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Erstes Kapitel

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Am Donnerstag las er in der Zeitung, dass Ende Juni das Hotel Kaiserhof in der Lindenallee geschlossen werden würde. Die Nordische Rückversicherung hatte den alten Bau erworben, um ihn zur Bezirksdirektion Ruhrgebiet umzubauen; spätestens zum Jahreswechsel 1977/78 sollte sie dort einziehen. Nachdenklich ließ Herrmann Stier, genannt Bulle, das Blatt sinken und starrte auf die geblümte Wachstuchdecke. Eine helle, aber kraftlose Januarsonne schien durch das hohe Fenster, das weiße Steingutgeschirr spiegelte das Licht wider und blendete ihn so, dass rote Flecken vor seinen Augen tanzten.

»Noch eine Tasse Kaffee?« Die kleine, verhuschte Frau mit den dünnen, straff an den Kopf gebürsteten grauen Haaren zwitscherte vor Eifer.

»Ja, gern, Mutter Krause, vielen Dank«, antwortete er geistesabwesend.

Mutter Krause strahlte. Das war einmal ein feiner, ordentlicher Untermieter. Immer höflich und zuvorkommend, ach ja, sie wusste das zu schätzen. Wenn man die Siebzig überschritten hatte und dann noch vermieten musste, lernte man eine Menge unangenehmer Menschen kennen, da war man dankbar, wenn sich ein ruhiger, korrekter Endfünfziger einquartierte, der keine Ansprüche stellte, pünktlich seine Miete zahlte und nie Lärm machte. Nur seine Arbeitszeiten hatten sie anfangs gestört, um 17 Uhr aus dem Haus und erst gegen drei Uhr nachts zurück. Leise war er, das stimmte wohl, aber sie hatte halt einen leichten Schlaf und wurde regelmäßig wach. Doch mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, er schloss immer sorgfältig ab und schlief bis neun Uhr morgens, hetzte sie nicht mit dem Frühstück. Nein, sie hätte es sehr viel schlechter treffen können.

Mit ausdruckslosem Lächeln betrachtete Bulle seine Vermieterin, wie sie zwischen Tisch und Herd hin und her wuselte. Gut ein Dutzend möblierter Zimmer hatte er sich angeschaut und schließlich hier einen Eckraum genommen, weil Mutter Krause in seine Pläne passte, alt, mäßig neugierig und harmlos genug, ihm das Märchen von der schweren Krankheit und der langen Arbeitslosigkeit zu glauben. Wie erhofft hatte er damit ihr Mitleid erweckt. Krank sah er wirklich aus, sein Magen machte ihm tatsächlich immer wieder zu schaffen, und manchmal horchte er ängstlich in sich hinein, als könne er die neuen Geschwüre wachsen hören. Zwar hatte der Gefängnisarzt ihm hoch und heilig versichert, nach der Operation sei alles wieder in Ordnung, aber er traute diesen Burschen nicht. Als ob die sich Mühe gäben, einen alten Knastbruder wieder auf die Beine zu bringen! Der Verwaltungs-Oberinspektor war da ehrlicher gewesen: »Na, Stier, der Lack ist ab, wa? Wenn ich an deiner Stelle wär, würd ich sehen, dass ich nicht mehr auf unsere Schonkost angewiesen bin!« Bei dem wiehernden Gelächter hatte er die Fäuste geballt, aber keine Miene verzogen. Denn der Oberinspektor war ein hinterhältiger Hund, vor dem sich die Häftlinge fürchteten.

»Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«

»Ja, Mutter Krause.«

»Und Sie werden bald wieder etwas Farbe kriegen!«

»Das hoffe ich doch sehr!«, log er glatt. Ab und zu schaute er in den fast blinden Spiegel über dem grau angelaufenen Waschbecken, auf ein altes, bleiches, faltiges Gesicht, das ihn abstieß, weil es ungeschminkt und gnadenlos sein Versagen, sein verpfuschtes Leben zeigte. Dann spürte er fast schmerzhaft die Müdigkeit, die er nicht mehr wegschlafen konnte. Manchmal schlug sein Herz so dumpf und langsam, als wolle es nicht mehr weiterpumpen. Ein halbes Jahr einmal raus, irgendwohin, ganz gleich wohin, nur warm und sonnig und ruhig musste es sein. Na ja, vielleicht klappte es jetzt. Sorgfältig faltete er die Zeitung zusammen, trank den dünnen Kaffee, den sogar sein Magen vertrug, und packte die leichte Zigarre aus, die er sich morgens gönnte.

