Читать книгу Krimi Sammelband 4005: Frohes Mörderfest - 4 Thriller in einem Band - Alfred Bekker - Страница 14
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ОглавлениеDie Villa, die Felix und Kerstin Wuttke in Wilmersdorf bewohnten, hätte auch dem verwöhnten Geschmack eines Millionärs zugesagt. Katharina fuhr auf das imposante, schmiedeeiserne Tor zu, das von einer Bogenlampe hell erleuchtet wurde, und passierte die weit geöffneten Flügel. Der Kies knirschte unter den Reifen ihres Wagens. Vor ihren Augen erhob sich das helle Haus. Es stand in der Mitte einer weiten Rasenfläche, von Weiden und anderen Bäumen umgeben, die ihre kahlen Äste zum wolkenlosen Nachthimmel emporstreckten. Der milde Glanz des Vollmonds zauberte geheimnisvolle Schatten auf den Boden. In sämtlichen Räumen des zweistöckigen Gebäudes herrschte Festbeleuchtung. Die Villa war kein moderner Prachtbau, sondern stammte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Schon aus der Ferne drangen Musik und Gelächter an Katharinas Ohren. Die Auffahrt vor dem Haus war mit Steinplatten gepflastert und wurde vom Strahl einer eisernen Laterne erhellt, die im schwachen Wind leise hin und her schwang.
Katharina stieg aus ihrem Wagen und ging auf die massive Eichentür zu, die allein schon ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Als sie ein paar Mal kurz auf den Klingelknopf drückte, wurde ihr die Tür von einem jungen Dienstmädchen geöffnet, die sie mit einem einladenden Lächeln empfing.
„Mein Name ist Katharina Ledermacher“, stellte sich die Detektivin vor. „Frau Wut...“ Sie brach ab, als sie den Herrn des Hauses auf sich zukommen sah, während das Mädchen die Tür hinter ihr schloss. Felix Wuttke hatte eine himmelblaue Hausjacke übergezogen, die Katharinas Ahnung, das er einen scheußlichen Geschmack hatte, vollauf bestätigte. Einen Augenblick betrachtete er die Detektivin schweigend. Dann strich er sich mit der Hand durch sein leuchtend rotes Haar und begrüßte sie.
„Frau Ledermacher“, sagte er. „Kommen Sie, ich möchte Sie meiner Frau vorstellen.“ Kerstin Wuttke hielt sich im großen Salon auf, der völlig im Stil der Kaiserzeit eingerichtet war. An der Decke hing ein riesiger Kristallleuchter, der den ganzen Raum in blendendes Licht tauchte. Die Dame des Hauses lehnte nachlässig an der Anrichte, die für den Abend in ein Büfett mit Bar umgewandelt worden war. In der Hand hielt sie ein Champagnerglas und lachte herzlich, während Teodor Gröne sie selbstzufrieden betrachtete.
Kerstin Wuttke war sehr groß und schlank. Das erste, was einem Betrachter an ihr auffiel, waren die langen, wohlgeformten Beine. Der enge Rock ihres Kleides betonte die schmalen Hüften und die zerbrechliche schlanke Taille, die ein breiter schwarzer Lackgürtel umschloss. Sie hatte einen schlanken Hals, den ein schwarzes Perlenkollier schmückte, das zu dem hellen Haar einen guten Kontrast bildete. In schweren Wellen fiel das Haar bis auf die Schultern herab und umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit dunklen Augen und einem großen Mund, der strahlend lächelte.
Als sie ihren Mann erblickte, entfernte sich die junge Frau von Gröne und ging mit wiegenden Schritten auf Katharina und ihn zu. Sie streckte der Detektivin ihre schmale Hand entgegen.
„Das ist Frau Francesca Rossi“, sagte Wuttke. „Sie ist eine neue Mitarbeiterin in unserer Abteilung und spricht leider kein Deutsch.“
Kerstin Wuttke murmelte einige italienische Worte. Plötzlich unterbrach sie sich. „Aber das ist doch Katharina Ledermacher. Sie sind Privatdetektivin. Ich habe Ihr Bild neulich in der Zeitung gesehen.“
Felix Wuttke sah sie betroffen an.
