum Eingang, der über zwei riesige Flügeltüren verfügte, und fragte sich, ob hier Riesen ein und aus gingen.

„Welcher normale Mensch braucht Türen von vier Metern Höhe?“, murmelte er.

Die beiden Wachen rechts und links der Tore trugen silberglänzende Rüstungen und schwarze Umhänge. Sie waren mit Schwertern und Hellebarden bewaffnet. Bestimmt gaben sie eine imposante Erscheinung ab, doch neben den Toren wirkten sie ein wenig verloren, wie Rion fand.

Geralt wartete auf Celvin, der soeben sein Pferd an einen Stallburschen übergab und zu ihnen kam.

„Wie geht es weiter?“

Celvin deutete mit dem Kopf zum Eingangsportal, aus dem gerade sechs Soldaten der Königsgarde traten. Die Männer nahmen auf der Treppe Aufstellung. Kaum standen sie, kamen zwei ältere Männer mit einer Bahre herunter.

Geralt wollte zu Rion, als die Männer die Trage neben ihm ablegten, doch Celvin hielt ihn zurück.

„Keine Sorge! Sie gehören dem Heilerorden an und werden Lea direkt zu Helimus bringen. Er ist der Oberste und wird sich persönlich um sie kümmern.“

Während ein Heiler auf Rion einsprach und ihn dazu bewegte, Lea auf die Trage zu legen, sprach der andere mit Respa und Mo.

„Sind die Heiler wirklich so gut, wie man in der Stadt munkelt?“, fragte Geralt leise.

„Besser! Glaub mir, Lea wird wieder auf den Beinen sein, noch bevor die Sonne untergeht.“

Als die Heiler die Bahre aufhoben, musste Celvin Geralt erneut festhalten.

„Lass sie ihre Arbeit tun, Geralt!“

Lea wurde die Stufen hinaufgetragen. Oben angekommen, blieben die Männer vor einer hochgewachsenen Frau stehen. Sie machten Anstalten, die Trage abzusetzen, aber die Frau winkte ab und beugte sich über Lea. Sanft legte sie eine Hand auf ihre Stirn und sprach dabei mit den Heilern. Allerdings sehr leise, sodass die Kalmarer nichts mitbekamen. Kurz darauf eilten die Männer in den Palast.

Geralt stand vor den Stufen und bewunderte die schöne Frau, die dort oben stand. Ihre glatten schwarzen Haare reichten bis zur schlanken Taille, und die großen tiefblauen Augen schienen alles zu erfassen, was um sie herum geschah. Als sie ihn

ansah, zupfte jemand energisch an seinem Hosenbein, woraufhin er nach demjenigen schlug.

„Geralt!“, herrschte ihn eine leise Stimme an.

Doch er schaute lächelnd zu der Frau, da sie schmunzelte, was sie jedoch zu verbergen versuchte. Er kam nicht dazu, sich zu fragen, warum sie das tat, da er einen harten Schlag in die Kniekehle bekam. Unweigerlich fiel er auf ein Knie und blickte sich irritiert um, weil alle auf dem Boden knieten.

„Idiot“, raunte Celvin neben ihm.

„Erhebt Euch, bitte. Wer führt Eure Gruppe und wird mir berichten?“, fragte Nalia mit lauter und klarer Stimme.

Die Kalmarer standen auf. Bis auf zwei traten alle anderen zurück.

„Nun gut! Wie lauten Eure Namen?“

Rion kniff verwundert die Augen zusammen, da die Königin Geralt und ihn abwechselnd ansah, und sah sich nach rechts und links um.

„Na wunderbar“, murmelte er. Laut sagte er dann: „Mein Name lautet Rion, und der Mann neben mir heißt Geralt.“

Nalia nickte den beiden lächelnd zu.

„Ihr werdet mit mir kommen. Die anderen folgen bitte meinen Bediensteten. Sie werden Euch zu den Gasträumen im Nebengebäude führen. Sagt ihnen, was Ihr benötigt, sei es Kleidung, Nahrung oder ein Bad.“

Rion und Geralt eilten die Stufen empor, denn die Königin wandte sich direkt nach ihren Worten ab und verschwand im Palast. Zwei ihrer Leibwachen blieben direkt hinter ihr, die übrigen vier folgten Rion und Geralt.

3

Es ging durch lichtdurchflutete Säle. Treppen aus weißem und schwarzem Marmor führten auf Galerien, die von Statuen in menschlicher oder tierischer Gestalt getragen wurden. Auch sonst gab es Statuen zu bestaunen. Einige von ihnen stellten Wesen dar, die weder Rion noch Geralt jemals gesehen hatten. Staunend und mit immer größer werdenden Augen folgten sie der Königin durch einen langen Flur.

An der linken Wand hingen riesige Gemälde und Wandteppiche. Zu ihrer rechten Seite kam alle fünfzehn Meter eine Tür. Die Zwischenräume waren weiß getüncht, und bis auf Feuerschalen gab es keinerlei Wandschmuck, Statuen oder Derartiges. Was auch nicht nötig war, denn die Türen vereinnahmten einen sofort. Auf dem Weg zur nächsten Tür hätte man sowieso keinen Blick für etwas anderes gehabt. Selbst nachdem sie die Türen weit hinter sich gelassen hatten, schwirrten die unglaublichen Bilder noch in Rions Kopf herum.

Einige Abzweigungen, Treppen und Flure später erreichten sie dann schließlich einen großen Raum.

Es gab einen riesigen Schreibtisch, der vor einer Fensterfront mit bodentiefen Fenstern stand. Einige Schritte rechts davon stand ein Tisch mit zwölf schweren Eichenstühlen. Zehn Meter weiter befand sich ein Kamin, in dem man bequem ein Schwein hätte rösten können. Davor standen mehrere bequeme Sessel und ein tiefer Tisch.

„Kommt mit!“

Geralt und Rion sahen sich kurz an, bevor sie der Königin zur Kaminecke folgten.

„Nehmt bitte Platz und bedient Euch, während wir auf einen weiteren Gast warten.“

Die beiden setzten sich nebeneinander und begutachteten die Speisen, die auf dem Tisch standen. Es gab verschiedene Obstsorten, Brot, Fleisch und außerdem zwei Karaffen mit Wasser und Wein. Geralt schenkte ihnen Wein ein und nahm sich eine Hühnerkeule.

Rion trank seinen Becher in einem Zug leer, stellte diesen auf den Tisch zurück und lehnte sich angespannt in den Sessel. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber die Sorge um Lea machte dies unmöglich.

Nalia saß den beiden Männern gegenüber und beobachtete sie eingehend, wobei sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, als sie Geralt ansah. Letztlich blieb ihr Blick an Rion hängen.

„Esst doch etwas. Ihr seht mitgenommen aus.“

Rion schüttelte den Kopf.

„Verzeiht mir, Eure Majestät, aber mir ist nicht nach essen zumute. Ich möchte zu meiner Tochter und wissen, wie es ihr geht.“

„Das kann ich verstehen. Aber Ihr könnt Euch gewiss sein, dass sie in guten Händen ist. Mein oberster Heiler kümmert sich persönlich um Eure Tochter.“

„Ich danke Euch, Hoheit.“

„Ich werde Euch zu ihr bringen. Doch zunächst gibt es einiges zu besprechen, sobald General Halldor hier eintrifft. Zuerst wird er mir verraten, wieso er mir noch nie von seinem Zwillingsbruder erzählt hat.“

Sie sah nun Geralt an, der sich prompt an einer Traube verschluckte und erbärmlich husten musste.

Rion schlug ihm mehrmals kräftig auf den Rücken und schüttelte verblüfft den Kopf, als er den Knochenberg erblickte, der sich auf Geralts Teller türmte.

Rion schielte zur Königin, die sichtlich amüsiert war.

