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Fünftes Kapitel

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Oberkommissar Möller schauderte. Die Hünxener Straße war nicht das, was er sich für seinen Ruhestand aussuchen würde, staubig und trostlos wie die kleinen Siedlungshäuschen. Gegen diesen Eindruck kämpfte selbst die strahlende Maisonne vergebens an. Nach dem Klingeln schaute er hoch. Das Holz des vorspringenden Daches faulte, eine Planke hatte sich schon gelöst.

Eine alte Frau öffnete, und Möller seufzte heimlich. Diese Miene kannte er zur Genüge: hart, selbstgerecht und unfreundlich.

»Guten Tag«, grüßte er deshalb besonders höflich. »Sind Sie Frau Lauterbach, Marlies Lauterbach?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Mein Name ist Möller, Kriminalpolizei.«

Sie studierte seinen Dienstausweis, als sei auf dieser Welt alles falsch und gefälscht. »Ja, ich bin Marlies Lauterbach. Was wollen Sie von mir?«

»Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen.«

»Worüber?«

»Über Ihren Bruder Herrmann Stier.«

»Ich weiß nichts über meinen Bruder.« Sie stand unbeweglich in der Tür, als verteidige sie ihr Heim gegen einen Räuber.

»Können wir uns nicht drinnen unterhalten?«

»Warum? Ich weiß nichts über meinen Bruder, ich weiß nicht, wo er steckt, und will nichts von ihm hören.«

Also las sie keine Zeitung. Na schön, in diesem Fall half vielleicht der große Hammer: »Er ist tot, Frau Lauterbach. Jemand hat ihn in den Rhein geworfen, wir haben seine Leiche vor ein paar Tagen bei Wesel herausgefischt.«

Sie zuckte nur einmal kurz zusammen, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Das war eine Neuigkeit für sie, die sie aber nicht erschütterte. Sie trug genug Sorgen auf den Schultern, sie wollte sich keine weiteren aufladen, und nun der tote Bruder und die Kripo vor der Tür. Unwillig trat sie zur Seite: »Kommen Sie herein!«

Möller wunderte sich nicht, dass sie ihn in die Küche führte. Er war kein willkommener Gast, und wenn es nur nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihn zum Teufel geschickt. Es roch nach gekochtem Kohl.

»Frau Lauterbach, Ihr Bruder hatte als Entlassungsadresse dieses Haus angegeben ...«

»Das tat er immer. Aber er ist nie hierhergekommen. Und gewohnt hat er hier auch nicht.«

Was stimmen mochte, Herrmann Stier war nirgendwo gemeldet. »Gab es einen Grund, warum er nie hierher...«

»Er war ein Verbrecher, mit dem wir nichts zu tun haben wollten. Früher hat er immer versprochen, es wäre das letzte Mal gewesen, jetzt würde er ehrlich werden, aber das war immer gelogen. Bis ihm Werner - mein verstorbener Mann - eines Tages das Haus verboten hat.«

»Wann war das?«

»Vor neun Jahren.«

»Aber Sie wussten, dass er vor sechs Jahren wieder verurteilt worden ist?«

Widerwillig nickte sie: »Er hat mir einen Brief geschrieben, aus dem Zuchthaus.«

Möller überlegte einen Moment, ob er sie korrigieren sollte, das Zuchthaus war abgeschafft, aber sie würde es nicht verstehen wollen.

»Es ging ihm sehr schlecht, wegen seines Magens, aber er war ja selbst schuld an seiner Lage, und deshalb haben wir nicht geantwortet.«

»Doch als Ihr Mann starb, haben Sie ihm eine Todesanzeige geschickt. Nach Werl.«

»Er sollte wissen, dass er mitgeholfen hatte, Werner so früh ins Grab zu bringen.«

»Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

Er sah, dass sie überlegte, und ihre Gedanken konnte er besser lesen, als ihr bewusst war. Am liebsten hätte sie gelogen, ihren Bruder verleugnet, aber damit hätte sie sich mit dem Verbrecher auf eine Stufe gestellt: der Polizei nicht die Wahrheit gesagt.

»Das war im Januar. Ende des Monats. Da kam er hierher, über Mittag. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr.«

»Und was wollte er?«

»Etwas aus seinen Sachen holen.«

»Welche Sachen?«

Sie stöhnte, halb aus Wut, halb aus Scham. »Als wir das Haus kauften, hat uns Herrmann Geld geschenkt, für die Anzahlung. Unter einer Bedingung: dass er seine persönlichen Sachen bei uns auf dem Dachboden abstellen durfte, so lange er wollte.«

»Das hat er auch getan?«

»Ja. Wir brauchten das Geld, und deshalb liegen seine Sachen immer noch oben.«

»Wissen Sie, was sich Ihr Bruder geholt hat?«

»Nein. Ich wollte es auch nicht wissen.«

Das glaubte er ihr sofort. »Hat Herrmann bei seinem Besuch erzählt, wo er wohnte? Was er tat?«

»Nein. Wir haben nicht miteinander geredet.«

Auch das würde stimmen, sie war nicht nur selbstgerecht, sondern auch hartherzig. Und weil sie niemandem half, würde ihr in der Not auch kein anderer Mensch beistehen, damit hatte sie sich abgefunden.

»Wir wissen nicht, wo sich Ihr Bruder in den gut elf Monaten seit seiner Entlassung aufgehalten hat«, versuchte er es trotzdem noch einmal.