„Würden Sie mir bitte erklären, was das bedeuten soll“, sagte er mit tonloser Stimme.
„Ich habe Frau Ledermacher engagiert“, erklang eine Stimme hinter ihr. Katharina drehte den Kopf und erblickte Stollberg, der auf sie zukam.
„Ich hatte auf meinem Schreibtisch sicherheitshalber ein großes Foto von Frau Ledermacher aufgestellt, um zu sehen, ob einer meiner Mitarbeiter sie erkennen würde“, erklärte Stollberg. „Als ich überzeugt war, dass sie keiner von ihnen kannte, habe ich einfach behauptet, sie sei von einer ausländischen Filiale zu uns gekommen. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich es entsetzlich bedauere, dass sie Frau Ledermacher erkannt haben, Frau Wuttke.“
Die Gastgeberin lächelte schwach.
„Das konnte ich doch nicht wissen.“
„Natürlich nicht“, erwiderte Stollberg. „Der Fehler liegt bei mir. Ich hätte Frau Ledermacher sagen sollen, dass sie nur während der Bürozeiten mit meinen Mitarbeitern zusammenkommen soll.“
Felix Wuttke schien aus einem Traum zu erwachen. Die Augen hinter den gesenkten Lidern belebten sich plötzlich.“
„Ich verstehe nicht, warum Sie uns dieses Theater vorgespielt haben.“
Neugierig und von den Ereignissen gefesselt, stellte Gröne sein Glas auf das Büfett und näherte sich der kleinen Gruppe. Sein Mund verzog sich zu einem feinen Lächeln.
„Habe ich richtig gehört?“, fragte er. „Sie sind Privatdetektivin?“
„Ich habe Frau Ledermacher engagiert, um herauszufinden, auf welche Art und Weise geheime Informationen unserer Firma in die Hände von Zerban gelangen“, erklärte Stollberg noch einmal.
„Wer?“, fragte Gröne.
Stollberg wollte gerade antworten, als Felix Wuttke ihm das Wort abschnitt.
„Das heißt also, dass Sie uns verdächtigen?“
Stollberg beantwortete diese Frage mit kühler Gelassenheit.
„Der Verrat kann nur von einem der höchsten Angestellten begangen worden sein. Ich bin enttäuscht, dass die Identität von Frau Ledermacher so früh aufgedeckt wurde. Aber das Risiko musste ich eben eingehen. Jetzt bleibt nur noch eines übrig: uns direkt an diesen Zerban zu wenden. Einen Industrie-Spion kann man kaufen, und ich bin sicher, dass er uns gegen eine anständige Summe den Namen des Verräters geben wird.“
Katharina schüttelte den Kopf, während sie von Kerstin Wuttke ein Glas Champagner entgegennahm.
„Unmöglich. Tote sprechen nicht.“
Die Umstehenden warfen ihr fragende Blicke zu.
„Zerban ist tot?“, erkundigte sich Stollberg ungläubig.
Katharina schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete.
„Er ist vor ungefähr zwei Stunden ermordet worden.“
Mit einer langsamen, resignierenden Bewegung ließ Stollberg sich in einen der tiefen Sessel fallen.
„Das kompliziert natürlich die Angelegenheit“, meinte er. „Was machen wir jetzt?“
Katharina zuckte mit den Schultern.
„Ihn begraben natürlich.“
Stollberg bedachte sie mit einem strengen Blick.
„Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für billige Scherze, Frau Ledermacher. Weiß man, wer der Täter ist?“
„Kommissar Reese hat Dietrich Colditz festgenommen. Er befand sich am Tatort.“
Den Zuhörern entrang sich ein Ausruf der Bestürzung, der durch den entsetzten Schrei einer weiblichen Stimme übertönt wurde.
„Dietrich! Festgenommen? Nein!“
Katharina drehte sich rasch um. Eine Frau in einem tief ausgeschnittenen Cocktailkleid kam auf sie zu. Um den Hals trug sie eine kostbare Perlenkette.
„Das ist Elisa, seine Frau“, flüsterte Gröne.