„Der hungrige Mann neben mir ist Geralt. Er ist Händler der Insel Kalmar, mein Nachbar und Freund. Und mir wäre neu, dass er einen Bruder hat.“

„Nicht nur dir“, murmelte Geralt nachdenklich.

„Sobald der General eintrifft, werdet Ihr wahrscheinlich anders denken. Rion?“

„Ja, so lautet mein Name.“

„Und Eure Tochter, wie heißt sie?“

„Melea.“

„Ein sehr schöner Name, er passt zu ihr.“

Da Rion feuchte Augen bekam, wechselte Nalia das Thema.

„Unter den Kalmarern befand sich ein dunkelhäutiger Mann. Lebt er schon lange auf der Insel?“

„Sein Name lautet Mowanye. Er strandete vor sechzehn Jahren auf Kalmar. Sein selbstgebautes Floß war nur noch ein Trümmerhaufen, und er mehr tot als lebendig.

Durch Respas Hilfe kam er jedoch schnell wieder auf die Beine und …“

„Hätte die alte Kräuterhexe gewusst, dass er heilkundig ist und zudem ein Schamane, wäre er dies wahrscheinlich nicht“, unterbrach Geralt ihn, wobei er breit grinste.

Rion stupste ihn mit dem Ellenbogen an und schüttelte tadelnd den Kopf, doch die Königin lachte leise.

„Kräuterfrauen sind sehr eigen. Und was ihre Heilkünste angeht, da lassen sie sich absolut nichts sagen. Aber sie tun alles, um Leben zu erhalten, und würden niemals grundlos ein Leben nehmen.“

„Glaubt mir, Hoheit. Respa braucht kein Leben zu nehmen. Sie schafft es, dass man freiwillig von einer Klippe springt.“

Erneut stieß Rion ihn an, sah aber dann verwundert zur Königin, weil sie nun laut lachte.

„Ich freue mich schon darauf, Eure Kräuterfrau kennenzulernen. Aber jetzt noch mal zu Mowanye. Was hat er Euch berichtet? Wieso strandete er auf Kalmar, und wie kam es dazu?“

„Erst gestern Nacht erfuhren wir die ganze Wahrheit. Ihr solltet dringend mit ihm sprechen, denn Kalmar ist nicht die erste Insel, die von diesen Kreaturen eingenommen wurde. Mowanye ist der einzige Überlebende von der Insel Ruls, die ebenfalls von diesen seltsamen Kreaturen angegriffen wurde.“

„Ihr sagtet, er wäre vor sechzehn Jahren auf Kalmar gestrandet?“

„Ja, Hoheit.“

„Und erst gestern berichtete er Euch davon? Ich meine – glaubt ihr ihm, oder könnte es sein, dass er sich nur wichtigmachen wollte?“

„Ich glaube ihm! Denn er beschrieb Kreaturen, die wir auf dem Schiff zu sehen bekamen.“

„Von welchen Kreaturen sprechen wir hier?“

Es klopfte an der Tür, woraufhin Nalia ihren Wachen zunickte. Kurz darauf betrat ein großer Mann den Raum. Er trug eine beeindruckende Rüstung, deren Muskelpanzer seine breite und muskulöse Statur hervorhob.

„Setzt Euch zu uns, Halldor!“

Er verbeugte sich vor der Königin und wandte sich den beiden Männern zu. Allerdings stockte er mitten in der Bewegung, als er Geralt die Hand reichen wollte, um sich vorzustellen.

„Wer seid Ihr?“, fragte Halldor verblüfft.

Geralt schaute nicht weniger verwirrt drein und erhob sich langsam.

„Unglaublich. Wieso siehst du aus wie ich?“

„Also, wenn, dann siehst du aus wie ich“, meinte Halldor.

Rion betrachtete die beiden abwechselnd mit großen Augen.

„Zwei von der Sorte? Das überlebe ich nicht!“

Nalia lachte laut auf. Als Halldor ihr einen undefinierten Blick zuwarf, sprach sie: „Also, ich wäre froh, wenn ich einen weiteren Mann mit Halldors Fähigkeiten in meinen Reihen hätte.“

„Danke, Eure Hoheit.“

„Ihr habt mir nie von Eurem Bruder erzählt, Halldor“, fuhr sie fort.

„Ich weiß nichts von einem Bruder. Was jedoch nicht heißt, dass ich keinen haben könnte. Ich wurde bereits als Baby adoptiert. Meine Zieheltern konnten selbst keine Kinder bekommen und haben mich aus dem städtischen Waisenhaus geholt.“

„Auch ich war im Waisenhaus. Ich bin mit sechs Sommern von dort abgehauen und durch einen glücklichen Zufall dem damaligen Händler von Kalmar begegnet. Er nahm mich bei sich auf. Dies ist zweiundzwanzig Sommer her“, erzählte Geralt.

„Lasst mich raten. Ihr zählt ebenfalls achtundzwanzig Sommer?“

„Ja! Ich …“

Die Königin unterbrach das Gespräch.

„Ich werde nachher meinen Sekretär beauftragen, sich die Unterlagen des Waisenhauses anzusehen. Vorher gibt es allerdings wichtigere Dinge zu klären.“

Die vermeintlichen Brüder ließen sich nicht aus den Augen, bis Nalia ihren General ansprach.

„Die Bewohner von Kalmar mussten Hals über Kopf fliehen. Die Insel wurde von eigenartigen Kreaturen angegriffen.“

„Angegriffen? Von wem?“

„Rion und Geralt werden uns berichten, was geschehen ist.“

Halldor legte seinen Helm neben den Sessel, als er sich setzte.

Geralt betrachtete den Mann immer noch erstaunt. Die Ähnlichkeit war einfach unglaublich. Es war fast so, als würde er in einen Spiegel schauen. Abgesehen davon, dass sein Gegenüber die dunkelblonden Haare kurzgeschoren trug und er seine schulterlang.

„Würdet Ihr uns berichten, was sich zugetragen hat, Rion?“

Rion nickte und schloss kurz seine Augen, bevor er zu erzählen begann.

„Wegen des aufziehenden Unwetters erschien es uns sicherer, in die Schutzhöhle zu gehen, die sich im Gebirge befindet. Das heißt, alle Kalmarer, bis auf Respa und ihren Sohn. Die beiden wollten nicht mit, und gutes Zureden war zwecklos. Während die anderen schon vorausgingen, lief ich zu meinem Haus zurück. Ich wollte nachsehen, ob meine Tochter dort war und noch einmal die Fensterläden und Türen kontrollieren. Melea war nicht da, und so sicherte ich mein Haus ab und ging auch nochmal zu Geralts Haus hinüber, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Da unsere Häuser direkt am Strand der kleinen Bucht liegen, konnte ich zwischen den Felsen hindurch aufs Meer hinaussehen.“

Erneut schloss Rion die Augen und schüttelte leicht den Kopf.

„Habt keine Scheu, sprecht weiter.“

„Habe ich nicht. Ich kann nur selbst kaum glauben, was ich in den vergangenen Stunden sah.“

„So geht es mir auch, aber du sahst diese Dinge nicht allein“, sagte Geralt.

Er löste sich von Halldors Anblick und sah die Königin an.

„Rion sah seltsame Lichter im Meer. Er beobachtete dies vom Strand aus und ich von einer Klippe. Bei den Lichtern handelte es sich um grüne und goldene Bögen. Es war kein Wetterleuchten, falls Ihr das denken solltet. Dazu war das Leuchten zu beständig. Zudem bildete es eine fast kreisrunde Fläche, und der Ursprung des Lichts befand sich definitiv unter Wasser.“

„Was wolltet Ihr auf der Klippe?“, fragte Nalia.

„Ich bin seit Kindesbeinen auf dem Meer unterwegs und habe bereits etliche Stürme aufziehen sehen. Aber so etwas wie gestern sah ich noch nie.