Mutter Krause lachte anerkennend. Ihr Seliger hatte auch Zigarren geraucht, abends, nach dem warmen Essen, wenn das Tagwerk erledigt war. Sie liebte den Duft, der sie an die gute Vergangenheit erinnerte, als die Welt noch in Ordnung war, die Kinder aus dem Hause, der Mann fleißig und gesund bis zu diesem schrecklichen Unfall. Nein, das Leben spielte einem schon hart mit, aber man musste sich hüten, mit dem Schicksal zu hadern. Hatte sie es nicht gut getroffen? Wieder einen Mann im Hause, den sie bekochen konnte - für sie allein hatte es doch gar nicht mehr gelohnt, wenn sie ehrlich war, obwohl sie wirklich gut und gern kochte. Etwas Umstellung, hatte es sie schon gekostet, um halb fünf Uhr nachmittags ein leichtes Essen auf den Tisch zu bringen, aber was sollte der Ärmste denn machen? Magenkrank und diese fürchterlichen Kantinen, ihr Seliger hatte auch immer über den schrecklichen Fraß dort geklagt, ja, wenn er nur eine andere Arbeit fände als in diesem Kaufhaus abends, bis tief in die Nacht, die ganzen Abrechnungen erledigen. Ihr Untermieter hatte es ihr erklärt, er beklagte sich nicht, ein alter, kranker Mann, der lange arbeitslos gewesen war, fand heutzutage nichts Besseres mehr. Und es war ganz richtig, dass er lieber eine schlecht bezahlte Stelle mit schlechter Arbeitszeit annahm, als der Versicherung auf der Tasche zu liegen. Wie diese jungen, faulen, verwöhnten Burschen aus der Nachbarschaft, die sich so gar nicht schämten, keine Arbeit zu haben. Wenn sie ganz aufrichtig war bei dem Gedanken musste Mutter Krause den Kopf wegdrehen, damit ihr Untermieter die leichte Röte nicht bemerkte - zweihundert Mark für das Zimmer waren ein guter Preis, und mit den vierhundert Mark für Frühstück und Essen kam sie so gut hin, dass sie eigentlich ein unverdientes Geschäft machte. Zwar hatte der Selige immer brav geklebt, doch mit der Rente war's wirklich nicht weit her, nein, für die kleine Aufbesserung musste sie sehr dankbar sein.

Um elf Uhr verließ Bulle das düstere Haus. Der tristen, lauten Straße schenkte er keinen Blick. Von der Hütte zog ein schwach gelber Dunst über die Dächer; mit dem Gefühl, eigentlich dürfe er nicht tief durchatmen, hatte er sich mittlerweile abgefunden. Am Kiosk an der Ecke kaufte er eine Zeitung und verstaute sie in der abgegriffenen Mappe. Vielleicht wurde ihm doch noch einmal eine Chance geboten, aus allem herauszukommen.

In der Straßenbahn saß er stumm und unbeweglich, ein alter und kranker Mann, unauffällig unter den vielen Rentnern, die auch nicht fröhlicher in den Tag schauten. Ein Winter ohne Schnee, mit Kälte und Nässe und stundenweiser trügerischer Helligkeit. Zweimal musste er umsteigen, er schien durch eine riesige, gesichtslose Stadt zu fahren, die es darauf anlegte, den Fremden durch ihre graue Gleichförmigkeit zu verwirren und einzuschüchtern.

Von der Endstation aus hatte er zehn Minuten zu laufen, und als er endlich in die Hünxener Straße einbog, verzog er das Gesicht: Nichts hatte sich verändert, hier war die Zeit stehen geblieben. Die Bäume bogen sich noch immer unter der Staublast, die winzigen Siedlungshäuser duckten sich wie eh und je. Nur die Autos sahen anders aus. Vor neun Jahren war er zum letzten Mal hier gewesen, an einem regnerischen, stürmischen Herbstabend. Sein Schwager hatte breitbeinig die Tür versperrt und sich keinen Millimeter gerührt: »Hau ab, Herrmann, wir sind geschiedene Leute.« Sich auf die Zehenspitzen stellend, hatte er versucht, seine Schwester anzusehen, aber sie war seinem Blick ausgewichen. Wortlos war er gegangen. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr. Vor drei Jahren hatte sie ihm eine Todesanzeige in die Haftanstalt geschickt; Bulle hatte nicht geantwortet. Jeder trug sein Päckchen alleine.