Ihr gleichmütiger Blick nahm ihre Antwort vorweg: »Wahrscheinlich hat er wieder ein krummes Ding gedreht. Was anderes konnte er ja gar nicht.«

Angewidert klappte Möller sein Notizbuch zu: »Kann ich mir mal die Sachen ansehen, die Ihr Bruder hier untergestellt hat?«

Vor den dicken Plastikplanen und dem millimeterstarken Staub kapitulierte er: »Darf ich mal telefonieren?«

»Ich habe kein Telefon.«

Vom Auto aus rief er im Präsidium an; Christine Seidel versprach, sofort einen Trupp in Marsch zu setzen. Danach ließ Marlies Lauterbach ihn ohne große Umstände wieder ins Haus. Denn eine Frage beschäftigte sie: »Wer muss sich um Herrmanns Beerdigung kümmern? Ich meine, wer zahlt das?«

Möller sah sie lange an, bevor er sich entschloss, ruhig zu bleiben. »Das müssen Sie den Staatsanwalt fragen«, erklärte er trocken.

Die Hauptmeisterin Seidel hatte eine Überraschung für ihn parat, als er ins Kommissariat zurückkam: »Außer uns hat sich noch jemand für Herrmann Stier interessiert. Oberkommissar Kirchmann, Schichtleiter im siebten.«

»Ach nee! Woher weißt du?«

»Aus der Datenverarbeitung. Da hat er nachgefragt.«

Sie trafen sich um zwölf Uhr im siebten Revier, Oberkommissar Kirchmann, Otto Fröhlich und Miriam Wolff, Oberkommissar Möller und Hauptmeisterin Seidel, die sich auf den ersten Blick mit Miriam anzufreunden schien. Der große Otto beichtete und erwähnte auch tapfer das »Jungchen« seiner früheren Nachbarin Mutter Krause, die ihren Untermieter vermisste. Nach Möllers Anruf hatte er ein ausführliches Protokoll angefertigt, das die Kriminalbeamten wortlos studierten.

»Dann hat er sich unmittelbar nach der Entlassung ein Zimmer gesucht«, urteilte Kirchmann. »Bei Mutter Krause, die harmlos genug aussah, ihm die Geschichte mit den abendlichen Schlussabrechnungen in einem Kaufhaus zu glauben.«

Damit schien Möller nicht ganz einverstanden: »Okay. Mit dem Arbeitsplatz hat er seiner Wirtin einen Bären aufgebunden. Aber er ist tatsächlich jeden Nachmittag aus dem Haus gegangen und erst in der Nacht zurückgekommen.«

»Bei der AOK war er nicht gemeldet. Für ihn ist auch keine Steuerkarte ausgestellt worden, zumindest nicht hier im Ruhrgebiet. Ich hab noch nicht alle Sozialämter durch, aber es sieht nicht so aus, als habe er irgendwo Geld oder Hilfe beantragt. Und im Meldeverbund ist kein Stier, Herrmann verzeichnet.« Hauptmeisterin Seidel hatte ihre Hausaufgaben pünktlich erledigt; Kirchmann pfiff anerkennend, weil er wusste, wie viel Arbeit solche Recherchen machten.

Möller musterte den großen Otto, der zwar den Kopf einzog, aber dann seufzend nachgab: »Okay, Miriam und ich gehen zu Mutter Krause und bringen's ihr bei.«

»Warum haben Sie Mutter Krause nach Post für ihren Untermieter gefragt?«

»Weil mir gleich der Verdacht gekommen ist, dass sich Stier bei ihr verstecken wollte. Keine Post und keine Besucher - wissen Sie, Mutter Krause lebt allein, die Kinder vernachlässigen sie, für sie ist es nicht ungewöhnlich, dass wochenlang kein Mensch was von ihr will. Aber er behauptete, ein zwar kranker, aber arbeitender Angestellter zu sein. Der sollte doch Freunde, Bekannte, Kollegen haben.«

»Gut kombiniert«, lobte Möller ernsthaft. »Dann entführen wir Ihnen Stiers Koffer und bedanken uns für den hervorragenden Kaffee.«

Miriam konnte es nicht lassen: »Den hat Jungchen gekocht.« Dabei streckte sie herausfordernd ihr Bein hin, aber der große Otto verschmähte den Knöchel. Für den Augenblick.

Sie mussten einen Schlosser holen, weil sie den Koffer nicht gewaltsam öffnen wollten.

Der Inhalt war, alles in allem, enttäuschend, und während Möller die Stücke auf einem langen Tisch ausbreitete, diktierte Seidel die Beschreibung in ein Kassettengerät. In einer Mappe hatte Stier seine persönlichen Unterlagen aufbewahrt, von der Geburtsurkunde über die Zeugnisse, den Gesellenbrief, Urteile und Entlassungsscheine. Sie ergaben kein erfreuliches Bild. Stier war schon als Jugendlicher mit dem Gesetz in Konflikt geraten, zuerst Schlägereien und Sachbeschädigung, dann Diebstahl, zum Schluss Einbrüche. Das Verrückte war, dass er zwischendurch immer wieder regulär gearbeitet hatte, als Maurer, Fahrer, manchmal wohl auch als Hilfsarbeiter; das übliche Arbeitsbuch, das ihm von der Innung nach der Freisprechung ausgehändigt worden war, fehlte allerdings. Auch die Arbeitszeugnisse und Arbeitsbescheinigungen schienen nicht vollständig zu sein.

In einer anderen Mappe fanden sie Fotografien, wahrscheinlich die Eltern, die Schwester, der Schwager. Drei Aufnahmen, offenkundig bei einem Richtfest aufgenommen.

Eine dritte Mappe enthielt seine Krankengeschichte. Kleinere Arbeitsunfälle, nichts Ernstes, aber vor gut fünfzehn Jahren begannen seine Schwierigkeiten mit dem Magen. Diätpläne. Krankheitsbescheinigungen von verschiedenen Ärzten, ein ausgefüllter, aber nicht mehr unterschriebener Antrag auf Feststellung verminderter Erwerbsfähigkeit. Während der letzten Haft war er wegen der Magengeschwüre operiert worden. Der Anstaltsarzt hatte ihn gründlich untersucht, sein Bericht ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

»Verstehst du dieses Medizinerlatein?«, fragte Möller.