Die Wolken kamen wie aus dem Nichts und zogen sich von allen Seiten über Kalmar zusammen. Der heftiger werdende Wind wechselte ständig die Richtung, und als wir an der Schutzhöhle ankamen, lief ich weiter zur Klippe, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich wollte sehen, was auf uns zukam. Allein der Anblick des Unwetters raubte mir den Atem. Die Wolken verdunkelten die untergehende Sonne vollständig und ballten sich zu einer brodelnden schwarzen Wand zusammen, die auf die Insel zuhielt. Tja, und dann entdeckte ich das Leuchten im Meer und musste zweimal hinsehen, um zu glauben, was ich dort erblickte.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort oben stand und aufs Meer starrte. Aber in dem Moment, als das Leuchten plötzlich erlosch, riss mich eine heftige Bö fast von den Füßen. Dies weckte mich sozusagen aus meiner Starre, und ich lief so schnell wie möglich zurück. Auf dem Weg zur Schutzhöhle machte ich kurz bei Mowanye Halt. Ich hatte gesehen, dass Melea bei ihm war und nahm sie mit in die Schutzhöhle, die sich einige Schritte unterhalb seiner Höhle befindet.“

„Ich kam kurze Zeit nach den beiden dort an und sprach mit Geralt über das, was ich am Strand beobachtet hatte. Wider Erwarten hielt er mich nicht für verrückt und erzählte mir stattdessen von den gleichen Beobachtungen. Und so kamen wir überein, Wachen einzuteilen, was gar nicht so einfach war. Die anderen glaubten uns natürlich nicht, doch letztendlich teilten wir die Männer in zwei Gruppen auf. Jon, Matt und ich gingen zur Klippe, um die erste Wache zu übernehmen.

Es war eisig kalt geworden, Schnee und Eisregen peitschten auf uns ein. Und je später es wurde, umso schwieriger war es, Jon und Matt zum Bleiben zu bewegen. Es tat sich nichts im Meer, aber dafür wurde es stetig kälter. Letztlich überredete ich die beiden, auszuharren und lief zurück, um ein paar Decken zu holen. Als ich an Mos Höhle vorbeikam, sah ich Geralt und meine Tochter bei ihm.“

Rion atmete zitternd durch, bevor er weitersprach.

„Ich war darüber wenig begeistert, da ich Melea eindringlich gebeten hatte, in der Schutzhöhle zu bleiben. Ich wollte sie natürlich mitnehmen, doch ich hielt inne, als ich Mo sagen hörte: ‚So wie meine Heimat werden diese Kreaturen auch diese Insel einnehmen. Und zwar noch heute Nacht.‘“

Rion erzählte Mowanyes Geschichte, woraufhin einen Moment lang angespanntes Schweigen herrschte.

„Nach so vielen Jahren – warum erzählte er ausgerechnet vergangene Nacht seine Geschichte?“, fragte Nalia schließlich.

„Melea und ich ließen ihm keine andere Wahl. Nicht bei dem, was kurz zuvor geschehen war.“

„Wieso? Was ist denn passiert?“, fragte Rion alarmiert.

Geralt hatte eigentlich nicht vorgehabt, davon zu erzählen, weil es noch unglaublicher war als der Umstand, dass Kalmar angegriffen wurde. Aber ihm blieb nun keine andere Wahl, weil ihn auch die Königin auffordernd ansah. Und so erzählte er von Mos Ritual, bei dem er inmitten eines Lagerfeuers stand. Von den Feuerkugeln, die der Schamane als Ahnen betitelte, und letztlich von dem Ahnen, der in Lea gefahren war.

„Seid ihr irre? Wie konntet ihr mir das verschweigen?“, ­regte sich Rion auf.

Nalia hob beschwichtigend eine Hand.

„Ich sah keine Verbrennungen an ihr.“

„Weil sie keine erlitten hat, wieso auch immer. Ich konnte keine fünf Schritte an diese Wesen herangehen, so viel Hitze strahlten sie aus. Doch Lea stand inmitten einiger Ahnen, und es machte ihr überhaupt nichts aus. Sie wurde allerdings zweimal bewusstlos, nachdem dieses Wesen in sie eingedrungen war. Und beim ersten Mal, als sie die Augen aufschlug, blieb mir fast das Herz stehen, da sie wie glühende Kohlen glommen. Es dauerte jedoch keine drei Herzschläge, bis sie erneut ohnmächtig wurde. Als sie dann erwachte, war alles wieder normal. Das heißt, sie war natürlich völlig schockiert und wollte wissen, wer die Flammenfrau wäre, die sie nun in sich trug.“

„Flammenfrau?“

Geralt nickte und richtete seinen Blick wieder auf die Königin, da er befürchtete, Rion würde ihn mit seinen Blicken aufspießen.

„Lea sah keine Feuerkugeln, so wie Mo und ich. Sie war oder ist der Meinung, flammende Gesichter gesehen zu haben. Und jenes, das sie verschluckt hat, war wohl das Antlitz einer Frau.“

„Verflucht noch mal, wann wolltet ihr mir das erzählen?“

„Rion, wie du selbst mitbekommen hast, überschlugen sich danach die Ereignisse.

Bisher blieb einfach keine Zeit dafür.“

„Und nach Mowanyes Geschichte seid Ihr dann von der Insel geflohen“, unterbrach Nalia die beiden.

„Nein, nicht sofort“, antwortete Rion mühsam beherrscht.

„Mo beharrte zwar darauf, dass wir sofort von der Insel runter müssten, doch ich konnte nicht so recht glauben, was er von den Kreaturen berichtet hatte. So schnappte ich mir ein paar Decken und lief wieder zur Klippe, wo ich dann eines Besseren belehrt wurde. Matt kam mir auf halbem Weg entgegen, völlig entsetzt und aufgebracht. Er stammelte die ganze Zeit etwas von einem Monstrum, das die Felsen emporkriechen würde. Kurz darauf kamen wir bei Jon an, und ich legte mich neben ihn auf den Felsen, da die Böen noch heftiger geworden waren.

Derweil entzündete Matt im Windschatten ein paar Fackeln, aber ich erkannte bereits im Lichtkegel von Jons Fackel, dass er mit ‚Monstrum‘ nicht übertrieben hatte. Ich konnte zunächst nur Teile des Kopfes sehen, und dies war ausreichend, um mein Herz für einen Moment aussetzen zu lassen.

Die Kreatur besaß ein riesiges Rundmaul mit wulstigen Lippen. Mehrere Reihen mit nach hinten gerichteten Zähnen, die bis weit in den Rachen reichten. Mit den Lippen vermochte es sich am Felsen festzusaugen, und wahrscheinlich besaß es an der Körperunterseite ebenfalls etwas, womit es sich festsetzen konnte. Genau konnten wir es nicht sehen, auch nicht, als wir in schneller Folge sechs Fackeln hinabwarfen. Aber was wir sehen konnten, war die Größe des Wesens. Und die betrug gute acht Meter, bei einem Umfang von etwa zwei Metern.“

„Besaß es Schuppen wie ein Fisch und glänzte es silbergrau?“

Rion schüttelte den Kopf.

„Nein, die Haut glänzte und schien glatt zu sein, wie die eines Aals, und es war dunkelgrau.“

Halldor nickte der Königin zu.

„Passt ziemlich genau auf das Wesen, das vergangene Nacht angespült wurde.“

„Eines der Biester wurde hier angespült?“, fragte Geralt schockiert.

„Was sollte die Fangfrage?“, hakte Rion nach.

„Verzeiht, aber ich muss sichergehen, dass …“

„Wie ging es weiter?“, unterbrach Nalia ihren General.

„Das Wesen kam nur langsam vorwärts. Wir hatten kein Bedürfnis zu erfahren, wie schnell es sich auf ebenem Boden fortbewegt. Und deswegen nahmen wir die Beine in die Hand. Wir liefen zu den Höhlen, und nach endlos erscheinenden Diskussionen, weil uns mal wieder keiner glaubte, traten wir die Flucht an. Allein von der Insel runterzukommen war nervenaufreibend und …“

„Wurdet Ihr angegriffen?“, fragte Halldor dazwischen.