Nach dem Klingeln trat er einen Schritt zurück und begutachtete das vorspringende Dach. Das Holz faulte, wenn er sich nicht irrte. Seine Schwester öffnete, stutzte für den Bruchteil einer Sekunde und fragte kalt: »Was willst du?«

Das Kriegsbeil war also noch nicht begraben, und deswegen passte er sich ihrem Ton an: »Aus meinen Sachen etwas holen.«

Widerwillig trat sie zur Seite: »Mach's kurz!«

Die Treppe war noch steiler, als er sie in Erinnerung hatte, und oben mühte er sich lange mit der Faltleiter, die zum Dachboden führte. Alle Scharniere schienen eingerostet, er geriet ins Schwitzen und keuchte, als er gebückt unter der Dachschräge nach seinen alten Koffern kramte. Es war kalt, und seine Finger wurden klamm. Nichts fehlte, das musste er anerkennen, aber ohne die achttausend Mark, die er damals seiner Schwester geschenkt hatte, wäre sein Schwager auch nicht in der Lage gewesen, die Anzahlung für das Häuschen zu leisten. Der aufgewirbelte Staub reizte zum Niesen, obwohl Bulle die Plastikplanen so behutsam wie möglich zur Seite schob. Zwischendurch griente er schräg. Hier hätte er eine Million in Markstücken verstecken können, nie wären Schwager und Schwester auf die Idee gekommen, das Eigentum des Sträflings, der so viel Schande über ihren ehrbaren Namen gebracht hatte, auch nur anzurühren. Schlimm genug, dass sie es unter ihrem Dache dulden mussten, als die mit Handschlag besiegelte Gegenleistung für achttausend Mark.

Pläne und Notizen lagen am alten Platz, in dickes Ölpapier eingeschlagen. Bulle steckte das Päckchen ungeöffnet in seine Mappe. Sein Arbeitsbuch hatte er sorgfältig aufgehoben; für einen Mann mit einem so unordentlichen Lebenswandel hatte er erstaunlich auf Ordnung gehalten, doch eben nicht genug: Nur knapp die Hälfte der Seiten waren beschrieben und abgestempelt. Geduldig räumte er alles wieder zusammen und vergewisserte sich, dass seine Schwester nicht herausfinden würde, in welchem Stapel er gekramt hatte. Schwerfällig kletterte er rückwärts die Leiter hinunter, schob sie hoch und blieb zitternd stehen, ängstlich gespannt, ob sich nach dieser Anstrengung die Stiche im Magen wieder meldeten.

Seine Schwester ließ sich nicht blicken, hatte aber die Ohren gespitzt und rief jetzt: »Bist du endlich fertig?«

»Ich möchte mir gern die Hände waschen.«

»Muss das sein?«

»Es wird dich nicht umbringen.«

Argwöhnisch schaute sie ihm zu, als könne er das dünne Stück Seife stehlen, und deutete mit dem Kopf auf ein winziges, feuchtes Handtuch. Ihre geizige Selbstgerechtigkeit deprimierte ihn so sehr, dass er grußlos das Häuschen verließ. In der Straßenbahn umklammerte er die Mappe, als enthielte sie einen Schatz, und in einem Tabakladen kaufte er eine etwas bessere Zigarre, füllte einen Lottoschein aus und gestand düster: »Was probiert man nicht alles!«

Der picklige Jüngling mit der Hasenscharte grinste unverschämt, voller Verachtung für diesen alten Knacker, der es nicht weiter gebracht hatte als er. Aber er war ja noch jung!

In seinem Zimmer verstaute Bulle das Päckchen und sein Arbeitsbuch in dem Koffer, der stabiler war als sein schäbiges Äußeres vermuten ließ, schloss ab und schlief noch eine Stunde.

Während seine Wirtin das Essen auftrug, kicherte er: »Wissen Sie was, Mutter Krause? Das bisschen Sonne macht übermütig. Ich habe eben glatt vier Mark für Lotto geopfert.«

»Ach was! Ach nein! Lohnt das denn? Lotto? Mein Seliger hat fünf Jahre Staatliche Klassenlotterie gespielt und nie etwas gewonnen.«

»Tja, die Chance ist wirklich nicht groß. Aber Sie kennen doch das Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

Mit dem Autobus brauchte er zwanzig Minuten bis zum Kleeblatt in der Canalistraße. Rudi war schon da und öffnete ihm, ohne auch nur einmal die Augen von dem Pornoheft zu heben. Jeden Abend konnte Bulle Rudis Verachtung fast körperlich spüren, aber seit Hagen ein Machtwort gesprochen hatte, verzichtete Rudi wenigstens auf seine kränkenden Bemerkungen über alte Tattergreise oder sabbernde Schwächlinge. Rudi hatte es nicht im Kopf, sondern im Bizeps, und mit seiner Funktion als Rausschmeißer und Wächter im Kleeblatt erreichte er durchaus die Grenzen seiner intellektuellen Fähigkeiten.