»Lass mal sehen!« Sie krauste die Stirn. »Allgemein schlechter Gesundheitszustand. Untergewicht. Coronarinsuffizienz - hm, also ein schwaches Herz. Und mit den Gelenken hatte er auch etwas, aber da müssen wir einen Medizinmann fragen.«

»Na schön. Dass er keine Bäume mehr ausreißen konnte, wissen wir ja schon.«

Eine Kassette enthielt knapp viertausend Mark in Scheinen aller Größe. Aufschlussreich waren die obenauf liegenden Prospekte eines Sanatoriums in Bayern, spezialisiert auf Magenkranke. Stier hatte sich außerdem für eine Ferienhaussiedlung auf Mallorca interessiert, zu den wenigen Büchern, die er aufgehoben hatte, zählte auch ein spanisch-deutsches Lexikon.

Möller schüttelte den Kopf: »Mit dem Geld hätte er sich dort nie einkaufen können.«

Der restliche Inhalt des Koffers war unergiebig. Wo zum Teufel hatte er zehn, wenn nicht elf Monate gejobbt? Oder ließen sich die Stunden, die er jeden Tag fortgegangen war, anders erklären?

»Bei seiner Vergangenheit wird er wenig Wert darauf gelegt haben, Steuern zu zahlen«, bemerkte Seidel spitz, aber das war nicht das Problem, wie Möller nüchtern verbesserte: »Wenn er tatsächlich regelmäßig gearbeitet hat, muss sein Arbeitgeber doch sein Fehlen gemeldet haben. Oder nachgefragt haben, was mit ihm geschehen ist.«

»Wenn sein Arbeitgeber nichts zu verbergen hat!«

Das war ein Gedanke. In seinen besten Einbruchs Zeiten hatte Bulle mehrfach mit anderen zusammengearbeitet, gut möglich, dass er bei einem alten Kumpel untergekrochen war, der wenig Wert darauf legte, ihn bei der Polizei als vermisst anzuzeigen. Möller griente anerkennend, und sie wurde blass: »Nein! Ich soll alle alten Kumpane ... Harald, das kannst du mir nicht antun!«

»Aber liebe Chris, so etwas erledigst du besser als jede andere Kriminalbeamtin.«

Die Temperatur sank spürbar. Sie hasste es, wenn jemand ihren Vornamen Christine zu Chris oder, schlimmer noch, zu Tine verkürzte, was Möller genau wusste. Er tat es auch nur, wenn sie sich gegen eine Anweisung oder einen Vorschlag sperrte.

»Hör zu! Bis jetzt müssen wir uns an den Obduktionsbefund halten: Stier ist eines natürlichen Todes gestorben. Aber wer zum Teufel hatte ein Interesse daran, die Leiche zu beseitigen? Ihr ein Gewicht ans Bein zu binden und sie in den Rhein zu kippen?« Ihr finsterer Blick erschütterte ihn nicht. »Und noch eins. Stier besaß kein Auto. Du klapperst die Leihwagenfirmen ab, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er das Geld gehabt hat, über Monate einen Mietwagen zu fahren. Wenn nicht, dann muss sein Arbeitsplatz in einem begrenzten Radius um Mutter Krauses Wohnung gelegen haben. Dann war er nämlich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.«

»Ich hätte beim Betrug bleiben sollen«, fauchte Christine und packte zusammen. Mit Stiers Hinterlassenschaft auf dem Dachboden seiner Schwester durfte sich Möller alleine beschäftigen.

Im Laufe eines Lebens war eine kuriose Sammlung entstanden. Eine altmodische Wasserwaage aus Messing mit Rankenverzierung. Ein Lot, auf dem Kegel die Gravierung 'Für Bulle'. Zwei ehemals gute Anzüge samt scheußlichen Krawatten. Eine Uralt-Kamera mit Stativ, für die längst keine Platten mehr hergestellt wurden. Zwei Herrenringe, billiger Schmuck aus 333er Gold, die Steine waren so groß, dass sie falsch sein mussten. Zwei Füllhalter, zwei alte Brieftaschen, deren Leder mürbe geworden war. Krimskrams und Tinnef, Möller musste jedes Teil für die Asservaten-Liste beschreiben und wunderte sich von Stück zu Stück mehr, warum Stier diese Teile aufbewahrt hatte. Zum Schluss faltete er ein Paket auf, das in Plastik und Ölpapier eingeschlagen war, und der Inhalt entlockte ihm zum ersten Mal einen Pfiff. Bauzeichnungen, nur Bauzeichnungen: Grundrisse, Aufrisse, Detailpläne. Manchmal war rechts unten noch zu lesen, welcher Architekt sie gezeichnet oder welches Bauamt sie genehmigt hatte, doch meist waren die entsprechenden Eintragungen und Stempel mit einem scharfen Messer weggeschabt worden. Viele Striche waren nicht mehr zu erkennen, das Papier war vergilbt oder fleckig, manchmal überdeckten dicke Bleistiftstriche die Originallinien. Möller verstand die meisten Bezeichnungen und Ziffern nicht, ja, er konnte nicht einmal sagen, welche Blätter zusammengehörten. Herrmann Stier, gelernter Maurer, hatte also Bauzeichnungen aufbewahrt. Möglicherweise nicht einmal ungewöhnlich für einen Maurer, aber Stier war kein normaler Arbeiter gewesen. Er war sechs Mal vorbestraft wegen Einbruchs ...

Da musste ein Fachmann ran!