Die Frau war klein und zierlich. Aus dem schmalen Gesicht strahlten veilchenblaue Augen mit einem Ausdruck ständigen Erstaunens. Die gerade Nase war sehr klein, und der leicht geöffnete Mund enthüllte eine Reihe makelloser weißer Zähne. Die Stirn war vollkommen von dem gebleichten Haar bedeckt, das in großen Wellen über die Ohren fiel und im Nacken durch eine Spange zusammengehalten wurde.
Elisa Colditz trug teuren Schmuck. An ihrer linken Hand glitzerte ein riesiger Rubin, während ein kostbares Armband das zarte Handgelenk zierte. Katharina erinnerte sich plötzlich an die Geschichte, die Dietrich Colditz ihr erzählt hatte. Wie erstaunt war er darüber gewesen, dass seine Frau plötzlich ihren Geschmack für Schmuck entdeckt hatte. Er war überzeugt gewesen, dass die Stücke geschickte Imitationen seien. Katharina fragte sich, wie man so blind sein konnte: Die Juwelen, die Colditz‘ Frau trug, waren zweifellos echt.
„Nein, Sie müssen sich irren. Das ist nicht möglich.“
„Leider doch, Frau Colditz. Ihr Mann wird zurzeit im Landeskriminalamt verhört. Außerdem habe ich beim Verlassen des Hauses, in dem Zerban wohnte, den Wagen stehen sehen, der Ihrem Mann gehört. Er hatte ihn auf der anderen Straßenseite geparkt. Irgendjemand müsste ihn holen, bevor er von der Polizei abgeschleppt wird. An der Stelle, wo er jetzt steht, ist nämlich Halteverbot.“
Elisa Colditz schüttelte abermals den Kopf.
„Wenn das stimmt, dann braucht Dietrich mich jetzt. Was ist denn eigentlich passiert?“
Katharina gab ihr eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Als sie darauf zu sprechen kam, dass sie auch den Bericht über die Konferenz gefunden hatte, sprang Stollberg verwundert auf.
„Sind Sie sicher, dass es sich um meine Ausführungen gehandelt hat?“
„Vollkommen. Es besteht nicht der geringste Zweifel. Natürlich hat die Polizei die Wohnung gründlich durchsucht, aber keine Schreibmaschine gefunden. Der Bericht ist ihm also von einer anderen Person übergeben worden. Und da es normalerweise mindestens eineinhalb Stunden dauert, so etwas auf der Maschine zu tippen, ist es nur normal zu glauben, dass ihn die Person umgebracht hat, die ich bei der Leiche überrascht habe. Mit anderen Worten - Dietrich Colditz. Die Besprechung war um zwanzig Uhr dreißig zu Ende. Colditz ist um zweiundzwanzig Uhr angekommen. Rechnen Sie selber nach!“
„Das ist falsch. Es muss falsch sein“, schrie Elisa völlig außer sich. „Dietrich würde nie im Leben etwas verraten.“
„Deshalb also“, murmelte Kerstin Wuttke vor sich hin. Sie blickte starr auf den riesigen orientalischen Teppich, der den Boden des Zimmers schmückte. „Deshalb ist Dietrich nicht erschienen. Ich habe mich schon gewundert, wo er bleibt.“
„Können Sie sich erinnern, in welcher Reihenfolge die Gäste hier ankamen?“, fragte Katharina.
Sie antwortete, ohne zu zögern.
„Herr Stollberg kam gegen dreiviertel zehn. Ungefähr eine Viertelstunde später folgte Herr Gröne. Als Letzte kam Frau Colditz - etwa um zehn Minuten nach zehn. Sie war bereits bei ihrer Ankunft unruhig, weil sie nicht wusste, wo Dietrich war. Zuhause hatte sie vergeblich auf ihn gewartet. Anschließend versuchte sie telefonisch festzustellen, wo er sich befand. Aber sie konnte ihn nicht erreichen.“
Katharina fiel auf, dass entweder Elisa Colditz oder ihr Mann über diesen Punkt nicht die Wahrheit gesagt hatten. In Gedanken stellte sie ihre Rechnung auf. Die Besprechung, die Stollberg abgehalten hatte, war gegen zwanzig Uhr dreißig zu Ende gegangen. Dann hatte sie ungefähr dreißig bis vierzig Minuten mit dem Firmeninhaber verbracht. Um einundzwanzig Uhr dreißig war sie bei Zerbans Wohnung eingetroffen. Dietrich Colditz erschien ungefähr eine halbe Stunde später.
