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Zweites Kapitel

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Nur wenige Menschen wussten, dass »Hagen« sein richtiger Familienname war, und noch weniger kannten seinen Vornamen, den er oft verflucht hatte, den Vornamen und mit dem zugleich seinen Vater, der ihn ausgesucht hatte. »Louis«, das klang wie eine Fahrkarte in das Rotlicht Milieu, wo er schließlich ja auch gelandet war. Nach einigen Unterbrechungen und Zwischenstopps in Haftanstalten. Heute, Mitte vierzig, war er zäher als mit dreißig, groß, kräftig und energisch, kein Mann, der mit sich spaßen ließ, und hinter der billigen Eleganz des Bordellbesitzers und Zuhälters verbarg sich für jeden, der hinsehen wollte, immer noch ein Hauch von ungekünsteltem Charme. Frauen entdeckten ihn schneller als Männer, und die Männer verstanden deshalb seine Erfolge bei den Frauen nicht. Hagen hatte bald gelernt, dass sich daraus doppeltes Kapital schlagen ließ. Männer konnte er täuschen, weil die ihn für brutal hielten, und Frauen verstand er an sich zu binden, weil er sie höflicher und anständiger behandelte als die Kerle aus dem Milieu. Als er dann noch seinen Jähzorn, der nichts vergaß und nichts vergab, unter Kontrolle brachte, war er ein wirklich gefährlicher Mann geworden.

Rudi schwitzte. Vor Hagen hatte er Respekt. Wenn der Boss wünschte, dass es im Kleeblatt sauber und ordentlich zuging, gehorchte er, ließ auch solche Nullen wie Bulle in Ruhe, hielt sogar die Klappe, wenn sich Hagen über das Verschwinden dieses verkalkten Schwächlings aufregte.

»Noch mal, Rudi, wie war das?«

»Wie ich Ihnen gesagt hab, Chef. Wir haben am Mittwoch wie immer kurz vor zwei geschlossen. Er hat dann abgerechnet, ich hab alles abgeschlossen und kontrolliert, und dann sind wir losgefahren.«

»In deinem Wagen?«

»Jau, er hat ja keinen.«

»Wohin hast du ihn gebracht?«

»Bis zur Fritzenbrücke. Da ist er ausgestiegen. Wie jedes Mal.«

»Warum hast du ihn nicht nach Hause gebracht?«

»Das wollte er nicht. Er sagte, er wolle noch ein paar Schritte laufen. Das war gut für seinen Magen. Zum Entspannen und so.«

»Hast du eine Ahnung, wo er wohnt?«

»Nee! Das hat er nie gesagt. In dem Viertel an der Hütte, denke ich. Aber ich hab nie darauf geachtet, wo er hinging.«

Und Hagen hatte in der Zelle nie zugehört, selbst das große Wort geführt; dass Bulle zu den schweigsamen Typen gehört hatte, fiel ihm eigentlich erst jetzt auf.

»Scheiße!«, murmelte er, und Rudi zog den Kopf ein. »Ist am vorigen Mittwoch irgendwas passiert? Hat’s in der Woche Ärger gegeben?«

Rudi tat so, als überlege er angestrengt, und schüttelte endlich den Kopf: »Nee, nix, Boss, war alles wie immer bis auf den Mann, der ihn besucht hat, am Dienstag. Aber mit dem hat er sich gut verstanden, die haben gelacht.«

Hagen zwang sich zur Ruhe. Rudi hatte es nun mal in den Muskeln und nicht im Kopf, das war von Anfang an klar, und als er am Donnerstag oben angerufen hatte, Bulle sei nicht erschienen, hatte sich Hagen noch keine Sorgen gemacht. Das begann erst am Freitag, und da hatte Rudi den Besucher vom Dienstag erwähnt, aber schon nicht mehr beschreiben können. Mist war das alles, verdammter Mist. Er kannte doch diese Typen von der Steuerfahndung. Zwölf Monate war er jetzt draußen, so viel Zeit ließen sie einem in der Regel, und dann putzten sie die Klinke: »Na, lieber Herr Hagen, wovon leben wir denn? Nicht von der Sozialhilfe?« Als ob sie das nicht längst gewusst hätten. »Und was zaubert denn dann die Brötchen auf den Tisch?« Unter dem Bullen hatte das Geschäft nachweislich geblüht, wann sonst hatte Hagen es sich erlauben können, über sechs Monate korrekt Buch zu führen?