*



MIT DER HAUSDAME VERSTAND sie sich auf Anhieb sehr gut, und der Doktor, den sie über den Sachsen informiert hatte, war damit einverstanden. Wem sich eine Chance bot, einen neuen Job zu finden, der kündigte im Hotel so rasch wie möglich, es fehlte bereits an Personal, den Betrieb auf allen Stockwerken aufrechtzuerhalten. Am sechsten Tag hatte sie es eingerichtet, der Hausdame »zufällig« über den Weg zu laufen, und nach ein paar entsetzten Bemerkungen über den Zustand des Hotels rang sich die Grauhaarige zu der Frage durch, ob Aja es sich vorstellen könnte - nun ja, es sei schon ungewöhnlich und höchstens ein Vertrag auf Zeit - aber wenn sie jetzt nicht aufpasste, verschwand alles, was noch einigen Wert besaß - und der Erlös aus der Versteigerung sollte doch in die Abfindungssumme fließen - also kurz und gut: Sie brauchte Hilfe, eine Assistentin, eine vertrauenswürdige Person - Aja hatte stumm genickt. So herzlos war sie nicht, sich über das alte Mädchen zu mokieren, ohne ehrliche Menschen wurden Diebe arbeitslos, und aus dem Hotel wollten sie ja auch nichts widerrechtlich entfernen.

Morgen würde sie den befristeten Vertrag als Assistentin der besorgten Hausdame unterschreiben. Ihre falschen Papiere waren dank des Doktors Hilfe perfekt.

*



HAGEN HATTE DIE WOHNUNGSTÜR geöffnet und die junge Frau unwillig gemustert. Eine Nutte erkannte er immer noch auf zehn Meter in finsterer Nacht, und diese halbe Portion mochte sich kleiden wie sie wollte, ihre Profession konnte sie schon nicht mehr verleugnen, obwohl sie erst knapp zwanzig Jahre alt war. Unter seinem langen Schweigen verlor sie den dreisten Blick und schaute zur Seite, ihre Mundwinkel begannen zu zittern.

»Was willst du?«, fragte er endlich drohend.

»Ich will mit dir reden.«

»Ich hab dich nicht bestellt.«

»Erkennst du mich nicht?«

»Nein«, knurrte er gelangweilt. Was stellte die sich vor - als ob er sich an alle Weiber erinnern könnte, die seinen Weg gekreuzt hatten.

»Ich arbeite für dich, in der Canalistraße.«

»Ja, und?«

»Du hast einen alten Mann angestellt, unten, im Billardkeller, der tot aus dem Rhein gefischt worden ist.«

»Erinnere mich nicht daran«, sagte er langsam. Es bimmelte in seinem Hinterkopf.

»Und als Rausschmeißer für den Automatensalon hast du einen gewissen Rudi.«

»Richtig«, bestätigte er ausdruckslos, und sie bemerkte nichts von seinem hochschießenden Jähzorn.

»Kurz bevor der Alte - der Bulle - verschwand, hatte er Besuch im Kleeblatt. Von einem Mann.«

Ja, genau so war es gewesen. Und Rudi, diese Pfeife, hatte den Unbekannten nicht beschreiben können. Oder wollen. »Warum erzählst du mir das alles?«

»Darf ich nicht reinkommen?«

Donnerwetter, hartnäckig war das Früchtchen. »Wie heißt du?«

»Sina.«

»Ah ja. Na, dann komm mal rein, du Püppchen.«

Er half ihr nicht, den Mantel auszuziehen und an der Garderobe über einen Bügel zu hängen; sie sollte sich bloß nichts einbilden. Ihr Name »Sina« war wohl so echt wie ein Dreimarkstück, und er konnte nur für sie hoffen, dass sie wirklich was zu melden hatte.

»Kaffee?«

»Gerne, danke - Hagen.« Das letzte Wort kam sehr zögernd heraus, sie schielte ihn dabei besorgt an. Eine dieser halben Portionen, enge schwarze Hosen über den nicht vorhandenen Hüften, und ein enger schwarzer Pullover über einem winzigen Busen. Alles klar, diese Masche strickte sie also. Ungeduldig wedelte er mit der Hand, >Hagen< war geschenkt.

Ihr schneller Blick durch das Zimmer entging ihm nicht, das lernte man in diesem Job, sich in Sekunden ein Bild von dem Freier zu machen. Was sie gerade dachte, hätte er Silbe für Silbe aufschreiben können.

»Nun leg mal los.«

Vor zwei Jahren war sie zu Hagen in den Puff an der Canalistraße gekommen, und das auch nur, weil ihr Freund bei einem Bruch geschnappt worden war. Grille hieß er, Dieter Grille, und heute, na ja, also jetzt würde sie zugeben, dass sein Maul schneller lief als sein Gehirn tickte. Aber damals, die erste große Liebe - sie zuckte die Schultern und griff verstohlen nach dem Brotkorb. Er grinste, ihm konnte man viel erzählen, jede Wette, dass sie abgebrannt war und noch nicht gefrühstückt hatte.

Einmal hatte ihr der Dieter einen Mann gezeigt, in einem stinkvornehmen Restaurant in der Nähe des Hauptbahnhofes. Kurz bevor die Bullen ihn bei einem Bruch schnappten. Das wär ein ganz Großer, hatte er geprahlt. Keiner, der sich selbst die Finger bei einem Bruch schmutzig machte, nein, nein, einer von denen, die ausbaldowerten und organisierten und finanzierten. Na ja, dass der Dieter aufschnitt, ahnte sie damals schon, der Kerl hatte nämlich ausgesprochen dämlich ausgesehen, so, als könne er nicht bis drei zählen. Doch der Dieter schnauzte sie richtig beleidigt an, ganz großes Ehrenwort, der Sachse gehörte zu den wirklich großen Brechern.

»Der Sachse?« Hagen schob ihr ungerührt die Wurstplatte hin, und sie langte hastig zu.

»Das war sein Spitzname. Richtig heißt er Risteck, Harry Risteck.«

Hagen nickte scheinbar gelangweilt. Harry der Sachse war ihm ein Begriff, aber die Kleine irrte, Harry finanzierte nicht, sondern spielte den Laufburschen für die Geldgeber.