„Ich möchte mich nicht nur auf Ihre Gäste beschränken, Frau Wuttke“, sagte sie. „Wann ist denn Ihr Mann ...“
„Das kann ich Ihnen nicht erlauben“, fiel Felix Wuttke ihr ins Wort.
Katharina drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn gleichgültig.
„Früher oder später müssen Sie doch sagen, was Sie in der fraglichen Zeit getan haben. Sie scheinen zu vergessen, dass ein Mensch getötet wurde. Und falls Herr Stollberg sich nicht anders entschieden hat, dann arbeite ich immer noch für ihn.“
„Selbstverständlich“, bestätigte Stollberg. „Wir suchten einen Verräter. Jetzt müssen wir einen Mörder finden. Es wäre mir sehr recht, wenn Frau Ledermacher die Angelegenheit lösen könnte, bevor es der Polizei gelingt. Ansonsten wächst sich das Ganze zu einem Skandal aus, auf den sich die Medien gierig stürzen werden. Also, Herr Wuttke, nun frage ich Sie: Wann sind Sie hier angekommen?“
Der Ingenieur sah seinem Vorgesetzten trotzig in die Augen.
„Ich war bereits hier, als Sie eintrafen. Aber ich hatte starke Migräne und habe mich hingelegt. Ich überließ es meiner Frau, Sie zu empfangen.“
Katharina wandte sich der Gastgeberin zu.
„Stimmt das, Frau Wuttke?“
„Aber ... ich ...“ Sie nahm sich zusammen und versuchte, ihre Mimik zu beherrschen. Dann richtete sie sich gerade auf und antwortete hoheitsvoll wie eine Königin: „Das ist absolut richtig. Felix litt unter starker Migräne.“
Katharina war davon überzeugt, dass sie nicht die Wahrheit sagte, sondern lediglich versuchte, ihren Mann zu decken. Außerdem war es unverkennbar, dass diese Frau nicht überzeugend lügen konnte. Im ersten Moment war die Detektivin versucht, Felix Wuttke mit Fragen zu überschütten, umso möglicherweise sein Alibi platzen zu lassen, aber dann änderte sie ihren Plan. Kerstin schien sich vorgenommen zu haben, ihren Mann unter allen Umständen zu verteidigen. Vielleicht war es besser, die beiden getrennt zu verhören.
Unvermittelt richteten sich alle Augen auf Elisa Colditz. Sie war in einem Stuhl zusammengesunken und stieß plötzlich ein verzweifeltes Schluchzen aus. Die Tränen hinterließen helle Spuren in ihrem sorgfältig geschminkten Gesicht. Automatisch griff sie hinter sich, um nach ihrer Handtasche zu suchen, die sie anscheinend irgendwo liegengelassen hatte, während sie auf die Gruppe zugelaufen war. Katharina näherte sich der Frau und reichte ihr ein Papiertaschentuch. Mit gesenktem Kopf griff Elisa Colditz danach und begann sich vorsichtig das Gesicht abzutupfen.
„Es ... ist ... nicht möglich“, stammelte sie unter Tränen. „Dietrich hätte so etwas nie getan.“
„Ich möchte Ihnen gerne glauben“, sagte Katharina. Gleichzeitig dachte sie an den Grund, den Dietrich Colditz ihr für seine Anwesenheit in Zerbans Wohnung genannt hatte. Deshalb beschloss sie, mit ihr zu einem anderen Zeitpunkt über ihre Untreue zu reden. Sie wollte die junge Frau nicht vor den anderen Gästen bloßstellen. Katharina beugte sich über sie und berührte leicht ihren Arm.
„Kommen Sie! Wir gehen jetzt.“
Sie warf der Detektivin einen erstaunten Blick zu. Auf ihren Wangen lag noch eine Spur Wimperntusche, die der Tränenstrom dorthin gespült hatte.