»Scheiße!«, knurrte er wieder und verzog sich. Im Billardkeller war ein Tisch besetzt, und Toni saß in der kleinen Küche, qualmte, studierte ein Groschenheft und tastete nach der Bierdose.

»Verfluchte Inzucht«, wütete Hagen lautlos und schmiss die Tür hinter sich zu. Im Treppenhaus hallten seine Schritte wider, und vor Wut glitt ihm vor seiner Bürotür der Schlüsselbund aus der Hand. Dreißig Sekunden atmete er tief durch, dann konnte er wieder mit der üblichen Miene durch die hohen, hellen Räume schlendern. Die Klimaanlage rauschte kaum vernehmlich; er hatte viel Geld investiert, um ein illegales Spiel in einer respektablen Umgebung stattfinden zu lassen. Bei ihm gab's keine gezinkten Karten und keine Falschspielertricks, sondern nur geübte Pokerspieler, die er prozentual am Gewinn beteiligte. Von Stammkunden nahm er neuerdings auch Schuldscheine an, und wenn ein Neuling Glück gehabt hatte, zahlte das Kleeblatt anstandslos seinen Gewinn aus. Dass im Laufe einer Runde Jacken ausgezogen und Krawatten abgelegt wurden, störte Hagen nicht, aber bei Lederkluft oder schmutzigen T-Shirts blieb die Tür verschlossen. Er gestattete nur eine etwas unsaubere Masche: Neulinge landeten oft in einer Viererpartie, in der die drei Mitspieler zu Hagens Mannschaft gehörten und mit Hagens Geld spielten. Deshalb bestand er auch darauf, nur mit Chips zu zahlen, um Kontrolle über sein Geld zu behalten. Für den Umtausch war Marlene zuständig. Seit ihr Zuhälter sie krankenhausreif geschlagen hatte, hinkte sie leicht; Hagen hatte sie in eine Art schwarzen Badeanzug mit schwarzen Netzstrümpfen gesteckt. Sie benutzte einen altmodischen Bauchkasten, wie ihn früher Zigarettenverkäuferinnen getragen hatte. Darauf stand die Kassette mit Geld und Chips, ferner neue, noch verschweißte Kartenspiele und fabrikfrische Würfelpacks. Zu seiner Verwunderung beobachtete er, dass manche Spieler ihr flüchtig über die verletzte Hüfte strichen; es war überhaupt nicht erotisch gemeint, sondern purer Aberglaube. Sie hasste die Berührung und duldete sie wegen der Trinkgelder.

Adrian warf Hagen einen kurzen, besorgten Blick zu, als er Richtung Bar schlenderte. Der Weißhaarige hatte eine Glückssträhne und kassierte mächtig ab. Hagen strich sich kurz über die Stirn, das verabredete Zeichen, ab jetzt früher auszusteigen und die Verluste den Mitspielern zu überlassen.

In der kleinen Bar nebenan schäkerte Doris mit einem Gast, der unbedingt ihre Adresse erfahren wollte, und wenn nicht die Anschrift, dann ihr Versprechen, nach Ende der Arbeitszeit auf ihn zu warten. Weil sie dabei mit zwei Fingern Locken in ihre Haare drehte, machte Hagen kehrt; bei einem zudringlichen oder unangenehmen Gast hätte sie an ihrem Ohrläppchen gezupft. Die Mannschaft war gut aufeinander eingespielt.

Im Kontakthof herrschte kaum Betrieb. Der Umsatz hatte schwer nachgelassen, teils wegen der Furcht vor Aids, teils wegen einiger scheußlicher Razzien. Acht oder neun Mädchen lehnten an den Wänden und langweilten sich; die drei Jugendlichen, die mit hochroten Köpfen herumschlichen, wollten nur schauen und hatten wahrscheinlich nicht genug Geld, um mit einer Prostituierten aufs Zimmer zu gehen. Früher hätte Hagen sie verscheucht, heute ließ er sie gewähren, weil er wusste, dass Kunden oft kehrtmachten, wenn sie keine anderen Freier sahen. Nur noch am Freitag oder Samstag lohnte das Geschäft; er hatte sich selbst mehrfach ausgerechnet, dass er nicht mehr auf seine Kosten kam. Noch konnte er sich nicht entscheiden, das Bordell zu verkaufen. Als Tarnung war es fast unerlässlich, und von dieser Club-Mode hielt er nicht viel. Und ausgerechnet jetzt löste sich Bulle in Luft auf. Bei dem Gedanken verzog Hagen das Gesicht zu einer so wütenden Grimasse, dass die Neue, die ihn für einen normalen Kunden hielt, ihn nicht anzusprechen wagte.