»Na ja, ich hab mir den Risteck genau angesehen.«

»Nun komm schon zur Sache.«

Sie kaute und schluckte. »Ein oder zwei Tage, bevor der Bulle verschwunden ist, sitze ich unten in seiner Küche, um etwas zu essen, da kommt der Bulle mit diesem Sachsen herein.«

»Der Bulle und der Sachse?«

»Ganz sicher, die beiden kannten sich, gut sogar, bestimmt, sie haben auch gelacht.«

Hagen musterte sie scharf, sagte aber nichts, und weil er danach grübelnd aus dem Fenster sah, nahm sie sich noch ein Brötchen. Herrmann Stier, genannt der Bulle, kannte also Harry Risteck, den Sachsen. Sieh mal an! Eine solche Bekanntschaft hätte er dem alten Wrack nicht zugetraut.

»Warum hast du mir bis jetzt nichts von dem Bullen und dem Sachsen erzählt?«

»Mich hat ja keiner gefragt.«

Dagegen war nichts einzuwenden, und als Anfängerin hatte sie sich bestimmt lange überlegt, ob sie es wagen dürfe, mit dem Boss zu reden.

»Hat der Sachse dich erkannt?«

»Nein. Woher auch? Ich hab früher nie mit ihm gesprochen.«

Logisch, tatsächlich, sie wusste, wie man einen misstrauischen Mann überzeugte. »Und was ist mit deiner Grille?«

»Die hat ausgesungen. Er sitzt immer noch.«

Was sich notfalls nachprüfen ließ. Hagens Laune hob sich, das entging ihr nicht, und deshalb riskierte sie ein Lächeln. Er brummte zustimmend und holte einen Tausender aus der Brieftasche: »Wir kommen ins Geschäft.«

Ihr Blick hellte sich so schnell auf, dass er drohte: »Wenn du genau das tust, was ich dir sage. Sina war dein Name, nicht wahr?«

»Ja«, presste sie heraus.

»Okay, ich würde dich jederzeit und überall finden. Ist das klar?«

»Ja«, hauchte sie, »ich tu alles, was du willst.«

*



WÄHREND DER AUSBILDUNG hatte sie mehrere Haftanstalten besichtigt, zusammen mit den anderen Teilnehmern des Kursus und den Schulungsleitern. Damals war sie beeindruckt gewesen, aber jetzt war sie bedrückt. Die JVA Werl war außen wie innen nichts für schwache Gemüter, und der ältere Beamte schmunzelte still in sich hinein, weil er die Gedanken seiner Begleiterin richtig las.

Sie wurde erwartet; trotzdem bat sie der Mann hinter dem Gitter um Brief und Dienstausweis: »Christine Seidel, Kriminalhauptmeisterin, in Sachen Stier, Herrmann - is' gut, bitte, kommen Sie!« Das Schloss schnarrte, die Gittertür schwang auf, und sie hatte einen Moment das irrwitzige Gefühl, auf dem Weg in eine Zelle zu sein.

Der flotte Verwaltungsinspektor schien mächtig von sich eingenommen, er stieß einen schrillen Pfiff aus, mit dem er sich ihre Zuneigung auf ewig verscherzte, und fletschte die ganze Zeit über unternehmungslustig die Zähne.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Wir haben die Leiche eines Mannes gefunden, der vor gut einem Jahr aus Werl entlassen worden ist.«

»Herrmann Stier, mit Spitznamen Bulle, abgemeldet zu seiner verwitweten Schwester Marlies Lauterbach.«

»Richtig. Dort ist er aber nie eingezogen, in der ganzen Zeit hat er seine Schwester nur einmal besucht. Wir wissen, wo er gesteckt hat, zwar unter seinem richtigen Namen, aber sonst mit einer Legende, die seine etwas harmlose Vermieterin geschluckt hat. Bestimmte Umstände deuten daraufhin, dass er in der Zeit etwas vorbereitet hat.«

Der Flotte strahlte wohl unverändert weiter, schüttelte aber sofort den Kopf: »Liebe Kollegin, das halte ich für unwahrscheinlich. Bulle war am Ende, krank, klapprig, nach seiner Operation ist sogar erwogen worden, ihn wegen Haftunfähigkeit zu entlassen, aber bei seinen Vorstrafen ...«

»Akzeptiert. Aber er hat in den elf Monaten regelmäßige Einkünfte gehabt, das wissen wir von seiner Wirtin, der er regelmäßig Miete und Kostgeld gegeben hat. Nun verraten Sie mir mal, wo ein alter, kranker Vorbestrafter was verdienen kann - nein, keine Sozialhilfe, überhaupt keine Zahlung aus amtlicher Quelle.«

Dumm war der Inspektor nicht, er schaltete schnell: »Bei einem seiner früheren Kumpel.«

»Die klappern wir noch ab. Aber mir ist dabei eine andere Idee gekommen. Hat Bulle hier im Knast jemanden kennengelernt, von dem er Hilfe erwarten konnte? Dem er vielleicht hier geholfen hat?«

Dieser Panik-Gedanke mit der Zelle war so falsch nicht gewesen, das Büro des Inspektors war kaum größer, und als er aufstand, um an seine Karteischränke zu gehen, musste er sie anstoßen. Na ja; schweigend rückte Christine Seidel ihren Stuhl herum. Dabei lächelte sie verheißungsvoll, was der Inspektor auf ein mögliches Rendezvous, sie auf einen gezielten Stoß mit dem Ellbogen bezog.

Stier, Herrmann hatte eine Menge Formulare und Berichte erzeugt; der Flotte summte vor sich hin und blätterte eilig. Diese Arbeit hätte sie ihm gern abgenommen, aber dem standen erstens Datenschutz-Vorschriften entgegen und zweitens das erkennbare Interesse des Möchtegern-Casanovas, ihren Besuch zu verlängern.