In den nächsten dreißig Minuten drehte Bulle die Heizungen auf, schaltete die Spielautomaten ein, prüfte sie, räumte Wechselgeld in die Kasse, kontrollierte die Getränkevorräte und die Sauberkeit der Stühle, stellte die Stereoanlage leiser - was Rudi immer mit einem gefährlichen Knurren quittierte - und stieg in den Keller. Die beiden großen Räume waren Bulles Reich, vier Tische für Poolbillard und vier Tische für Drei-Banden-Spiel. Das Licht brannte, die Lüftung rauschte auf der niedrigsten Stufe. Der Kühlschrank - gefüllt; die Kaffeemaschine - betriebsbereit; ausreichend Pappbecher, Zucker, Milchdosen. An sich war das Publikum nicht einmal schlecht, viele junge Leute, Schüler - er achtete peinlich darauf, an Jugendliche keinen Alkohol zu verkaufen und oft sogar ganze Familien, Türken vor allem. Die Frauen saßen auf den Wandbänken, tranken süßen Kaffee und schnatterten leise miteinander, während die Männer verbissen kämpften. Ganz selten verirrten sich Betrunkene oder Rabauken hierhin, und weil Rudi strengen Befehl von Hagen hatte, half er sofort, diese unerwünschten Gäste rasch und lautlos abzuschieben.

Ab zwanzig Uhr lief Bulle ununterbrochen. Queues und Dreiecke ausleihen. Abrechnen. Getränke bringen und kassieren. Aschenbecher leeren, aufräumen, Gläser spülen, Geld wechseln, schnelle Blicke auf die Automatenspieler oben werfen, ob die wirklich nur Münzen in die Schlitze steckten. Manchmal auffegen oder auch aufwischen; den Ekel davor hatte er bis jetzt nicht überwunden. Die Toilettentüren im Auge behalten; Hagen wünschte nichts in diesem Teil des Hauses, was auch nur im Entferntesten anrüchig war, sondern verlangte Sauberkeit und Ordnung. Irgendwie hatte er das auch Rudi eingebläut, der ab und zu von der Treppe aus mürrisch winkte. Bulle musste dann entscheiden, ob sie den wahrscheinlich minderjährigen Jüngling oder die angetrunkene Frau so höflich wie energisch von den Spielautomaten an die frische Luft beförderten. Aus bitterer Erfahrung konnte er inzwischen einen stummen Polizisten in der Finsternis drei Meilen gegen den Wind wittern, und in den zehn Monaten, die er jetzt hier arbeitete, waren wenigstens zehn Kriminalbeamte im Kleeblatt gewesen. Keiner hatte etwas beanstandet, und Hagen lobte ihn häufiger: »Bulle, du bist Gold wert.«

Das Kleeblatt war Hagens Aushängeschild. Hier verdiente er offiziell das Geld, das er korrekt versteuerte, um aller Welt zu beweisen, dass er ein ordentlicher, gesetzesfürchtiger Geschäftsmann war - oder geworden war.

Gepokert wurde in den Räumen über dem Kleeblatt. Gute Kunden begannen wohl auch mal im Billardkeller, spielten dort eine Partie und bemerkten beiläufig in Bulles Richtung, die Strecke Wuppertal-Hagen sei länger, als man nach der Karte vermuten solle. Dann ging Bulle ans Haustelefon, wählte eine »59« und meldete kurz: »Von Hagen nach Wuppertal.« Wenig später klopfte es draußen an die Hintertür der Küche; der Ausgang führte in ein Treppenhaus, und er schob die Pokerspieler hinaus. Normalerweise kamen sie über den Kontakthof auf der Rückseite des Gebäudes. Zwanzig, dreißig Mädchen taten dort so, als hätten sie nur auf diesen Freier gewartet.

Hagen war an diesem Unternehmen zur Hälfte beteiligt, was Polizei und Finanzamt bekannt war. Auf den besten Plätzen direkt am Eingang hatte er zwei seiner Puppen postiert, die sich hurenfreundlich erkundigten, was denn beliebe: Spielchen mit ihnen oder lohnendere Spiele.

Hagen hatte Bulle im Knast kennengelernt. Fast ein dreiviertel Jahr hatten sie in einer Zelle gelegen, und weil er den Prahlereien des Jüngeren immer schweigend gelauscht hatte, war Hagen irgendwie zu der Überzeugung gelangt, er habe einen Freund und Bewunderer gewonnen. Als Bulle vor elf Monaten mit 965 Mark in der Tasche entlassen worden war und vor dem Gefängnistor seinen stechenden Magen mit flachen Atemzügen niederzwang, suchte er Hagen auf: »Ich brauche einen Job. Ich kann nicht wieder in den Kahn. Es wäre mein Tod.« Hagen hatte das halbnackte Mädchen aus dem Raum geschickt, sich nachdenklich das Kinn gerieben und dann zu grinsen begonnen: »Bulle, ich hab genau den Job, den du suchst.«