*



HAUPTMEISTER OTTO FRÖHLICH hob zufällig den Kopf und erstarrte vor Schreck. Das durfte nicht wahr sein! Nein! Das konnte nicht ihm passieren! Aber schon während des kurzen Stoßseufzers wusste er, dass er seinem Schicksal nicht entgehen würde. Die kleine, verhuschte Frau mit den dünnen grauen Haaren blinzelte kurzsichtig durch den Raum. Dabei umklammerte sie die altmodische Handtasche wie einen Rettungsring. Noch achtete niemand im Revier auf sie, sie hatten gut zu tun, es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und aus dem Nebenraum drang das Protestgebrüll zweier Jugendlicher, die am helllichten Tag versucht hatten, einen Kiosk zu überfallen, und von einer Streife überrascht worden waren. Vor jedem der drei Beamten wartete eine kleine Reihe; Anzeigen, Nachfragen, Beschwerden, Auskünfte. Obwohl sie die Heizungen abgestellt und die Fenster geklappt hatten, entwickelte sich die schwüle Wärme zu dicht besetzter Räume.

Während Mutter Krause sich entschloss, seinen Platz anzusteuern, dankte Fröhlich zum ersten Mal für die Überfüllung. Vielleicht hatte er noch eine Chance.

Sie wurde ihm nicht zuteil. Als Mutter Krause an der Reihe war, schlug das Schicksal zu. Die Kollegen links und rechts hatten für Minuten nichts zu tun, die Schlangen hatten sich aufgelöst, Mutter Krause räusperte sich, vor der Polizei hatte sie Respekt. Sie war noch nie auf einem Revier gewesen, aber die Männer sahen eigentlich ganz nett aus, und dann begann sie zu strahlen: »Nein, wen seh ich denn da? Jungchen, das ist aber eine Überraschung. Du bist hier?«

Otto Fröhlich war ehrliche 1,92 Meter groß und 95 Kilo schwer. Früher hatte er geboxt, gerungen und Kampfsport betrieben. Er war ein guter Polizist, höflich mit den Bürgern, hart mit Randalierern, freundlich zu Kindern und Hilflosen. Für den Streifendienst hatte der Revierleiter ihn mit einer zierlichen Polizistin zusammengespannt und rühmte sie als sein bestes Team: Sie beruhigte Schwache und Frauen, er schüchterte allein durch sein Aussehen und Auftreten Betrunkene, Krakeeler, echte und vermeintliche Starke ein, und wenn Otto der Große seine Augenbrauen drohend zusammenzog und die Fäuste spielerisch ballte, kehrte Ruhe ein. Und nun zwinkerte Mutter Krause in heller Freude mit ihren Knopfäuglein und wiederholte mit einer Lautstärke, die ihr keiner zugetraut hätte: »Ach, Jungchen, ist das aber eine Freude. Ist das schön, dass ich dich hier treffe.«

Für die Länge eines langen Herzschlags schwebte ein Engel durch das Revier, und Otto der Große wusste, dass alle Kollegen es gehört hatten. Es weitererzählen würden. Nicht in seiner Gegenwart, nein, das traute sich wohl keiner, von dieser frechen Miriam einmal abgesehen, aber bis heute Abend hatte es die Runde gemacht. Otto der Große hatte einen neuen Spitznamen: Jungchen.