„Wo ... wohin gehen wir denn?“
„Zu Ihnen nach Hause. Sie werden für Ihren Mann eine kleine Tasche packen. Er braucht sie, denn die Polizei wird ihn nicht so schnell freilassen. Ich werde Sie anschließend zum Landeskriminalamt bringen.“
Ein dankbares Lächeln huschte über ihre Züge. Sie wusste, dass dies der einzige Liebesdienst war, den sie ihrem Mann im Augenblick erweisen konnte.
„Sie haben recht. Beeilen wir uns. Dietrich braucht mich bestimmt.“
Katharina blickte zu Stollberg hinüber. In seinen Augen las sie, dass er ihre Absicht verstanden hatte. Er war sich vollkommen im Klaren darüber, dass es der Detektivin viel eher gelingen würde, von dieser Frau brauchbare Informationen zu erhalten, wenn sie mit ihr allein war. Nachdem er ihnen einen guten Abend gewünscht hatte, entfernte er sich. Kerstin Wuttke konnte ihre Überraschung jedoch nicht verbergen.
„Sie wollen wirklich schon gehen?“, fragte sie.
Katharina nickte. Keiner der Gäste hielt es für angebracht, ihr oder Elisa Colditz fröhliche Weihnachten zu wünschen, als sie das Haus verließen. Die junge Frau ging zu ihrem Wagen. Nachdem sie sich hinter das Steuer gesetzt hatte, überlegte sie es sich plötzlich anders.
„Würden Sie fahren, Frau Ledermacher? Ich bin so nervös, dass ich bestimmt einen Unfall verursache.“
„Also gut“, gab Katharina zurück und setzte sich an ihren Platz.
Schon wenige Minuten später hatte sie sich von dem unvorhergesehenen Schlag wieder erholt. Mit beherrschter, ruhiger Stimme, beschrieb sie Katharina den Weg, den sie fahren musste, um zu der Villa der Colditz‘ zu gelangen. Vor dem Haupteingang hielt die Detektivin das Fahrzeug an, doch Elisa bat sie, noch ein paar Schritte weiter bis zur Garage zu fahren.
Dort drückte sie auf einen Knopf am Armaturenbrett. Langsam hob sich das Garagentor in die Höhe, während drinnen automatisch das Licht anging. Katharina fuhr den Wagen hinein. Sobald sie im Inneren waren, drückte die junge Frau wieder auf den Knopf, und das Tor schloss sich hinter ihnen. Elisa stieß eine kleine Tür auf, die in den Garten führte. Katharina folgte ihr. Sie gingen den Kiesweg entlang. Elisa holte einen kleinen Schlüssel aus der Handtasche und sperrte die schwere Eichentür auf. Drinnen knipste sie das Licht an und bat Katharina einzutreten. Dann öffnete sie eine zweite Tür auf der rechten Seite. Sie führte ins Wohnzimmer, in dem Möbel aller Stilrichtungen bunt zusammengewürfelt waren.
„Ich kann nicht im Abendkleid ins Landeskriminalamt fahren. Würden Sie wohl einen Augenblick auf mich warten, während ich nach oben gehe, um mich umzuziehen? In dem Barschrank unter dem Fenster finden Sie etwas zu trinken.“
Katharina nickte zustimmend und trat ins Wohnzimmer, während die Frau mit klappernden Absätzen die Treppe hinauflief. Der Raum wurde allem Anschein nach auch als Arbeitszimmer benutzt, denn gleich neben der Bar befand sich ein schwerer Schreibtisch, dessen leere Platte im eigenartigen Gegensatz zu der Unordnung stand, die sich im ganzen Zimmer ausbreitete. Rechts vom Schreibtisch entdeckte Katharina einen riesigen, sehr bequem aussehenden Sessel. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in die Polster sinken. Während sie sich umsah, fiel ihr auf, dass die rechte Schublade des Schreibtischs nicht ganz geschlossen war.