Der Job war nicht einmal schlecht. Hagen zahlte ihm vierhundert die Woche, bar auf die Hand, mit Steuern und Versicherungen gab er sich nicht ab. Bulle hatte auch sofort begriffen, warum Hagen das Kleeblatt sauber haben wollte, und seit der Ärger mit Rudi beigelegt war, lief das Geschäft von Woche zu Woche besser. Neue Kundschaft stellte sich ein, die ernsthaft klaren Sprudel oder Apfelsaft oder Kaffee trank und mit dem Trinkgeld nicht knauserte. Zuerst wollte er der Entwicklung nicht trauen, aber dann offerierte er Gulaschsuppe, Käse-Schinken-Toast und Hausmacher-Butterbrote. Hagen lachte sich krank und ließ die Küche renovieren. Die Trinkgelder flossen reichlich, Rudi stimmte ein Hohngelächter an und verschluckte es sofort, als Bulle dem Muskelprotz ein Drittel anbot. Das Kleeblatt blühte auf, langsam zwar, aber stetig.

Die Kunde von dieser Verwandlung eines bis dahin schmierigen Spielsalons erreichte zuerst den Kontakthof. So hart gesotten waren die Huren nicht, besonders nicht in den kalten Herbst und Wintermonaten, als dass sie jede Neugier geleugnet hätten. Immer häufiger pochten sie an die Hintertür seiner Küche. Kaffee, ein Brot, eine Cola oder auch nur ein Schwätzchen für eine halbe Zigarettenlänge. Oder einen Knopf, eine Schnalle annähen, einen Fleck entfernen. Jede, die zum ersten Mal kam, wollte wissen, warum er »Bulle« genannt wurde, und geduldig erklärte er, dass er Herrmann Stier heiße und früher, bevor er mit Magengeschwüren und Herzbeschwerden herumlaborierte, von seinen Freunden und Freundinnen »Bulle« gerufen wurde. Mehr brauchte er nicht zu sagen, den Rest reimten sich gerade diese Damen schnell zusammen, und weil sie alle ein falsches oder gar kein Verhältnis zum Geld besaßen, gaben sie großzügige Trinkgelder, die er vor Rudi verheimlichte. Das Geld konnte Bulle selbst gut gebrauchen.

Hagen erschien wie jeden Tag kurz vor Mitternacht, schaute in die Kasse und nahm gegen Quittung den größten Teil der Einnahmen heraus, steckte die Zettel ein, auf denen die Bestellungen notiert waren, und hielt je nach Laune ein kürzeres oder längeres Schwätzchen mit den beiden Männern. Gegen eins leerte sich der Billardkeller, Bulle begann mit dem Aufräumen und Saubermachen. Eine Stunde später machte sich Rudi an die Arbeit und vergraulte die Automatenspieler; das Kleeblatt hatte eine Lizenz bis zwei Uhr, und Hagen wünschte keinen Ärger mit Polizei oder Ordnungsamt. Bis sie abgerechnet und abgeschlossen hatten, war es Viertel nach zwei, und seit Rudi jeden Abend sein Drittel kassierte, nahm er Bulle im Auto ein Stück mit. Den Rest lief er zu Fuß, dankbar für ein paar Schritte ohne Hektik. Wenn er sich vorstellte, das solle nun Jahre noch so weitergehen, packte ihn kalte Verzweiflung.

Auch am nächsten Tag schien die Sonne, Mutter Krause kramte in dem Kleiderschrank mit den Spiegeltüren nach den hellen Sachen, und Bulle fuhr mit der Straßenbahn zum Steeler Wasserturm. Den Turm erkannte er noch wieder, aber die Umgebung hatte sich völlig verändert. Fassungslos starrte er von der Brücke auf die Schnellstraße hinunter, die in einer brutalen Betonrinne das ganze Viertel zerteilte. Die Eckkneipe gab es nicht mehr, enttäuscht begann er die Straßen abzulaufen. Irgendwo würde sich der Sachse auftreiben lassen, er hatte immer in dieser Gegend gearbeitet und würde ihr treu bleiben, sich eine andere Stammkneipe suchen und dort auf Kundschaft warten.