„Wir nicht, aber Respa und Safrax. Lea und ich wollten die beiden holen, da sie nicht in die Höhle mitgekommen waren“, antwortete Geralt.

„Wieso wart Ihr beide allein?“, hakte Nalia nach.

Geralt schaute kurz zu Rion, der daraufhin betrübt den Kopf hängen ließ.

„Zwischen Gebirge und Wald fließt ein Bach, der sich aufgrund des Unwetters zu einem wilden Sturzbach entwickelt hatte. Es erschien uns unmöglich, rüberzukommen, und wir überlegten fieberhaft, wie wir alle heil auf die andere Seite bekommen sollten.“

Geralt atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf.

„Lea dauerte dies wohl zu lange. Wir bemerkten sie erst, als sie bereits in der Mitte des reißenden Stroms stand, bis über die Hüften im Wasser. Mit nichts außer einem langen Ast arbeitete sie sich langsam voran. Sie hörte natürlich nicht auf uns, als wir nach ihr riefen.“

Wieder warf er einen kurzen Blick zu Rion, der aber nach wie vor zu Boden sah.

„Rion kam fast um vor Sorge und wollte ihr nach, was ich jedoch verhinderte.“

„Wieso?“, wollte Halldor wissen.

„Er kann nicht schwimmen. Dies musste ich ihm leider mit einem Kinnhaken ins Gedächtnis rufen. Und während Adaric und Jon auf ihn aufpassten, eilte ich Lea hinterher. Sie hatte fast das andere Ufer erreicht, wie ich verblüfft feststellte, als mich irgendein Ast oder Stamm unter Wasser traf. Es riss mich von den Füßen, und ich prallte wohl mit dem Kopf gegen einen Stein. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Leas angestrengte Miene, während sie verzweifelt versuchte, meinen Kopf über Wasser zu halten. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wo wir waren – an der kleinen Brücke, die über den eigentlich ruhigen Bach führte. Sie war komplett überspült, und ich fühlte den Sog, der mich unter die Holzplanken ziehen wollte, was Lea jedoch irgendwie verhinderte. Und jetzt fragt mich bloß nicht, wie sie das geschafft hat. Das frage ich mich nämlich auch noch. Auch wenn sie meine Hüften mit ihren Beinen umschlossen hielt, war die Strömung unbeschreiblich stark. Sie trug unser Gewicht nur mit einem Arm, mit dem sie einen Pfosten des Brückengeländers umklammerte. Mit der freien Hand hielt sie meinen Kopf über Wasser.“

„Sie rettete Euer Leben. Was ist daran so amüsant?“, fragte Nalia, weil Geralt wieder lächelte.

„Ihre Begrüßung, als ich erwachte. Sie meinte, ich würde nicht nur treten wie ein Ochse, ich wäre auch noch so schwer wie einer. Und erst da fiel mir auf, dass sie sich nicht nur mit einem Arm festhielt. Lea hangelte sich von Pfosten zu Pfosten und zog uns langsam Richtung Ufer.“

„Von welcher Statur ist Eure Tochter?“, fragte Halldor verblüfft.

Rion reagierte nicht auf ihn, und so war es Nalia, die antwortete.

„Sie ist schätzungsweise ebenso schwer wie ich und vielleicht ein paar Zoll größer.“

„Unglaublich! Sie muss eine unfassbare Willenskraft haben.“

„Einen unfassbaren Dickschädel, das trifft es eher“, meinte Geralt grinsend.

„Mit meiner Hilfe gelangten wir dann recht schnell ans Ufer, und in dem Moment fand ich die Situation nicht so amüsant. Jetzt tut es mir unendlich leid, dass ich Lea so angebrüllt habe. Aber wie dem auch sei – nach einer Weile tauchten am anderen Ufer Fackeln auf. Nachdem wir ein Seil gespannt hatten, kam Rion herüber. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen Lea und ihm, und dann zwischen ihm und mir, worauf ich aber nicht näher eingehen werde. Letztlich kamen Rion und ich überein, dass ich mit Lea vorausgehe, und so liefen wir zur großen Bucht. Noch bevor wir Respas Haus erreichten, fanden wir ihren Sohn. Dazu sei gesagt, dass Safrax ein Holzbein trug. Er verlor sein Bein vor einigen Jahren nach einem Unfall mit einem Stechrochen. Das Gift des Tiers kostete ihn nicht nur sein Bein. Mit den Jahren wurde er immer sonderlicher, und Respa konnte ihn kaum noch allein lassen. Wie dem auch sei, Lea kam zuerst bei Safrax an. Sie drehte ihn auf den Rücken und wandte sich sogleich ab, um sich zu übergeben. Auch mein Magen rebellierte beim Anblick seines zerfleischten Gesichtes und dem aufklaffenden Loch, wo mal seine Kehle gewesen war.

Ich zog Lea hastig auf die Füße, in dem Moment, als der tosende Sturm eine kurze Pause einlegte, und wir hörten Respa schreien. Ich konnte nicht so schnell reagieren wie Lea losrannte. Ich folgte ihr natürlich, und hinter Respas Hütte erblickten wir die Alte. Sie schlug mit Safrax’ Krücke auf etwas ein, das vor ihr auf dem Boden lag, und schrie dabei wie von Sinnen, bis Lea ihr in den Arm fiel. Sie schob Respa einige Schritte zurück, und ich besah mir derweil die Kreatur, die leblos am Boden lag. Allerdings hatte Respa den Schädel zu Brei geschlagen, und so fielen mir nur die glänzende Fischhaut und die Hände des Wesens auf. Sie waren bestimmt anderthalb Mal größer als meine, schon ohne die langen schwarzen Krallen. Ich beleuchtete es mit einer Fackel, die ich jedoch schnell wegdrehte, als Lea zu mir kam. Denn in einer Pranke hielt die Kreatur noch Safrax’ Kehle.“

„Bei den Göttern“, flüsterte Nalia schockiert.

„Waren da noch mehr von diesen Kreaturen?“

„Laut Respa, ja. Ich konnte auch einige Spuren im Sand sehen, die in Richtung der Häuser führten. Also drängte ich die beiden Frauen, weiterzugehen, doch Respa wehrte sich mit Händen und Füßen. Mehr als einmal bekam ich die Krücke an den Kopf. Letztlich schaffte es Lea, die alte Hexe zu überzeugen, indem sie sich ebenfalls stur stellte. Lea sagte, wenn Respa nicht mitkäme, würde sie ebenfalls bleiben. Dies wollte die Alte allerdings nicht, und so nahm ich Respa auf den Rücken. Wir liefen so schnell wie möglich zur kleinen Bucht. Dort lagen mein Beiboot und Rions Fischerboot vertäut, und mit denen wollten wir auf mein Schiff übersetzen.

Die anderen waren in der Zwischenzeit dort angekommen. Allerdings fehlte nun von Rion jede Spur. Ich wies die Männer an, die Boote fertigzumachen, während ich nach ihm suchen würde. Aber Lea war mal wieder schneller gewesen als ich. Ich fand die beiden an ihrem Haus, nur fünfzig Schritte vom Steg entfernt. Die beiden hatten sich zu meiner Erleichterung vertragen.

Nachdem Lea noch schnell ein paar Sachen zusammengepackt hatte, liefen wir zu den Booten.