In ihrem täglichen Leben war die Neugier inzwischen zu einem wichtigen Faktor geworden. Einige Minuten kämpfte sie mit aller Kraft gegen den Wunsch an, die Schublade zu öffnen. Aber es war vergebens. Mit dem Zeigefinger zog sie lautlos das Fach auf und entdeckte einen Stapel maschinegeschriebener Blätter. Sie nahm die Papiere heraus und begann zu lesen. Sie enthielten einen Bericht über ein Herstellungsverfahren von Bildröhren und waren für Katharina nur in einer Hinsicht von Interesse: Die Typen der Maschine, mit der die Seiten beschrieben worden waren, hatten eine auffallende Ähnlichkeit mit denen, die sich in Zerbans Bericht befunden hatten.
Sorgfältig faltete sie vier Blätter zusammen und ließ sie in ihrer Manteltasche verschwinden. Dann legte sie den Papierstapel wieder auf seinen Platz zurück, genauso, wie sie ihn vorgefunden hatte, und gab der Schublade einen leichten Stoß. Natürlich achtete sie darauf, dass sie, genau wie zuvor, ein wenig offen stand. Anschließend kehrte sie zum Sessel zurück und richtete ihren Blick voller Interesse zur Zimmerdecke, die früher anscheinend bemalt gewesen war.
Ihre Gedanken kreisten jedoch nur um ihre letzte Entdeckung. Wenn die Spezialisten feststellen konnten, dass diese Texte auf der gleichen Maschine getippt worden waren wie der bei Zerban gefundene Bericht, dann würde Dietrich Colditz eine böse Viertelstunde erleben. Es musste selbstverständlich noch bewiesen werden, dass er Gelegenheit gehabt hatte, die Maschine tatsächlich zu benutzen, denn nichts war leichter, als die Blätter heimlich in den Schreibtisch zu schmuggeln, um damit die Polizei auf die falsche Spur zu führen. Katharina entschloss sich endlich, eine Einzelheit zu klären. Sie erhob sich und ging in den Flur.
„Frau Colditz!“
Eine schwache, aber klare Stimme antwortete ihr: „Ich verstehe Sie sehr schlecht, Frau Ledermacher. Ich kann im Moment nicht herunterkommen. Wieso kommen Sie nicht zu mir?“
Katharina stieg die polierten Holzstufen hinauf und versuchte, sich in dem dunklen Korridor zurechtzufinden schließlich bemerkte sie einen Lichtstrahl, der unter einer Tür hervorkam, und ging rasch darauf zu. Sie klopfte leise an.
„Ja, Frau Ledermacher, was ist los?“
„Nichts Besonderes“, erwiderte Katharina. „Ich wollte nur wissen, ob Sie eine Schreibmaschine im Haus haben.“
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann ertönten gedämpfte Schritte. Gleich darauf wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Die gebleichten Haare hingen Elisa wirr ins Gesicht. Beunruhigt erwiderte sie Katharinas fragenden Blick. Obwohl sie die Tür nur einen winzigen Spalt aufgemacht hatte, konnte die Detektivin erkennen, dass Elisa nichts weiter trug als Unterwäsche.
„Warum fragen Sie?“, erkundigte sie sich verständnislos.
„Ach, nur so“, gab Katharina unbefangen zurück. „Ich wollte die Zeit nutzen, um ein paar Zeilen zu tippen.“
Elisa schien sichtlich erleichtert.
„Wir haben keine Maschine. Mein Mann benutzt zwar gewöhnlich eine, aber sie steht in seinem Büro in der Firma.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe“, erwiderte Katharina. Sie drehte sich um und hing wieder ins Wohnzimmer. Eine Viertelstunde später erschien Elisa. Sie trug ein schlichtes graues Kleid. Die Farbe passte genau zu ihren blauen Augen und den hellen schimmernden Haaren.
„Wenn Otto mich jetzt ...“
Das Läuten der Türklingel schnitt ihr das Wort ab. Sie vergaß, was sie sagen wollte und blickte Katharina schweigend an.
„Wieviel Uhr ist es?“, fragte sie.
Katharina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
„Ein paar Minuten nach halb drei“, antwortete sie.
Mit gerunzelter Stirn trat sie in den Flur hinaus und ging auf die Eingangstür zu. Katharina erhob sich. Mit raschen Schritten trat Teodor Gröne in das Zimmer. Ein gezwungenes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich habe hier Licht gesehen“, erklärte er entschuldigend, „und das Eingangstor stand offen. Konnten Sie schon mit Ihrem Mann sprechen?“
Elisa log, ohne rot zu werden.