»Nein, Bulle ist nicht aufgefallen, Frau Kollegin.« Was hatte der bloß immer mit >Kollegin<? Blöder Laffe! »Gleich nach Haftantritt klagte er über Magenbeschwerden. Ja. Mit schwerer Arbeit war auch nicht mehr viel - er hat nachher in der Buchhaltung für die Werkstatt gearbeitet - gute Führung, die anderen Häftlinge haben ihn wohl in Ruhe gelassen - Tabletten, zwei Rollkuren - Diät, warme Milch, kein Sport - nee, da ist nichts. Fast ein Einzelgänger. So weit man das im Bau überhaupt sein kann.«

»Gibt es keinen Hinweis darauf, dass er sich einem anderen Häftling angeschlossen hat?«

»Nein, ich schaue mir mal an, mit wem er zusammengelegen hat - Kotowski, der war gewalttätig - Bauer, etwas unterbelichtet - Herkenbach, schwul - Grille, ein unerträgliches Großmaul, der sitzt noch - Hagen, der hielt sich für was Besseres - Junghans, ein notorischer Pechvogel - nee, das sieht nicht so aus, als hätten Sie Glück.«

»Könnte ich mir die Namen der Zellengenossen notieren, Herr Kollege?« Das Schlimme an der Kripo war, dass man dort das Heucheln so gut lernte; den Inspektor traf der Blitz, er erstarrte in freudiger Überraschung, während sie noch an dem Wort »Kollege« herumwürgte, und bei seinem Eifer, ihr die Akte richtig hinzulegen, musste er sie prompt ein zweites Mal anrempeln. Sie beherrschte ihren Ellbogen.

*



EISENTRAUT STUDIERTE die alten Bauzeichnungen und Pläne, als wolle er sie auswendig lernen. Möller hatte sich gewundert, wozu der stellvertretende Leiter des Bauamtes die vielen Gewichte und Metallstücke auf dem langen Tisch benötigte, aber als sie die erste Zeichnung ausbreiteten, kapierte er. Das Papier wollte sich unbedingt wieder zusammenrollen, man konnte die Ränder gar nicht genug beschweren.

Aus dem Haus war nicht ein Geräusch zu hören. Offenbar waren alle Mitarbeiter des Bauamtes schon gegangen. Möller hatte unten dem Schild An unsere Besucher entnommen, dass in dieser Behörde die Gleitzeit eingeführt worden sei, mit einer »Kernzeit«, aber er verstand einfach nicht, dass normale Menschen freiwillig um sieben Uhr mit der Arbeit begannen, nur damit sie um 15.30 Uhr gehen konnten.

Eisentraut, alt, grauhaarig und umständlich, schien noch zur alten Schule zu gehören.

»Also, Herr Kommissar, viel kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Das sind in der Tat Bauzeichnungen und Detailpläne. Bei einigen würde ich vermuten, dass sie vierzig Jahre alt sind, hier, schauen Sie mal, wer mauert heute noch 60er Außenwände. Oder hier, eine Wangenlichte von 1,75 Meter. Doppelfenster, keine Doppelverglasung.«

Möller hatte seinen Block herausgeholt und machte sich Notizen.

»Ich bin nicht sicher, ob die Detailpläne überhaupt etwas mit den Übersichtsplänen zu tun haben. Sehen Sie mal, hier wird ein Rundbogen gemauert, der Statiker hat sogar die Lage der Steine vorgegeben, das kann sich heute kein Mensch mehr leisten, da würde ein vorgefertigter Stahlbogen eingesetzt.«

»Sie können also nicht erkennen, auf welche Häuser oder Gebäude sich diese Pläne beziehen?«

»Nein, bei keinem einzigen.« Fast anklagend deutete Eisentraut auf die Radierungen und Lücken in den Rahmenkästen rechts unten. »Da steht normalerweise der Name des Architekten und des Bauherren. Dann die Behörde und die Aktennummer des Genehmigungsbescheides. Alles entfernt.«

»Man könnte es wohl sichtbar machen«, murmelte Möller, aber Eisentraut wiegte zweifelnd den Kopf: »Da wäre ich nicht so sicher. Fassen Sie das Papier mal an, Herr Kommissar. Das ist nicht fürs Büro oder für sorgfältige Sekretärinnen gedacht, sondern für Baustellen.«

»Tapete«, knurrte Möller und rieb die Zeichnung zwischen Daumen und Zeigefinger.

Eisentraut lachte, wurde aber schnell wieder ernst: »Und dann diese dicken Bleistiftstriche hier, sehen Sie? Da war ein wütender Polier unterwegs, das Stück schaffst du heute noch, oder ich stopfe dir den nicht verbrauchten Mörtel ins Maul. Diese Zeichnungen sind mal auf einer Baustelle gewesen.«

»Wir haben sie im Nachlass eines Mannes gefunden, der wohl eines natürlichen Todes gestorben ist, dem aber ein Unbekannter ein Gewicht ans Bein gebunden und dann in den Rhein geworfen hat. Der Mann war gelernter Maurer, hat sich aber später auf Einbrüche spezialisiert und deswegen ein paar Mal gesessen.«

»Endlich!« Eisentraut blubberte. »Das hätten Sie mir ruhig gleich verraten dürfen. Sie vermuten also, der Knabe habe Pläne beiseitegeschafft, um dort später einzubrechen?«

»Ist das ganz unmöglich?«

»Nee, überhaupt nicht. Solche Tricks gibt's ja leider. Zum Beispiel mit Schlüsseln. Bei allen städtischen Neubauten achten wir darauf, dass unsere eigenen Leute sofort nach Bauübergabe die Zylinder an allen Türschlössern auswechseln. Wir haben da schon die tollsten Sachen erlebt.«

»So, und nun brauche ich Ihre Fachkenntnis. Gibt es auf diesen Zeichnungen einen Hinweis darauf, wo jemand Jahre später besonders leicht oder besonders bequem einsteigen kann?«

»Ach du meine Güte, mehr erwarten Sie nicht?«

»Nee«, brummte Möller und zwinkerte.