In der folgenden Woche traf er den Sachsen zufällig auf der Straße. »He, Sachse«, grüßte er leise, und der unauffällige Mann schnaufte vergnügt: »Sieh mal an, der Bulle. Lange nicht gesehen. Wie geht's denn so?«

»Mittelprächtig. Können wir uns mal unterhalten?«

Sie setzten sich in ein fast leeres Café; der Sachse protestierte, bis Bulle seufzte: »Hör mal, Bier ist bei mir nicht mehr drin. Der Magen, verstehst du?«

Den koffeinfreien Kaffee ließ er kalt werden und kam sofort zur Sache: »Bist du noch im Geschäft?«

»Vielleicht - welches Geschäft meinst du denn?«

»Im Bau hatten wir einen Dieter Grille, einen ziemlichen Aufschneider« - der Sachse nickte knapp, sein Mund war schmal geworden - »der immer prahlte, er könne ganz leicht an die ganz Großen herankommen, über seinen Freund, den Sachsen.«

»Das große Maulwerk hat ihn auch hinter Gitter gebracht.«

»Wenn das stimmt ...«

»Wenn was stimmt?«

»Dass du an die ganz Großen herankommst - dann könnte ich einen Tipp verkaufen.«

Der Sachse lächelte ungläubig: »Du?«

»Ja, ich. Es ist ein guter, ehrlicher Tipp. Und er lässt sich nachprüfen.«

»So, nachprüfen. Und warum willst du so was verkaufen?«

Der Hohn schreckte Bulle nicht, er hatte das Interesse herausgehört: »Aus vielen Gründen. Erstens ist das Ding viel zu groß für einen Einzelnen, und für ein Team hab ich nicht das Geld. Zweitens bin ich zu alt für so was, und wenn ich noch einmal verknackt würde, wäre das ein Todesurteil für mich. Drittens will ich nicht mitmachen, ich verkaufe die Unterlagen und will keinen Anteil. Deswegen möchte ich auch gar nicht wissen, mit wem ich verhandle, ich hoffe nur, er ist ehrlich und zahlt bar im Voraus.«

Der Sachse griente unverändert, aber hinter seiner Stirn arbeitete es. Seinen Spitznamen verdankte er seiner Fähigkeit, perfekt zu sächseln, wobei er eine Menge albernes Zeugs und schlechter Witze verzapfte. Die meisten Menschen hielten ihn für dumm, und er tat viel für diese Tarnung.

»Na, dann spuck mal aus, Bulle.«

*



DIE NÄCHSTEN TAGE VERGINGEN quälend langsam. Insgeheim zitterte er vor Ungeduld, was Mutter Krause nicht entging: »Aber, Herr Stier, wer wird sich denn so übers Lotto aufregen! Oder haben Sie was gewonnen?«

»Noch nicht, Mutter Krause, noch nicht. Aber ich spür's, es wird klappen.«

Am Dienstag erschien der Sachse kurz vor Mitternacht im Kleeblatt, schaute sich unauffällig um und murmelte: »Du arbeitest also für Hagen?«

»Ja.«

»Schon lange?«

»Gut zehn Monate.«

Weil Rudi auf der Treppe erschien und zu ihnen herüberstarrte, lachte Bulle krampfhaft laut und zerrte den Sachsen in die Küche. Am Tisch saß eine blutjunge Nutte, fast noch ein Kind, und löffelte hastig eine Gulaschsuppe. Einen Moment musterte sie den Sachsen halb erstaunt, halb ängstlich; der Sachse warf ihr einen abschätzigen Blick zu, drehte sich weg und erkundigte sich halblaut: »Hast du alles zusammen?«

»Ja.« Auch Bulle senkte die Stimme.

»Na fein. Morgen, fünfzehn Uhr, am Bahnhof Kettwig. Einer hat angebissen, aber der Mann will natürlich nicht die Katze im Sack kaufen, du musst schon was zeigen.«

»Kann man ihm trauen?«

»Das schon. Ich bin dabei, wenn dich das beruhigt, aber ganz ohne Risiko ...« Er zuckte die Achseln.

Der Sachse wartete schon vor dem Bahnhof auf ihn; Bulle klammerte sich an seiner Mappe fest. Sie schlenderten zum Parkplatz, der Sachse hielt ihm die hintere rechte Tür auf.

»Guten Tag, Herr Stier.« Der Mann mit dem Vollbart und der riesigen, undurchsichtigen Sonnenbrille hatte eine kultivierte, angenehme Stimme. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Darf ich Sie zu einer kleinen Spazierfahrt einladen?«

Der Sachse saß schon hinter dem Steuer und drehte den Zündschlüssel.

»Gerne, vielen Dank«, krächzte Bulle. Sein Magen rebellierte.

Der Luxusschlitten rollte über die Ruhrbrücke, der Sachse bog rasch in eine Seitenstraße ab. Bulle räusperte sich und öffnete die Mappe, holte den Zeitungsausschnitt heraus und reichte sie dem Bärtigen neben sich.

»Ende Juni soll das Hotel Kaiserhof in der Lindenallee geschlossen und für eine Versicherung umgebaut werden.«

Der Mann hob die Hand, Bulle verstummte und schwieg, bis sein Nachbar den Artikel gelesen hatte.

»Im Jahr 1960 habe ich im Kaiserhof gearbeitet. Ich war damals bei einer Baufirma als Maurer beschäftigt.« Wieder wartete er, bis der Schweigsame die entsprechenden Eintragungen im Arbeitsbuch gefunden und studiert hatte.