„Ja“, antwortete sie. „Ich habe im Landeskriminalamt eine Tasche für ihn abgegeben. Die ganze Angelegenheit muss ein Irrtum sein.“
Nachdenklich blickte Katharina auf ihre Schuhspitzen, als sei sie tief in Gedanken versunken. Die Tasche war in Wirklichkeit nicht einmal gepackt worden. Elisa wandte sich ihr zu.
„Herr Gröne wohnt ganz in der Nähe“, sagte sie. „Er ist ein Freund des Hauses.“
„Ich bin absolut davon überzeugt, dass Dietrich unschuldig ist. Kann ich irgendetwas tun?“, fragte er hilfsbereit. Noch immer lag das gleiche unnatürliche Lächeln auf seinen Zügen.
„Die Party bei den Wuttkes ist noch in vollem Gange, aber ich bekam auf einmal entsetzliche Kopfschmerzen. Haben Sie zufällig ein Aspirin da?“
Elisa nickte.
„In der rechten Schreibtischschublade.“
Gröne warf Katharina einen neugierigen Blick zu.
„Darf ich fragen, was Sie hier machen?“, erkundigte er sich.
„Natürlich, obwohl es Sie eigentlich nichts angeht.“
„Also, ich frage Sie!“
„Ich habe Frau Colditz nach Hause gebracht.“ Katharina hielt es für überflüssig, ihm zu erzählen, das sie gar nicht vom Landeskriminalamt gekommen waren. Gröne nahm das Glas Wasser entgegen, das Elisa ihm hinhielt, und ließ zwei Tabletten hineinfallen. Dann trank er das bittere Gemisch mit säuerlichem Gesicht.
„Wie kann ich Dietrich denn helfen?“, fragte er, während er ihr das Glas zurückgab.
„Im Augenblick gar nicht“, log Elisa kaltblütig. „Er hat alles, was er braucht. Ich bin sicher, dass er bald freigelassen wird.“
„Hoffen wir das Beste“, seufzte der Ingenieur. „Ich persönlich muss ehrlich sagen, dass es wirklich eine gute Tat gewesen ist, wenn er diesen Zerban unschädlich gemacht hat.“
„Das hätte er einfacher haben können“, warf Katharina ein. „Er hätte ihn ja auch ins Gefängnis bringen können.“
Gröne maß sie mit einem eiskalten Blick.
„Ich hasse Spione, Frau Ledermacher, ganz gleichgültig, auf welches Gebiet sie spezialisiert sind.“
Ungerührt starrte sie ihm ins Gesicht, bis er die Augen niederschlug. Es war Katharina klar, dass seine unverschämte Bemerkung auf sie in ihrer Eigenschaft als Privatdetektivin gemünzt war. Aber mit Rücksicht darauf, dass er sich in einem ziemlich erregten Zustand befand, beschloss sie, die Frechheit einfach zu übergehen. Eine kleine Spitze konnte sie sich jedoch nicht verkneifen.
„Und ich hasse Mörder. Und wenn ...“
Das Läuten des Telefons schnitt ihr das Wort ab. Sie sah sich im Wohnzimmer nach dem Apparat um, den sie bisher nicht bemerkt hatte. Langsam ging Elisa auf einen Wandschrank zu.
„Wer kann denn um diese Zeit noch anrufen?“, murmelte sie überrascht. Dann öffnete sie den Schrank, nahm den Apparat heraus und hob den Hörer ab. Sie lauschte aufmerksam. Katharina konnte die Worte des anderen Teilnehmers nicht unterscheiden, obwohl sie undeutlich seine laute Stimme vernahm. Schließlich drehte sich die junge Frau zu ihr um.
„Es ist für Sie, Frau Ledermacher.“
„Bestimmt?“
Sie nickte.