»Weißt du, ich bin noch nie bei der Polizei gewesen. Aber du hilfst mir doch, was?«

»Ja, Mutter Krause«, antwortete Fröhlich resigniert. »Was kann ich denn für Sie tun?«

Sie setzte sich umständlich und errötete. Das war neu für ihn. Früher hatten sie neben den Krauses gewohnt, und mit der Tochter Erika hatte er seine erste große Liebe erlebt und erlitten, was Mutter Krause voller Unbehagen und Angst verfolgt hatte. Immer, wenn er kam, um Erika abzuholen, mahnte sie: »Kind, bleib anständig! Jungchen, bleib sauber!« Was immerhin dazu führte, dass Erika ihm nur einmal erlaubt hatte, den BH aufzuhaken. Zu mehr war es zwischen ihnen nicht gekommen, und bis zu dem Tag, an dem die Fröhlichs wegzogen, hatte Otto den Verdacht nicht loswerden können, Erika habe diesen Verstoß gegen die Anstands-Sauberkeits-Regel sofort ihrer Mutter gebeichtet.

»Ich weiß nicht, wie ich ... also ... das ist eine komische Sache, Jungchen.«

Er seufzte erneut, die Polizei, dein Freund und Helfer. »Erzählen Sie nur, Mutter Krause.«

»Ja, also, du weißt doch, dass mein Mann schon lange tot ist. Und ich von der Rente lebe. Aber das reicht ja nicht so recht - also, ich habe ein Zimmer vermietet.« Wieder errötete sie, und er nickte. In der Arbeitersiedlung an der Hütte hatten alle Familien immer sparen müssen, und wer ein Zimmer für einen Untermieter freiräumen konnte, tat es, schämte sich aber dieses Glücksfalls. Die Wohnungen waren echte Burgen, und die alten Leute verteidigten diese Festungen gegen Not, Neugier und üble Nachrede.

»Ein netter Mann, doch, sehr nett, sehr freundlich und sehr ordentlich. Hat viel Pech gehabt, musst du wissen, lange Zeit krank und dann lange Zeit arbeitslos und dann noch Magengeschwüre, na ja, da muss man sich einrichten.«

»Wie lange wohnt er denn schon bei Ihnen?«

Sie rechnete stumm. »Zehn, fast elf Monate.«

»Und wie heißt er?« Es konnte nur um diesen Untermieter gehen. Otto kannte diese Menschen, sie wandten sich erst an die Polizei, wenn sie beim besten Willen nicht mehr weiterwussten, und dieses Eingeständnis, dass sie Hilfe brauchten, fiel ihnen schwer.

»Herrmann Stier.«

»Und was macht er, Mutter Krause? Ist er immer noch arbeitslos?«

»Nein, wo denkst du hin! Ich sagte doch, er ist sehr ordentlich. Er arbeitet, abends und bis in die Nacht hinein. In einem Kaufhaus, da macht er die ganzen Abrechnungen.«

Einen Moment schaute der Polizist die Alte aufmerksam an, fuhr dann aber freundlich fort: »Und was ist nun mit ihm?«

»Er ist weg.«

»Wie meinen Sie das, Mutter Krause?«

»Am vorigen Mittwoch ist er vormittags weggegangen, weil er noch was Privates zu erledigen hatte. Und dann ist er nicht mehr zurückgekommen.«

Vor einer Woche also. Diese Frist hatte sie sich gesetzt, nach einer Woche musste ein Mann Bescheid geben, wo er abgeblieben war, ob auf Montage oder bei einer anderen Frau nach einer ausgedehnten Sauftour.

Fröhlich schnaufte leise. »Vielleicht ist er verreist, Mutter Krause.«

»Ja, aber dann hätte er mir Bescheid gesagt. Er weiß doch, dass ich für sein Essen einkaufe.«

Ein gewichtiges Argument. »Hat er mal was von seiner Familie erzählt?«

»Verheiratet war er nie, und seine Eltern sind schon lange tot. Der arme Kerl steht allein.«

»Haben Sie noch Geld von ihm zu bekommen?«

»Nein, seine Miete hat er pünktlich bezahlt. Und seine ganzen Sachen stehen noch in seinem Zimmer. Jungchen, was soll ich jetzt machen?«

Am liebsten hätte er geantwortet: Das weiß ich auch nicht. Aber er war Polizist, für Mutter Krause eine Amtsperson, und >die da oben< wussten immer, was zu tun war. Darauf durfte und wollte sie sich verlassen. Er spürte die amüsierten Blicke seiner Kollegen wie Nadeln auf seiner Haut.