»Wir haben damals eine Tiefgarage hinter dem Hotel und die Zufahrt gebaut, außerdem den Keller erweitert, für eine neue Heizung. Und den Tunnel verschlossen.«

»Welchen Tunnel, Herr Stier?«

»Dazu muss ich etwas ausholen.«

»Bitte, bitte.« Der Mann amüsierte sich. »Wir haben viel Zeit.«

»Direkt neben dem Kaiserhof, Wand an Wand, liegt das Bäckerhaus. Beide mit Eingang zur Lindenallee. Im Bäckerhaus sind Büros untergebracht, Geschäfte, ein Autosalon, dazu ...«

»Ich kenne das Gebäude, Herr Stier.«

»Gut. Früher, also vor 1960, wurden das Bäckerhaus und der Kaiserhof von einer zentralen Heizungsanlage versorgt. Sie liegt im Keller auf der anderen Seite der Lindenallee. Und zwar unter dem Hof der Hauptpost. Es gab also einen Gang mit den Rohren unter der Lindenallee und unter den Gebäuden hindurch, die an der Lindenallee dem Bäckerhaus und dem Kaiserhof gegenüber liegen. Der Heizungsgang führte bis unter den Hof der Post.«

Der Mann nickte geduldig.

»Wissen Sie eigentlich, was früher im Bäckerhaus untergebracht war?«

»Was meinen Sie mit >früher<?«

»Nun, im Dritten Reich.«

»Nein, keine Ahnung.«

»Parteidienststellen. Gauleiter, Kraft durch Freude, Winterhilfswerk, Hitlerjugend, BDM, SA, alles mögliche. Und diese Herren waren sehr auf ihre Sicherheit bedacht.«

»Was soll das heißen?«

»Sie hatten Angst vor Bomben. Und deshalb wurde dieser Tunnel für die Heizungsrohre so groß angelegt, dass er im Fall der Fälle als Fluchtweg zum Zentralbunker dienen konnte. Als Zugang zum großen Zentralbunker unter der Post.«

»Zentralbunker unter der Post?«

»Ja, unter dem Innenhof der Post ist ein großer Bunker gebaut worden, für die Postler, für die Parteibonzen aus dem Bäckerhaus, für die Gäste aus dem Kaiserhof. Und für die Eisenbahner, ja, es gibt auch einen Tunnel, der vom Hauptpostgebäude unter dem Bahnhofsplatz zum Hauptbahnhof führt. Er wird übrigens heute noch benutzt, für die Postwägelchen, die von den Bahnsteigen mit einem Aufzug bis in diesen Gang herunterfahren.«

»Davon habe ich nie gehört.«

»Das ist kein Geheimnis. Fragen Sie mal die Männer auf den Bahnsteigen, wohin die beladenen Wägelchen gebracht werden. Oder woher die vollen Wagen kommen.«

»Na schön, das könnte ich tun. Aber zurück zu unserem Geschäft.«

»Sofort. Der Bunkerzugang mündete also in den Kellern vom Bäckerhaus und vom Kaiserhof. Genau unterhalb der Trennwand zwischen beiden Gebäuden. Stellen Sie sich jetzt mal in Gedanken auf die Lindenallee, mit dem Rücken zum Bäckerhaus und dem Hotel, genau zwischen beide Häuser!«

»Wenn Sie mir sagen, warum - gern.«

»Was liegt dann auf der anderen Seite der Lindenallee?«

Der Mann überlegte eine halbe Minute, bevor er mit veränderter Stimme sagte: »Links der Juwelier Arntzen und rechts das Bankhaus Jäger & Pauli.«

»Genau. Unter der Trennwand dieser beiden Häuser verläuft der Bunkergang. Und beide Häuser hatten im Keller einen Zugang zum Bunkergang.«

»Sie hatten?«

»Ja. Als wir dort arbeiteten, wurden alle Zugänge zugemauert. Also die im Bäckerhaus, im Hotel Kaiserhof, im Keller des Hauses, in dem heute der Juwelier Arntzen sitzt, die Öffnung gegenüber, die in den Keller des Bankhauses Jäger & Pauli führt, die Tür zu der früheren Zentralheizung unter dem Hof der Post und hinter der Treppe der Eingang in den Tiefbunker.«

»Zugemauert ...«

»Schlecht zugemauert, mit einer einlagigen Ziegelwand innen an den Durchbrüchen. In den Kellern wurde diese Wand dann verputzt, sodass von dort der frühere Durchbruch nicht mehr zu sehen ist. Wenn da aber einer gegenfällt, purzelt er in den alten Bunkergang.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil ich die Öffnungen zugemauert und verputzt habe.«