In der Bucht war der Wellengang zwar heftig, aber wir kamen mit den Rudern recht schnell voran, bis Getica plötzlich über Bord ging. Und wieder einmal kamen jegliche Reaktionen zu spät, um Lea davon abzuhalten, hinterherzuspringen. Auch Adaric, Geticas Gemahl, und ich sprangen ins Wasser, um den beiden Frauen zu helfen. Von ihnen fehlte jedoch jede Spur. Auch mit Matts Unterstützung und unzähligen Tauchgängen fanden wir sie nicht. Panik machte sich breit, und Rion wurde dieses Mal von Jon niedergeschlagen, da er mal wieder vergessen hatte, dass er nicht schwimmen kann. Dann brüllte Jon plötzlich ‚Hai‘. Im Licht der Fackeln erkannte ich eine große Rückenflosse, und ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, wer sich daran festhielt.“

„Wie meint Ihr das?“, fragte Nalia und starrte ihn aus großen Augen an.

„Der Hai brachte Lea bis an den Rand des Bootes und …“

„Du meinst, er verfolgte sie?“

„Nein, Halldor, es ist so, wie ich es sagte. Er brachte Lea, und sie hielt Getica in einem Arm und rief Adaric zu, dass er sie hochziehen soll und dass sie nicht mehr atmen würde. Danach streichelte sie den Hai unter dem Auge und bedankte sich bei ihm.“

„Das zweite Leben, das sie in der Nacht rettete, oder?“

„Ja, Hoheit! Mo und Adaric konnten Geticas Lungen vom Wasser befreien.“

„Unglaublich! Wie viele Sommer hat Melea schon gesehen?“

„Siebzehn, fast achtzehn“, antwortete Geralt.

„Und der Hai, was hat es mit ihm auf sich?“

„Als wir endlich das Schiff erreichten, brachte ich Lea in meiner Kajüte unter, wo sie sich ausruhen sollte. Bevor ich ging, erzählte sie mir von dem Hai, dem sie am Morgen wohl schon mal begegnet war. Wichtiger ist jedoch die Kreatur, die Getica aus dem Boot gezogen hatte. Lea hatte dies mitbekommen und war ihr hinterhergesprungen.“

Geralt schüttelte seufzend den Kopf.

„Hättet Ihr nicht ebenso reagiert, wenn Ihr dies mitbekommen hättet?“, fragte Nalia.

„Sicher! Ich wurde von Getica aber auch nicht aufs Übelste betrogen, so wie Lea. Und das hatte sie erst wenige Stunden zuvor erfahren.“

„Betrogen? Inwiefern?“

„Lea ist eine fantastische Taucherin, und sie besorgt Getica die schönsten Muscheln und Korallen, die sie zur Fertigung ihres Schmucks benötigt. Diesen verkaufe ich an verschiedene Händler hier am Markt. Doch vor zwei Tagen kam ich nicht bis zum Markt, da mich eine Baronin zuvor abfing. Sie hatte mitbekommen, dass ich dem Hafenmeister Einblick in die Schmuckschatulle gewährte. Er kaufte ein Armband für seine Gemahlin bei mir. Sie kam daraufhin hinzu, besah sich jedes einzelne Teil und fragte, ob ich mit acht Silbermünzen für alles einverstanden sei. Meine Sprachlosigkeit interpretierte sie wohl falsch, also gab sie mir zehn Silbermünzen, woraufhin mir fast die Augen aus dem Kopf fielen. Auf dem Markt hätte ich mit Glück vielleicht ein Silberstück bekommen, was die gute Baronin ja nicht wissen musste“, sagte Geralt schmunzelnd, wurde aber direkt wieder ernst.

„Ich gab Getica das Geld und nahm mir vor, Lea zu fragen, wie viel sie davon abbekommen hatte. Denn Lea verdient dreißig Prozent vom Gewinn, und ich wollte verhindern, dass sie übers Ohr gehauen wird.“

„Dann hattet Ihr bereits die Vermutung, dass es so kommen würde?“

„Versteht mich nicht falsch, Hoheit. Getica ist eine wirklich nette Frau. Aber wenn es um Geld geht, dann hört bei ihr alle Freundschaft auf. Und so war es leider auch bei Lea. Anstatt drei Silbermünzen bekam sie nur eine, und das Schlimme für sie waren nicht die beiden unterschlagenen Münzen. Für Lea brach eine Welt zusammen, weil sie Getica als Freundin angesehen hatte. Mir zieht sich jetzt noch das Herz zusammen, wenn ich an die Tränen zurückdenke, die sie wegen der blöden Ziege vergossen hat. Und wisst Ihr, was Lea letztlich meinte? Sie sagte tatsächlich, Getica habe sich wahrscheinlich nur verrechnet.“

„Oh Mann. Diese Getica werde ich mir mal vornehmen. Das darf doch wohl nicht wahr sein.“

„Ihr haltet Euch zurück, General. Denn zuerst werde ich mich mit der Dame unterhalten“, sagte Nalia verärgert.

Sie trank einen Schluck Wein und schaute Geralt wieder an.

„Was hat Melea über die Kreatur berichtet, die Getica aus dem Boot gezerrt hatte?“

Geralt erzählte nun, was Lea ihm in seiner Kajüte offenbart hatte und berichtete auch gleich weiter. Von den Angriffen der aalähnlichen Wesen, dem Biss, den sich Lea zugezogen hatte. Dann kam der Angriff des Geflügelten, Sanders wundersame Auferstehung und auch dessen geistige Genesung. Und letztlich die Beobachtungen von den Kreaturen, die zu Dutzenden das Ufer Kalmars erreichten, und die unzähligen Schiffe.

Eine kleine Weile sagte niemand etwas, bis Nalia nachfragte.

„So wie es aussieht, habe ich gleich noch ein paar Gespräche vor mir. Vor allem diesen Sander werde ich mir ansehen. Wie kann es sein, dass ein Mann mit dem Gemüt eines Sechsjährigen plötzlich von dieser Krankheit geheilt ist? Zumal er hätte tot sein müssen, bei dem, was Ihr mir erzählt habt.“

„Und es ist wirklich keine Wunde zu sehen?“, fragte Halldor.

„Nein, sein Nacken ist vollkommen unversehrt. Und wir alle haben gesehen, wie der Geflügelte seine langen Zähne hineingeschlagen hat. Es tropfte sogar Blut auf uns herab.“

„Und Melea musste dies hautnah erleben. Die junge Frau tut mir unglaublich leid“, sagte Nalia leise.

„Ihr habt ein paar von den Biestern eingesammelt, die Euch zu Dutzenden angriffen.

Wo ist die Kiste?“, wollte Halldor wissen.

„In den Kutschen war zu wenig Platz, deshalb ließ ich sie auf mein Schiff zurückbringen.“

Halldor wandte sich der Königin zu.

„Ich würde gerne einen kleinen Trupp hinschicken, um das Schiff zu bewachen.“

Danach sah er Geralt an.

„Nichts gegen die Hafenarbeiter, aber unter ihnen gibt es einige, die ihre Nasen gerne in verschlossene Kisten stecken.“

Nalia winkte einen Wachmann heran.

„Lauft zu Hauptmann Celvin! Er soll zwei Dutzend Mann zum Hafen schicken. Sie sollen niemanden an Bord der Seeschlange lassen.“

Der Mann eilte davon, und Nalia rief den Nächsten herbei.

„Ich möchte unverzüglich mit Mowanye und Sander sprechen. Sie sollten sich im Gästehaus befinden. Fragt die Diener, wo sie die beiden Männer einquartiert haben.“

Während sie auf die Ankunft der beiden Männer warteten, löcherte Nalia die beiden Kalmarer mit weiteren Fragen. Die waren mehr als froh, als die Königin und Halldor zwei neue Opfer fanden. Allerdings wurden die folgenden Gespräche nicht nur für Rion zur Zerreißprobe. Auch Geralt bekam Atemnot, als Mo von seinen Visionen berichtete und in mindestens jedem zweiten Satz Meleas Name fiel. Doch im Gegensatz zu Rion konnte er sich beherrschen und brüllte Mo nicht unentwegt an, oder wollte ihm gar an den Hals gehen. Letztere Aktion veranlasste Nalia dazu, Rion vor die Tür zu setzen.