Eisentraut reckte sich, holte tief Luft und sagte überraschend fest: »Herr Möller, den Namen hab ich doch richtig verstanden? Fein, Herr Möller, jedes Ding hat seinen Preis. Sie holen jetzt was zu futtern und größere Mengen Bier, ein kleiner Klarer wäre auch nicht schlecht, und ich erkläre meiner Frau am Telefon, dass mich die Kripo nicht nach Hause lässt.«

»Eine faire Arbeitsteilung«, stimmte Möller zu und stand auf.

*



SEINE ERSTE GROßE, herzzerreißende Schülerliebe hatte ihm auf einem Spaziergang rund um die Langenberger Sendemasten erklärt, dass es aus sei, weil da ein anderer gekommen war. Seitdem zog es den Doktor in zynischem Masochismus an diesen Ort, wenn er etwas mit sich ausmachen musste, das andere nicht erkennen sollten. Die Wege waren trocken, das frische Grün duftete, und sie hatten zu dieser Tageszeit den ganzen Wald für sich.

Sylvias Anruf hatte ihn nicht wirklich verwundert. Seit dem Videoband war er darauf gefasst gewesen, dass sie ihre eigenen Pläne mit Peter Arntzen verfolgte, und sie hätte mit dem Geständnis keine zwei Tage länger warten dürfen. Mit solchen Komplikationen musste man rechnen, wenn man eine Frau ins Geschäft nahm, und Sylvias Wunsch war einfach hirnrissig.

»Schau mal, die Kripo ist nicht dumm. Die werden automatisch Peter Arntzen durchleuchten und darauf stoßen, dass er sich eine Freundin zugelegt hat. Eine angeblich verheiratete Kundin. Dann bist du dran, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und glaubst du, bei deiner aktenkundigen Vergangenheit hättest du eine Chance, aus der Mühle herauszukommen?«

»Kaum«, sagte sie trotzig.

»Als Erstes werden sie Arntzen fragen, ob er gewusst hat, dass seine Freundin in Wahrheit anders heißt, gar nicht verheiratet ist und wegen Betrugs schon einmal vor Gericht gestanden hat. Bist du wirklich überzeugt, dass er dann noch zu dir hält?«

»Kaum«, wiederholte sie, jetzt traurig.

»Also musst du jetzt abspringen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Sie lief stumm neben ihm her, und auch der Doktor schwieg. Was gesagt werden musste, hatte er vorgebracht, und er war klug genug, nicht zu drängen, sondern abzuwarten, bis sie selbst den richtigen Entschluss traf. Mitleid wäre ein zu großes Wort, aber er verstand schon, dass sie litt, dass es ihr schwerfiel, das Unvermeidliche zu tun. Ein anderer Boss hätte nur darauf bestanden, dass sie sich an die Vereinbarungen hielt, notfalls mit >Konsequenzen< gedroht, aber bei Frauen konnte man nie wissen. Frauen brachten es fertig, um der sogenannten Liebe willen alles zu verraten, sich selbst hinter Gitter zu bringen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass Sylvia ihre Beziehung ausgerechnet wegen dieses Mannes beenden wollte, und der Gedanke, er könne sie zehn Jahre lang so falsch eingeschätzt haben, bereitete ihm Sorge. Über seine eigenen Gefühle würde er sich später Rechenschaft ablegen. Er mochte sie, ja, er hatte sich an sie gewöhnt und würde sie vermissen, aber das Wort »Liebe« hatte er nie ausgesprochen, und jetzt verbot es sich ohnehin.

»Ich mach dir einen Vorschlag. Der ist mit Achim vereinbart. Er erscheint noch einmal mit dir im Juweliergeschäft und erzählt dem Arntzen, dass er Hals über Kopf eine längere Dienstreise antreten muss. Und dich nimmt er mit, das hat er bei seiner Firma durchgesetzt. Für sechs Monate. Du hast dann noch einen Abend, dich von Peter zu verabschieden und ihm meinetwegen ewige Treue zu schwören. In den sechs Monaten Ausland willst du auch mit deinem Mann über die Scheidung reden. Okay?«

»Ich weiß nicht ...«

»Wenn du zurückkommst, liegt der Einbruch fünf Monate zurück. Vielleicht hat die Kripo bis dahin die Ermittlungen eingestellt. In der Zwischenzeit besorg ich dir die nötigen Papiere, das braucht ohnehin Zeit. Einverstanden?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Allerdings habe ich eine Bedingung. Wenn Achim mit dir in dem Juweliergeschäft aufkreuzt, lässt du die beiden Männer unbedingt allein reden. Ist das klar? Ich will auf keinen Fall, dass Arntzen den altmodischen Ritter spielt und Achim erklärt, dass er dich liebt und ihn deswegen um die Scheidung bitten wolle. Achim weiß, wie man so etwas abbiegt, aber dir traue ich in diesem Punkt jetzt nicht mehr so recht. Kapiert?«

»Ja«, gehorchte sie und fügte nach einer Pause kläglich hinzu: »Danke, Michael.« Schon einmal hatte sie »danke« sagen müssen, als er sie vor Jahren mit einem waghalsigen Manöver vor einer Verurteilung rettete, mit einem Manöver, das sich nur ein Rechts- und Gerichtskundiger ausdenken konnte, das so viele Risiken barg, dass er nicht einmal ihren Anwalt eingeweiht hatte. Und sie zweifelte keine Sekunde daran, dass der Doktor sie verpfeifen würde, bei der Polizei und vor allem bei Peter Arntzen, wenn sie ihren neuen Freund vor dem großen Bruch warnen sollte. Was der Doktor jetzt für sie zu tun bereit war, hatte sie nicht erwartet, denn seine Härte, seine Unerbittlichkeit, wenn es nottat, kannte sie besser als selbst der Sachse. Seine Kreise ließ er nicht stören, und vor ihrer Fahrt nach Langenberg hatte sie sich immer wieder an der Überlegung festgeklammert, dass der Doktor es nicht wagen würde, sie zu beseitigen und Arntzen so aufzuschrecken, dass er sie bei der Polizei als vermisst meldete.