Der Wagen kurvte lautlos durch eine friedliche Siedlung. Der Mann schwieg, Brille und Bart verdeckten sein Gesicht wie eine Maske. Endlich seufzte er: »Das klingt sehr interessant. Sie schlagen also indirekt vor, jemand sollte sich unter die Bauarbeiter im Kaiserhof mischen, die einlagige Mauer im Keller aufstemmen und über den alten Heizungs- oder Bunkergang bis zu den vermauerten - schlecht vermauerten - Zugängen des Bankhauses Jäger & Pauli und des Juweliers Arntzen vordringen, um sich dort Einlass zu verschaffen.«

»So ähnlich hatte ich mir das gedacht.«

»Sehr interessant, in der Tat. Aber bis jetzt habe ich nur Ihr Wort dafür, dass sich alles so verhält.«

»Nein.« Fast zärtlich holte Bulle das Paket aus der Mappe und faltete das Ölpapier auf. »Wir hatten einen widerlichen Polier. Er soff wie ein Loch, krakeelte herum und schikanierte alle Leute, mich vor allem, weil ich der Jüngste war. Dabei verlegte und verlor er alles, was man ihm gab. Eines Abends habe ich ihm aus lauter Wut alle Papiere und Pläne geklaut, die in seinem Verschlag herumlagen. Nur, um ihn zu ärgern.« Er reichte den Stapel hinüber. »Erst viel später habe ich mir die Sachen genauer angesehen, und da ist mir die Idee gekommen, die Pläne könnten mal hilfreich sein.«

»Existiert dieser Gang denn noch?«

»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, ja. Der war aus massivem Beton, den hätte man sprengen müssen, und bei der Bebauung in der Lindenallee wäre das kompliziert und teuer geworden. Zumauern war billiger.«

»Ist der Verlust dieser Pläne damals aufgefallen?«

»Nein. Ich meine, der Polier bekam Arger, aber alle wussten, dass er soff und nicht zuverlässig war. Eine Woche später wurde er abgelöst, und der neue Polier brachte neue Pläne mit. Wir Kollegen sind nie gefragt worden, ob wir die alten Pläne verbrannt oder geklaut hätten.«

Der Mann gluckste zustimmend. »Herr Stier, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mit Herrn Risteck einen kleinen Spaziergang machen könnten. Ich möchte das Material in Ruhe prüfen.« Der Wagen schlingerte schon in einen Waldweg hinein und bremste.

Der Sachse haute ihm auf die Schulter: »Kopf hoch, Bulle, er hat angebissen.«

»Meinst du?«

»Na klar doch!«

Bulle lief langsam, weil sein Magen vor Anspannung wieder kniff und er die kalte Luft nur flach einatmen durfte. Bis jetzt hatte er sich gut verkauft, aber nun kam es darauf an, was er herausschlagen würde. Es war seine letzte Chance, er brauchte das Geld so dringend. Am liebsten hätte er gebetet, und der Sachse warf ihm mitleidige Blicke zu.

Der Mann hatte alles schon wieder zusammengepackt. »Gutes Material, Herr Stier. Ich kaufe es.«

»Und was bieten Sie?«

»Fünfzehn.«

»Ich hatte an das Doppelte gedacht.«

»Nein, das hatten Sie nicht.« Der Mann lachte ärgerlich. »Ich gebe Ihnen fünfundzwanzig für die Pläne und Ihr Arbeitsbuch. Zur Rückversicherung. Sollte etwas schiefgehen, weil Sie unvorsichtig waren oder gequatscht haben, werde ich dafür sorgen, dass Ihr Arbeitsbuch zusammen mit den Plänen der Polizei in die Finger fällt.«

»Einverstanden.«

»Was wollen Sie jetzt tun?«

»So rasch wie möglich in den Süden.«

»Wann reisen Sie ab?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich muss mit Hagen reden und vor allem mit meiner Wirtin, die ist so tüttelig, dass ich ihr zutraue, zur Polizei zu gehen, wenn ich einfach wegbleibe.«

»Na schön, wir haben uns verstanden. Wir setzen Sie an der nächsten Straße ab, tut mir leid für den Fußmarsch, aber ab jetzt halten wir wohl besser Distanz.«

Der Sachse holte aus dem Handschuhfach einen dicken Umschlag. »Zweihundertfünfzig saubere Scheine, Bulle. Du kannst dich auf mich verlassen.«

Bulle hatte also herausgeholt, was er sich vorgenommen hatte. Sein Arbeitsbuch brauchte er nicht mehr. Wer nahm schon einen alten, magenkranken Vorbestraften mit Herzklabaster, der keine zwei Stunden auf einem Bau durchhalten würde?


Killerhof 3 Krimis

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