»Wir machen es so, Mutter Krause: Ich erkundige mich jetzt, ob Herrmann Stier einen Unfall hatte. Und heute Abend schaue ich bei Ihnen vorbei. Wenn Ihr Untermieter dann noch nicht zurück ist, gucken wir in seine Sachen, ob wir einen Hinweis finden. Einverstanden?«

»Wenn du das sagst, machen wir das so«, erklärte sie respektvoll und stand auf.

»Leben Sie noch immer in der alten Wohnung?«

»Natürlich«, erwiderte sie eine Spur gekränkt. Sah sie so aus wie eine von diesen jungen Frauen, die es nirgendwo hielt, die dauernd irgendwohin flatterten?

Der Polizist lächelte zerknirscht.

Als sich die Reviertür hinter ihr schloss, erhob er sich zu voller Länge, ballte die Fäuste, zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und wartete, ob es einer wagen würde. Die Kollegen blieben stumm und senkten ausnahmslos alle verdächtig schnell die Köpfe über die Formulare.

Oberkommissar Leo Kirchmann lachte schadenfroh: »Na, hat dich deine Vergangenheit endlich eingeholt, Jungchen?«

»Bist du jetzt der Schichtleiter oder nur ein Freund und Kollege?«

»Lieber der Schichtleiter, sonst schlägst du zu, ich kenn dich doch. Also, was ist los?«

Fröhlich berichtete, wobei er die Zähne kaum auseinanderbekam. Aber Kirchmann war nicht nur ein scharfer Hund, sondern auch ein erfahrener Revierbeamter. Er kannte die kleinen Leute in diesem Viertel und wusste, dass sie mit der Polizei ungern etwas zu schaffen hatten. Wenn eine alte Frau wie Mutter Krause aufs Revier kam, machte sie sich ehrlich Sorgen. Und wenn sie sich Sorgen machte, gab es - zumindest aus ihrer Sicht - einen triftigen Grund dafür.

»Ein Stier, Herrmann ist nirgendwo eingeliefert worden. Auch kein bislang nicht Identifizierter.«

»Er kann das Weite gesucht haben.«

»Kann er, Leo, aber ich glaub's irgendwie nicht. Wenn Mutter Krause von ihm behauptet, er sei ein sehr ordentlicher Mann, denke ich mir, er hätte sich von ihr verabschiedet. Oder ihr später eine Nachricht zukommen lassen.«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Nach der Schicht gehe ich mal bei ihr vorbei. Vielleicht finde ich in seinen Sachen einen Hinweis.«

»Na schön, einverstanden, aber mach's nicht offiziell. Ein netter Polizist hilft einer früheren Nachbarin, okay?«

»So hatte ich mir das gedacht.«

»Nimm Miriam mit! Ich möchte nicht, dass irgendjemand später rumposaunt, die Polizei hätte in seiner Abwesenheit ohne Grund und Berechtigung seine Sachen durchstöbert.«

»Verstanden, Leo.«

Für eine Polizistin war Miriam viel zu hübsch, es war mehr als einmal vorgekommen, dass Angetrunkene ihre Personalien nur hergeben wollten, wenn sie im Gegenzug ihre Adresse verriet, und Fröhlich begriff bis heute nicht, wie sie die Einstellungshürden genommen hatte. Die vorgeschriebenen 165 Zentimeter konnte sie nur mit hohen Absätzen erreicht haben. Was ihr an Länge fehlte, ersetzte sie durch Pfiffigkeit und eine große Klappe. Einen Teil der überwältigend guten Laune, die sie früher verströmte, hatte sie verloren, die Erfahrungen des Wach- und Wechseldienstes förderten weder Humor noch Herzlichkeit. Sie kam auch mit der zynischen Härte vieler Kollegen nicht klar, die gegen Ende einer anstrengenden und zermürbenden Schicht nur zu oft in Kaltschnäuzigkeit oder auch Brutalität umschlug. Otto der Große hatte das nicht nötig, und deswegen fuhr sie gern mit ihm, würde sich allerdings lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.