„Das war definitiv zu viel für ihn“, murmelte Geralt, als Rion von drei Wachen hinausgebracht wurde.

„Kein Wunder! Hätte ich gewusst, worum es hier geht, hätte ich ihn erst gar nicht an diesen Gesprächen teilhaben lassen“, sagte Nalia.

„Selbst ich bin völlig schockiert, wie muss es dann ihm ergehen? Er ist Meleas Vater!“

Halldor nickte dazu, wobei er Geralt beobachtete. Der verbarg sein Gesicht hinter den Händen und schüttelte alle naselang den Kopf.

Nun beugte sich Halldor vor und musterte Mo eindringlich.

„Ihr sagtet, Eure Visionen lassen keinen Zweifel zu. Wieso denkt Ihr das?

Ich meine, es sind Visionen der Zukunft! Was macht Euch so sicher, dass wir sie nur auf diese Weise beschreiten können?“

„Weil ich nicht allein mit diesen Visionen bin.“

„Respa?“, fragte Nalia direkt.

„Ja, Eure Hoheit!“

„Ich werde später mit ihr reden. Und jetzt seid so freundlich und wartet einen Moment draußen. Ich muss mich kurz mit General Halldor besprechen und komme gleich nach. Richtet Rion aus, dass ich ihn gleich zu seiner Tochter bringen werde.“

Eine Wache kam herbei und führte die beiden Männer hinaus.

„Ihr zieht doch wohl nicht tatsächlich in Erwägung, den Herrscherrat einzuberufen?“, fragte Halldor.

„Doch, das tue ich durchaus.“

„Hoheit, Ihr …“

„Habt Ihr den Männern zugehört, General?“

„Ja!“

„Und Ihr glaubt ihnen nicht!“

„Doch. Aber ich halte es für unnötig, deswegen den Rat einzuberufen. Schon gar nicht Torgulas.“

Nalia sah ihn nachdenklich an.

„Überstürzt nichts, Hoheit. Lasst mich mit Gento sprechen und eine Schiffsflotte aussenden, die sich ein Bild von der Lage machen“, sagte Halldor.

„Also gut, Halldor.“

Er atmete erleichtert auf, bis Nalia aufstand.

„Schickt Schiffe aus! Aber was meine Entscheidung wegen des Rates anbelangt – diese werde ich fällen, sobald ich Melea einen Besuch abgestattet habe. Ich hoffe, sie ist wach und kann mir ein paar Fragen beantworten.“

3

Halldor schnappte sich seinen Helm und lief eilig zur Tür, aus der Nalia bereits hinaus war.

„Ich würde auch gerne zu Lea und sehen, wie es ihr geht“, sagte Geralt.

„Eigentlich wollte ich Euch mit Halldor und meinem Sekretär in die Stadt schicken. Ich hätte gerne die seltsamen Fische, damit meine Alchimisten diese untersuchen können. Außerdem muss Halldor zu meinem Flottenkommandanten. Und in derZwischenzeit wird mein Sekretär herausfinden, ob mein General einen Bruder hat.“

Geralt und Halldor sahen sich kurz an und grinsten zeitgleich, worauf die Königin meinte: „Eigentlich bedarf es nur einer schriftlichen Bestätigung seitens des Waisenhauses. Denn was ich sehe, lässt nur einen Schluss zu. Damit meine ich nicht nur eure äußerliche Ähnlichkeit.“

„Haben wir noch einen kleinen Moment Zeit? Ich möchte wirklich nur sehen, ob alles in Ordnung ist.“

Halldor warf der Königin auf Geralts Frage hin einen Blick zu.

„Also gut, ich kann Euch ja verstehen. Aber wirklich nur einen Moment, denn Halldors Auftrag duldet keinen Aufschub.“

Rion bekam alles nur mit einem Ohr mit. Seine Sorge um Lea und die Geschehnisse, von denen er erst vorhin erfahren hatte, machten ihm sehr zu schaffen. Und dann noch Mo mit seinen seltsamen Visionen.

„Meine Tochter soll ein Bündnis der Königsreiche herbeiführen? Der ist doch irre. Wie soll sie das bewerkstelligen?“, dachte er kopfschüttelnd.

„Und wie war das mit dem Feuerwesen? Ist das Ding jetzt wirklich in ihr?“

Er schaute zu Mo, der sicherheitshalber Abstand zu ihm wahrte, was auch gut war. Rion hätte ihn am liebsten erwürgt.

Er wäre fast in einen Leibwächter gelaufen, da Nalia und somit ihre Wachen unvermittelt stehengeblieben waren.

„Bevor wir weitergehen möchte ich, dass sich Geralt und Rion ein Zimmer aussuchen. Dort könnt ihr Euch nachher frisch machen und ausruhen.

Außerdem werde ich Euch frische Kleidung bringen lassen. Und falls Ihr sonst noch Wünsche habt, sagt es bitte der Dienerschaft.“

Nalias Wachen traten zurück, sodass sie die beiden Männer ansehen konnte.

„Wir sollen hier im Palast bleiben?“, fragte Geralt verblüfft.

„So ist es am einfachsten. Denn ich werde mit Sicherheit noch einige Fragen an Euch haben. Also, sucht Euch eine Tür aus.“

Geralt zuckte mit den Schultern.

„Als wir vorhin hier vorbeikamen, wäre ich am liebsten direkt durch diese Tür gegangen. Sie zieht mich irgendwie magisch an.“

Er drehte den Knauf und warf einen Blick in den Raum dahinter. Nalia nickte Rion aufmunternd zu, woraufhin er mit dem Kopf auf die Tür vor ihm deutete.

„Gut! Die Diener werden frisches Wasser und Getränke für Euch bereitstellen, solange wir noch unterwegs sind.“

Sie wandte sich Mo zu und sagte: „Ihr könnt Euch erst mal zurückziehen. Ich werde später nach Euch und Respa schicken lassen.“

„Dürfte ich auch kurz zu Melea? Ich würde gerne …“

„Du wirst dich von meiner Tochter fernhalten, verdammt!“

Rion hatte nicht laut gesprochen, dennoch kamen zwei Wachen herbei und bauten sich vor ihm auf.

„Ihr seht selbst, dass das momentan keine gute Idee ist.“

Mo nickte der Königin zu und folgte einem Wachmann.

Sie ging daraufhin wortlos weiter und führte die Männer durch einige Flure zu den Krankenquartieren. Gerade als sie eine Tür öffnen wollte, kam ein älterer Mann heraus.

„Hoheit!“

Er fiel auf die Knie.

„Helimus hat mich soeben beauftragt, Euch zu holen.“

„Wie geht es meiner Tochter?“, fragte Rion.

Der Heiler blickte betrübt auf, woraufhin Rion versuchte, an den Wachen vorbeizukommen.

„Sagt schon!“

„Das werden wir gleich herausfinden“, sagte Nalia.

Der Heiler erhob sich und wich zur Seite, als die Königin das Krankenzimmer betrat. Doch nach zwei Schritten blieb sie schockiert stehen, denn so hatte sie ihre Heiler noch nie gesehen. Abgesehen vom Obersten waren noch drei weitere aus dem Orden im Raum, wobei alle vier mehr als erschöpft wirkten.

„Halt!“

Gleichzeitig mit dem Gebrüll des Wachmannes wurde Nalia sanft an den Schultern gepackt und einen Schritt nach vorne geschoben. Sie hob hastig eine Hand, da ihre Wachen ebenfalls an ihr vorbei wollten.

„Lasst ihn! Der Mann will nur zu seiner Tochter.“

Rion kniete bereits neben dem Bett und hielt Meleas Hand, schaute aber zu den Heilern hinüber.

„War sie schon wach?“

Keiner der vier antwortete.