„Ein gewisser Kommissar Reese.“
Katharina ging zu ihr und nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Hallo!“, sagte sie. „Woher wissen Sie denn, wo ich bin?“
„Ach“, gab Reese spöttisch zurück. „Das war wirklich nicht schwierig. Ich habe bei den Wuttkes angerufen, und dort hat man mir die Adresse der Frau gegeben, mit der Sie die Gesellschaft verlassen hatten. Ich habe Neuigkeiten. Wir haben die Schreibmaschine gefunden, die zum Abfassen des Berichts benutzt wurde.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Ich habe extra einen Spezialisten aus dem Bett holen lassen. Seine ersten Untersuchungen sind positiv verlaufen.“
„Wo haben Sie die Maschine gefunden?“
„In einem Wagen, dank Ihrer Hinweise.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Doch, es ist ganz einfach. Sie haben mir erzählt, dass Sie zu den Wuttkes gehen wollen und dass Sie dort Teodor Gröne, Frau Colditz und auch Otto Stollberg treffen würden. Das brachte mich auf den Gedanken, die Zeit nutzbringend anzuwenden und erst einmal dem Ingenieur einen Besuch abzustatten, der nicht zu der Feier eingeladen war.“
„Bente?“
„Richtig. Wir haben seine Wohnung gründlich durchsucht. Er hatte übrigens drei außergewöhnlich hübsche Frauen zu Besuch. Gelangweilt hat er sich also bestimmt nicht, der gute Mann.“
„Jeder feiert eben Weihnachten nach seinem Geschmack“, gab Katharina tolerant zurück. „Und was ist dann passiert?“
„Ja, zuerst haben wir rein gar nichts gefunden, aber dann kam einer der Männer auf die Idee, den Kofferraum von Bentes Wagen zu öffnen, den er vor dem Haus abgestellt hatte. Und dort war dann die Maschine, eine Reiseschreibmaschine. Ich habe einige Beamte zur Bewachung von Bente geschickt. Dann bin ich selbst ins Landeskriminalamt gefahren und habe einen Spezialisten angerufen. Der war ganz schön verärgert. Ich musste meine volle Überredungskunst aufwenden, um ihn zu überzeugen. Jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass es die Maschine ist, die wir suchen.“
„Wo sind Sie jetzt?“
„In der Wohnung von Bente. Ich bin gerade dabei, den Mann zu verfrachten.“
Reese nannte ihr die Adresse.
„Geben Sie mir bitte zwanzig Minuten, dann komme ich.“
„Den Gefallen kann ich Ihnen wohl tun. Also, bis gleich.“
Katharina legte den Hörer auf den Apparat. Dann blickte sie Gröne und Elisa Colditz an.
„Ich muss mich sofort auf den Weg machen. Kann mir einer von Ihnen seinen Wagen leihen? Oder mich wenigstens bis zum nächsten Taxistand fahren. Ich habe meinen Wagen bei den Wuttkes gelassen.“
Hastig nahm die junge Frau das Stichwort auf.
„Ich werde Sie fahren.“
„In diesem Fall“, murmelte Gröne, „werde ich jetzt schlafen gehen. Vielen Dank für das Aspirin, Elisa. Sie brauchen mich nicht zu begleiten. Ich kenne den Weg.“
Mit einer weit ausholenden Handbewegung verabschiedete er sich und verschwand im Korridor. Katharina hörte, wie er die schwere Eichentür mit lautem Knall hinter sich zuschlug. Elisa ließ ihren suchenden Blick im Zimmer umherwandern.
„Wo habe ich vorhin nur den Haustürschlüssel hingelegt?“, fragte sie. „Ach, da ist er ja.“
Mit schnellen kurzen Schritten ging sie zum Schreibtisch, um den kleinen Schlüssel zu holen. Dann wandte sie sich an die Detektivin.
„Darf ich fragen, wohin Sie wollen?“
Katharina nannte ihr die Adresse.
„Das kommt mir doch bekannt vor“, überlegte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen.
„Es ist die Adresse von Helmut Bente.“
Elisas Gesicht belebte sich wieder.
„Ach ja. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich weiß, wo er wohnt.“ Sie machte Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen, doch dann blieb sie plötzlich stehen.
„Könnten Sie vielleicht noch fünf Minuten warten? Ich möchte eine Tasche für Dietrich packen und sie im Landeskriminalamt abgeben.“
„Natürlich“, antwortete Katharina. „Das hätte ich Ihnen sowieso vorgeschlagen.“