»Hier hast du gewohnt?«

Er antwortete nicht. Es ärgerte ihn, dass er sich heute manchmal der Schäbigkeit dieses Viertels schämte. Und sie kannte weder die Mühe der Frauen, das Grau der Umgebung von Wohnungen und Familien fernzuhalten, noch die Anstrengung, in einem anderen Stadtteil eine erschwingliche Wohnung zu finden.

Mutter Krause lächelte geschmeichelt, als sie die Treppen hinaufstiegen. Sie liebte Besuch.

»Guten Tag, Mutter Krause. Das ist meine Kollegin Miriam Wolff.«

»Guten Tag. Was sind Sie für ein hübsches Kind! Aber Sie sollten einen Rock tragen, der steht Ihnen besser.«

Miriam lachte. Für ihr Alter bewies sie erstaunlich viel Takt und Geduld, und natürlich nahm sie ein zweites Stück von dem selbst gebackenen Sandkuchen, bevor sie in das untervermietete Zimmer gingen.

Groß war der Eckraum nicht, aber hell und sauber. Spärlich möbliert, ein Bett, ein wuchtiger Schrank, ein Tischchen mit zwei Sesseln, ein dünner Teppich. Es roch nach Putzmitteln. Der Schrank enthielt nicht viel, eine Jacke und zwei Hosen, einen dickeren Mantel und einen bunten Schwedenpullover, über einen Bügel drapiert. Ein Paar schwarze Schuhe. Vier Hemden, Unterwäsche, Socken. Alles sauber, aber billig. Herrmann Stier war mit irdischen Gütern nicht gesegnet. Kein Buch, keine Zeitschrift, auf dem Tisch ein Radiowecker. Unter dem Bett entdeckte Fröhlich einen großen Koffer, den er hervorzog. Äußerlich schäbig, aber erstaunlich fest und stabil, kein einfaches Leder und auch kein Sperrholz oder Pappmaché. Die Schlösser waren massiv, die ließen sich nicht mit einem Drahthaken oder einer gebogenen Haarklammer öffnen. Das breite, graue Stoffband entpuppte sich als ein biegsames, festes Stahlgeflecht, so einbruchsicher wie das massive Schloss. Herrmann Stier hatte seine persönlichen Unterlagen und Wertsachen gut geschützt. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit vermieteten Zimmern und neugierigen Wirtinnen gemacht.

Miriam hatte ihren Kollegen genau beobachtet und zuckte jetzt die Achseln. Sie hatten kein Recht, den Koffer gewaltsam zu öffnen, und der große Otto bezweifelte, dass die Vermisstenmeldung einer Zimmervermieterin ihnen einen solchen Eingriff erlaubte; da wollte er sich lieber bei seinen Vorgesetzten vergewissern.

Mutter Krause schaute sie vertrauensvoll an. Jetzt war alles in besten Händen, und deshalb antwortete sie ohne Zögern auf alle Fragen. Nein, Besucher waren nie gekommen, auch keine Briefe, und wo genau er arbeitete, wusste sie nicht; er hatte es wohl mal erwähnt, aber sie musste es vergessen haben. Sein Beruf? - War er nicht Buchhalter, wenn er abends die Abrechnungen machte? Gezahlt hatte er immer bar, keine Quittung, »weißt du, Jungchen, das ist unter ordentlichen Menschen nicht nötig«. Miriam verschluckte sich und hustete, Mutter Krause lief zartrot an, und beides schenkte Otto einen Geistesblitz: »Keine Quittung, Mutter Krause?«

Sie schüttelte den Kopf und mied seinen Blick.

»Haben Sie ihn denn nicht beim Einwohneramt angemeldet?«

»Nei...ein.«

»Auch nicht bei der Siedlung? Oder beim Finanzamt? Oder bei der Polizei?«

Das Zartrosa ging in ein Tiefrot über, nun rang sie die Hände.

Vorwurfsvoll musterte er sie: »Mutter Krause, das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.«

»Ist es ... ist das ... sehr schlimm?«

Der Polizist räusperte sich ausgiebig: »Na gut, Mutter Krause, wir sind ja keine Unmenschen, wir behalten das alles mal für uns. Aber unter einer Bedingung.«

»Ja?«, flüsterte sie verschämt.