„Was ist geschehen?“, fragte Nalia.

„Ich habe ihre zahlreichen Wunden geheilt, was anfangs auch reine Routine war.

Eine angebrochene Rippe, Hautabschürfungen und etliche Prellungen heilten problemlos, auch das Fieber verschwand. Aber eine Wunde will sich einfach nicht schließen. Zu viert haben wir es versucht, jedoch erfolglos. Und dass sie nicht erwacht, hängt wahrscheinlich mit dieser Wunde zusammen.“

Nalia wurde erneut einen Schritt voran geschoben. Wieder musste sie ihre Wachen davon abhalten, das Krankenzimmer zu stürmen.

„Was wollt Ihr damit sagen?“, fragte Geralt, der sich neben Rion hockte.

Sie hob eine Hand in seine Richtung und wandte sich Helimus zu.

„Ist es die Bisswunde am Oberarm?“

„Ja, Hoheit!“

„Mowanye berichtete, dass diese Tiere wahrscheinlich über Gift verfügen, welches sie durch den Biss abgeben. Könnte dies die Heilung der Wunde abwehren und Melea daran hindern zu erwachen?“

„Wir wissen von dem Gift und haben alles Erdenkliche versucht, um es aus ihrem Körper zu verbannen. Aber von uns kommt keiner dagegen an, was nur einen Rückschluss zulässt: Das Gift ist magischen Ursprungs! Die junge Frau befindet sich in einer Bewusstseinsstarre, und wenn uns nicht schnell etwas einfällt, dann …“

„Was?“, hakte Rion aufgebracht nach, da Helimus nicht weitersprach.

„Dann wird …“

„Dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass Melea den Weg ins Leben zurückfindet“, unterbrach Nalia den obersten Heiler.

„Seid Ihr auch eine Heilerin?“

„Nein, Geralt. Meine Fähigkeiten liegen auf einem anderen Gebiet.“

Sie ging ans Kopfende des Bettes und berührte mit den Fingerspitzen Leas Stirn.

„Ich vermag es, in das Bewusstsein anderer Wesen einzudringen.“

„Wie meint Ihr das?“, fragte Rion flüsternd.

„Stellt Euch vor, Ihr könntet in den Kopf eines anderen Menschen eindringen und dessen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle erforschen.“

Seine Augen weiteten sich ungläubig.

„Das ist unmöglich!“

Nalia musste lächeln.

„Nein, ist es nicht. Ich besitze diese Fähigkeit. Und ich kann versuchen, Melea zu helfen, indem ich ihr den Weg zurück zeige.“

„Einen Weg zurück?“

„Manchmal verirrt sich der Geist eines Menschen in seinem Innersten. Oder er zieht sich zurück, weil er etwas Schreckliches erlebt hat. Dann ist es für denjenigen oft schwierig, den Weg in die Realität zurückzufinden. Wenn eine der Varianten auf Melea zutrifft, sollte es für mich kein Problem sein, sie zu finden und in die Realität zurückzuführen. Falls aber Magie eine Rolle spielt und das Blut des Wesens einen Zauber der Bewusstseinsstarre hervorruft, dann wird es ein wenig komplizierter.“

„Wie sollte Blut so etwas zustande bringen können?“

„Magie macht vieles möglich, Geralt.“

„Was meint Ihr mit komplizierter?“, fragte Rion.

„Nun ja, es könnte sein, dass Melea in ihrem eigenen Geist gefangen gehalten wird. Zum Beispiel in einer ihrer Erinnerungen. Sie darin zu finden, ist sehr zeitaufwendig.“

„Zeit, die wir nicht haben“, sagte Helimus.

„Denn selbst wenn Ihr die junge Frau dazu bewegt aufzuwachen, so tobt in ihrem Körper immer noch das Gift.“

„Sobald wir die Kiste vom Hafen haben, werden sich Valamar und die Alchimisten mit den Tieren befassen. Sie werden ein Gegengift finden.“

„Was macht Euch da so sicher?“

Nalia blickte in Rions feuchte Augen und lächelte ihm aufmunternd zu.

„Valamar ist ein Meistermagier. Wie ich eben schon sagte – Magie macht vieles möglich.“

Geralt streichelte sanft über Leas Wange und flüsterte: „Du bist stärker als das verfluchte Gift. Also kämpf gefälligst dagegen an. Und wenn ich nachher zurückkomme, will ich irgendeine Frechheit hören und dein freches Grinsen sehen.“

Er erhob sich, klopfte Rion auf die Schulter und sagte zur Königin: „Ich will auf dem schnellsten Weg zum Hafen und die Kiste holen. Habt Ihr ein Pferd für mich?“

„Halldor wird Euch eines zur Verfügung stellen.“

Geralt nickte, eilte zur Tür und sah Halldor an, der unter dem Rahmen stand.

„Los, beeilen wir uns!“

Auf das Nicken der Königin hin wandte sich der General ab. Sie lauschten den schweren Schritten der beiden Männer, die sich im Laufschritt entfernten. Als sie verhallt waren, trat Nalia an Rion heran und legte eine Hand auf seine Schulter.

„Darf ich bitte hierbleiben?“, fragte er leise.

„Nein, tut mir leid. Ich erwarte drei meiner Heiler. Wir wollen gleich einen neuen Versuch unternehmen, die Wunde zu schließen“, sagte Helimus.

„Aber sagtet Ihr nicht vorhin, Ihr hättet bereits alles Erdenkliche versucht?“

„Das heißt aber nicht, dass wir aufgeben.“

„Ich halte es ebenfalls für sinnvoll, wenn Ihr Euch ein wenig zur Ruhe begebt“, meinte Nalia.

„Ich werde keine Ruhe finden, solange es meinem Mädchen schlecht geht.“

„Ihr werdet Melea keine Hilfe sein, wenn Ihr vor Erschöpfung zusammenbrecht.“

„Und uns auch nicht! Wir haben mit Eurer Tochter wahrlich genug zu tun“, sagte Helimus, wobei er leicht lächelte.

„Kommt, Rion. Ich bringe Euch zu Eurem Zimmer.“

Widerwillig folgte er Nalia aus dem Krankenzimmer. Helimus stand seufzend auf, um die Tür zu schließen. Dabei bemerkte er die rauchige Erscheinung nicht, die hinter dem Kopfende des Bettes emporschwebte. Der dunkelgraue Dunst zerfaserte, und es bildeten sich fünf Auswüchse, die wie lange Finger anmuteten. Diese krochen über das Kissen zu Leas Kopf. Und während Helimus noch einen Blick auf den Flur warf, riss Lea Augen und Mund auf. Sämtliche Muskeln verkrampften. Ihr gesamter Körper zuckte unkontrolliert, als der unheilvolle Nebel durch Augen, Nase und Mund in ihren Körper drang.

„Verflucht, nicht schon wieder.“

Helimus warf die Tür hinter sich zu und eilte zum Krankenbett.

„Ich muss noch einige Dinge in die Wege leiten, bevor ich zu Eurer Tochter gehe und den Versuch wage, in ihren Geist vorzudringen.“

„Ich möchte gerne dabei sein, wenn Ihr dies tut.“

„Ihr werdet vor der Tür warten müssen, Rion“, sagte Nalia.

„Sie ist meine Tochter, und ich will bei ihr sein. Ist das denn so schwer zu begreifen?

Verflucht noch mal“, brüllte er plötzlich.

Nalia musste mal wieder ihre Wachen davon abhalten, Rion anzugehen.

„Es erfordert absolute Konzentration, so etwas zu tun. Und es kann für Melea und auch für mich sehr gefährlich werden, sollte ich unerwartet aus ihrem Geist herausgerissen werden.“

Rion schüttelte verständnislos den Kopf und atmete tief durch.

„Verzeiht, Hoheit. Ich kenne mich mit derlei Dingen nicht aus.“

„Ich verstehe Euch. Glaubt mir bitte, wir tun wirklich alles, was in unserer Macht steht, um Melea zu helfen.“

„Ich danke Euch …“

Nalia unterbrach ihn, indem sie dazwischen sprach: „Ich muss nun wirklich los. Also, geht bitte in Euer Zimmer, macht Euch frisch, ruht Euch aus und esst etwas. Ich werde Euch nachher abholen, wenn ich zu den Krankenquartieren gehe.“

Rion wusste gar nicht, wie ihm geschah, als Nalia die Tür öffnete und ihn kurzerhand in den Raum schubste. Er zuckte ein wenig zusammen, da die Tür hinter ihm recht laut ins Schloss krachte.

Nalia blieb davor stehen und streichelte dem Wassermann über die Schwanzflosse. Dann ging sie zu der Tür, die Geralt ausgewählt hatte und murmelte: „Wer hätte das gedacht?“

Einen Moment lang betrachtete sie die gefiederte Seeschlange, dann eilte sie los.

Rion stand immer noch an der Tür und sah sich mit großen Augen um.

„Das Zimmer ist halb so groß wie mein Haus“, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Raum maß fünfzehn Meter in der Länge und sieben in der Breite. Der Schlafbereich befand sich rechts von ihm und vereinnahmte ein Drittel des Zimmers. Allein das Bett war so groß, dass eine vierköpfige Familie darin Platz finden würde. Daneben stand ein kleines Tischchen mit einer Öllampe. Dann gab es einen Schrank, aus dem man ein weiteres Zimmer hätte machen können, und zwei Truhen, in die er sich bequem reinlegen könnte. Ein großer Kamin zierte die Wand vor ihm. Davor standen vier große Sessel.

Langsam ging Rion nach links und bestaunte die Fensterfront von fünf Metern Breite. Die Fenster reichten vom Boden bis unter die drei Meter hohe Decke. An der rechten Seite gab es eine Tür, die zum Balkon hinausführte. Es zog ihn jedoch zur linken Seite, wo es einen abgetrennten Bereich gab.

Vorsichtig, als hätte er Angst davor, dass ihn etwas anspringen könnte, schob Rion einen schweren Vorhang beiseite und warf einen Blick in den separaten Raum. Dort stand ein langer Tisch mit zwei eingelassenen Waschschüsseln. Ein großer Wasserkrug stand daneben auf einem Tischchen, auf dem auch weiße Tücher, Seife und Rasiermesser lagen.

Er schob den Vorhang nun ganz zur Seite und erblickte direkt den großen Badezuber zu seiner Rechten. Am Ende des Raums entdeckte er eine hölzerne Abdeckung auf dem Boden. Seine Überlegungen, welchem Zweck diese wohl diente, waren hinfällig, als er den Deckel anhob. Wegen des bestialischen Gestanks ließ er den Holzdeckel direkt wieder fallen und flüchtete ins Zimmer zurück. Er ging zur Balkontür, zog den Riegel zurück und wollte gerade hinausreten, als es vernehmlich klopfte. In der Annahme, die Königin sei zurück, eilte er durchs Zimmer und riss die Tür auf.

Ein alter, runzliger Mann ohne Haare und ein schwerbepackter Junge von vielleicht dreizehn Sommern schoben sich an ihm vorbei. Der Mann ging in die Richtung des Kamins, und der Junge schleppte einen großen Sack zum Bett.

„Kommt doch rein“, murmelte Rion und schloss die Tür.

Der Alte neigte sein Haupt, als Rion auf ihn zuging.

„Verzeiht die Störung, mein Herr. Die Königin beauftragte uns, Euch einige Kleidungsstücke zu bringen. Mein Name lautet Poro, und der Junge heißt Lenas.“

Der Junge kam herbei, musterte Rion von allen Seiten und lief wieder zum Bett. Dort hatte er den Inhalt des Sackes verteilt und sortierte nun Kleidungsstücke aus. Dies tat er recht zügig. Letztlich packte er ein paar wenige Sachen wieder ein.

Rion warf einen Blick aufs Bett, auf dem nun Hosen, Hemden und zwei Umhänge lagen.

„Das sollte als Erstausstattung reichen.“

Völlig verblüfft schaute Rion die beiden abwechselnd an, bis Lenas auf seine Stiefel zeigte.

„Oh, da hast du wohl Recht, mein Junge.“

Rion schaute kurz an sich hinunter.

„Lenas ist der Meinung, Eure Stiefel hätten ihren Dienst getan, mein Herr. Er wird Euch gleich neue bringen“, sagte Poro lächelnd.

„Nennt mich bitte nicht so. Mein Name ist Rion.“

Er sah Lenas an und fragte: „Kannst du nicht sprechen?“

„Niemand weiß, wieso er nicht spricht. Auch die Heiler nicht. Lenas ist bereits sein halbes Leben hier und hat bisher nicht ein Wort gesprochen.“

Der Junge schnappte sich den fast leeren Sack und ging zur Tür.

„So, bis auf die Stiefel sind wir hier erst mal fertig.“

Rion sah die beiden verwundert an.

„Soll ich die Sachen nicht anprobieren?“

Poro schüttelte lächelnd den Kopf.

„Glaubt mir, sie werden passen, Lenas hat einen Blick dafür.“

Nachdem sie gegangen waren, stand Rion wieder allein im Zimmer und betrachtete seine Stiefel.

„So schlimm sehen die doch gar nicht aus“, dachte er.

Wenig später wühlte er in den Kleidungsstücken und murmelte erstaunt vor sich hin.

„Das sind ja alles neue Sachen.“

Er entschied sich für eine dunkle Lederhose und ein Hemd in der gleichen Farbe. Seine vor Dreck und Blut starrenden Klamotten warf er auf einen Haufen neben das Bett. Dann begab er sich hinter die Abtrennung, wusch sich ausgiebig, und nachdem er sich auch noch rasiert hatte, zog er die neuen Sachen an. Verwundert stellte er fest, dass sie wirklich perfekt passten.

Die anderen Sachen legte er ordentlich zusammen und verstaute sie im Schrank. Da er jetzt nichts mehr zu tun hatte, begann er damit, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Hoffentlich kann ihr dieser Heiler helfen“, murmelte er vor sich hin.

„Und was, wenn nicht?“, schoss es ihm durch den Kopf.

„Wird die Königin dann wirklich in Leas Geist eindringen? Wie soll das vonstattengehen? Mit Magie? Oh Mann, bloß keine Magie. Ich hasse Magie, sie führt zu nichts Gutem.“

Am Kamin blieb Rion stehen und schaute zur Tür.

„Ich halte diese Warterei nicht aus. Ob Geralt schon zurück ist?“

Er ging zu Geralts Zimmer, doch sein Klopfen blieb ungehört.

„Verdammt, er ist bestimmt mit seinem Bruder unterwegs. Falls Halldor denn sein Bruder ist.“

Missmutig kehrte er in sein Zimmer zurück, wo er von Lenas erwartet wurde. Er stand mitten im Raum, schaute ihn ernst an und reichte ihm ein zugeschnürtes Bündel. Rion nahm es entgegen und blickte Lenas verdattert nach, als der zur Tür hinausging.

„Danke“, rief er ihm nach.

„Seltsamer Junge“, dachte er und setzte sich auf einen Sessel.

Dort packte er seine neuen Stiefel aus und bekam große Augen. Solche Stiefel hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht besessen. Sie bestanden aus schwarzem Büffelleder, waren unglaublich weich und passten wie angegossen. Rion ging ein paar Schritte auf und ab und schüttelte verwundert den Kopf.

„Wie macht der Junge das nur? Nur durch Ansehen eines Menschen zu wissen, welche Kleidung er braucht … unglaublich.“

Seufzend setzte er sich wieder und hoffte auf weitere Ablenkung, doch die kam nicht. So wurde das Warten zur Tortur.

Melea

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