»Sie nennen mich nicht mehr Jungchen, verstanden?«

»Klar, Otto, das habe ich verstanden.«

Miriam staunte noch auf der Treppe: »Das hätte ich dir nicht zugetraut, Otto. Eine alte Frau zu erpressen.«

»Ich bin noch zu ganz anderen Dingen fähig, liebe Kollegin.«

»Und die wären, zum Beispiel?«

»Wenn du nicht den Mund hältst, leg ich dich übers Knie und versohle dir deinen hübschen Arsch, kapiert?«

»Was wird deine Frau dazu sagen?«

»Die hilft mir dabei, verlass dich drauf!«

Oberkommissar Kirchmann überlegte lange und schüttelte endlich den Kopf: »Nee, Otto, das war richtig. Wir haben kein Recht, den Koffer gewaltsam zu öffnen oder in Verwahrung zu nehmen.«

Otto der Große kratzte sich den Nacken. »Gefallen tut's mir trotzdem nicht.«

»Und warum nicht?«

»Miriam und ich sind noch mal bei ihr gewesen. Weißt du, Mutter Krause hat das Schießpulver nicht erfunden, sagen wir’s mal so. Aber gerade deswegen glaube ich ihr, was sie so erzählt. Dieser Stier war schon ein komischer Heiliger. Kein Alkohol, eine kleine Zigarre pro Tag. Keine Freundinnen, keine Besucher.«

»Was dafür spricht, dass er lange krank war.«

»Sicher, auch für die Magengeschwüre, die er angeblich hat. Oder für den schwachen Magen. Nee, Leo, mich irritiert etwas anderes.«

»Und das wäre?«

»Er hat ihr erzählt, er müsse abends die Abrechnungen in einem Kaufhaus machen. Regelmäßig. Miriam ist darüber gestolpert. Kannst du dir vorstellen, dass ein großes Kaufhaus seine Tagesabschlüsse von einem fremden Mann machen lässt?«

Kirchmann stopfte seine Pfeife und knurrte. »Ein bisschen komisch klingt's schon.«

»Ich hab mich bei drei Kaufhäusern erkundigt, ob so was üblich ist. Die haben mich alle ausgelacht. Natürlich wird abends bei der Hauptkasse abgerechnet. Aber das dauert erstens nicht bis in die Nacht hinein. Zweitens erledigen das Festangestellte. Drittens wird fast überall die Bestandskontrolle der Ware per Computer erledigt. Und viertens würde ein Hauptbuchhalter so viel verdienen, dass er sich eine eigene Wohnung leisten könnte.«

»Richtig.« Wenn Kirchmann seine Pfeife mit Streichhölzern traktierte, brauchte man starke Nerven. Es dauerte Ewigkeiten, bis er mit der Glut zufrieden war. »Was schließt du daraus?«

»Dass dieser Stier der lieben Mutter Krause einen gewaltigen Bären aufgebunden hat. Was wiederum heißt - er hat sich gerade deshalb bei ihr einquartiert, weil sie harmlos genug ist, darauf hereinzufallen.«

»Gut möglich.« Kirchmann schielte auf den Aktenstapel. »Aber selbst wenn er sie angeschmiert hat, unterstellen wir das mal, hat er sie nicht betrogen oder geschädigt.«

»Nein«, gab Fröhlich zu und knetete wieder seinen Nacken. »Ich glaub nur mittlerweile, dass er ein krummer Hund ist.«

»Wie krumm, Otto?«

»Um in einer unserer Dateien zu stehen.«

»Aha!« Kirchmann grinste vergnügt. Endlich war Otto der Große zum Punkt gekommen. »Und ich soll nun die Kollegen von der Kripo fragen, was sie über einen Herrmann Stier wissen?«

»Wäre schön!« Auch Otto Fröhlich feixte. Der Zugang zu den elektronischen Systemen der Polizei war auf dem Papier minutiös geregelt, was natürlich den kleinen Dienstweg nicht ausschloss. Und die Möglichkeit, dass einer der Zugangsheiligen griesgrämig fragte, warum zum Teufel sich ein Revier für einen bestimmten Mann interessierte, war bei einem Schichtleiter eben sehr viel kleiner als bei einem kleinen Schutzpolizisten.

»Na gut, Otto, mach ich bei Gelegenheit.«


Killerhof 3 Krimis

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