Den Rest des Weges liefen sie wortlos nebeneinander her, und als sie seinen Wagen wieder erreicht hatten, schloss er ihr die Beifahrertür auf, blieb dann in Gedanken versunken stehen und öffnete den Verschluss der Armbanduhr, die er in seine Jackentasche gleiten ließ. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen, und ihr blieb für eine lange Sekunde das Herz stehen, weil sie begriff, dass sie nicht mehr zurückkonnte.

*



CHRISTINE SEIDEL LACHTE laut und schadenfroh los, und Möller musste sich bei dem schrecklichen Geräusch die Ohren zuhalten, weil sonst sein Kopf explodiert wäre. Das Dienstzimmer schwankte wie ein Schiff in schwerem Seegang.

»Hör auf!«, bat er heiser.

»Was ist denn mit dir passiert?«

»Später, alles später. Oh mein Gott, hoffentlich überlebe ich den heutigen Tag.«

Nach mehreren Tabletten, zwei Litern Sprudel und kaum weniger Kaffee lichtete sich der Nebel. Die Hauptmeisterin hatte ihr weiches Herz nicht verleugnet und Rollmöpse, Gurken und Zwieback mit Schmalz und Salz besorgt. Gegen Mittag schien die akute Lebensgefahr gebannt. Natürlich hatte alles mit diesem Arsch am Kiosk begonnen, der rumnuschelte, Flachmänner hab ich nich mehr, müssen Se schon 'ne ganze Pulle nehmen, was Eisentraut als exzellente Idee begrüßt hatte. »Konnte ich wissen, dass der Kerl einen Magen aus Eisen und eine Leber aus Stahl besitzt?«

»Doch, konntest du«, widersprach sie. »Bauamt, fängt mit B wie Bier an. Bei einem ordentlichen Neubau wächst der Bierkastenstapel so schnell wie der Rohbau.«

Ihre Weisheit verbreitete sie zu spät. »Wir haben also zur finalen Landung angesetzt ...«

»Was habt ihr gemacht?«, unterbrach sie entgeistert.

»Absturz.« Vom Bauamt in eine Kneipe, bis den anderen Gästen ihr Gesang nicht gefiel, dann weiter in die nächste Pinte, und dort musste den Wirt ein Geistesblitz erhellt haben. Das grüne Taxi erschien.

»Bin ich heute blöd? Grünes Taxi?«

»Streife.« Er musste rülpsen, dieses Sodbrennen signalisierte doch nicht etwa altersbedingte Schwäche? »Nette Kerle, haben uns nach Hause gebracht. Kostenlos. Doch, wirklich hilfreich.« Sie tippte sich an die Stirn.

Abgesehen von der Rechtfertigung, sich quasi dienstlich zu besaufen, hatte der Abend nichts gebracht. Keine Zeichnung, kein Detailplan enthielt einen Hinweis auf eine besonders leichte Einbruchsmöglichkeit, und Eisentraut hatte ihm wenig Hoffnungen gemacht, die Häuser zu den Plänen zu finden, wenn es den Laborfritzen nicht gelang, die weggeschabten Schriftzüge wieder hervorzuzaubern. Und das bezweifelte Möller stark.

Sie zuckte ärgerlich die Achseln. »Bulle hat sich einen Plan vom Dachboden geholt, und der ist verschwunden. Wenn er was plant oder geplant hat, dann finden wir in dem Rest ohnehin keinen Anhaltspunkt.«

Dieser Gedanke war ihm auch schon gekommen. Aber er wollte nichts unversucht lassen, und sie stimmte giftig zu: »Eben! Keinen Schnaps, kein Bier ...«

»Halt die Klappe!«, murrte er. »Bist du denn weitergekommen als ich, du abstinente Christine?«

Sie seufzte und verneinte. Bis jetzt klafften überall noch Lücken. Arbeitsamt, Krankenkasse, Meldeämter - nirgendwo ließ sich ein vollständiger Lebenslauf rekonstruieren. Was schließlich auch nicht anders zu erwarten war. In den fünfziger Jahren hatte Bulle zum ersten Mal gesessen. Damals herrschte zwar im Baugewerbe Hochkonjunktur, aber es gab noch genug Arbeitslose, die nur auf einen Job warteten, und ein Vorbestrafter musste wahrscheinlich froh sein, wenn er irgendwo schwarz beschäftigt wurde, Lohn bar auf die Hand, die Sozialabgaben gespart. Bulle hatte noch Rentenversicherungsmarken geklebt, die Hefte auch später eingereicht, als das System auf direkte Überweisung umgestellt wurde. Aber der einzige Nachweis, wo überall er malocht hatte, das früher übliche Arbeitsbuch, war verschwunden.

»Weißt du, wenn ich ehrlich sein soll - verrennen wir uns nicht in die Idee, er habe einen neuen Bruch geplant?«

Das war gut möglich, Möller wollte es nicht bestreiten. Aber dann blieb immer noch der Strick um das Bein der Leiche. Bulle war eines natürlichen Todes gestorben, und jemand wollte nicht, dass sein Tod bemerkt wurde. Dünn, zugegeben, aber er hatte schon auf einen dünneren Verdacht hin ermittelt.

»Was machen Bulles frühere Kumpel?«

»Wenig. Die alle aufzutreiben, ist eine Lebensaufgabe, Chef. Aber ich habe mir erlaubt, auch eine Idee zu haben.«

»Soso!«

»Ich bin in Werl gewesen und habe mir eine Liste derjenigen besorgt, mit denen Bulle eine Zelle geteilt hat. Vielleicht hat er denen was anvertraut oder einer von denen hat ihm nach der Haft einen Job verschafft ...«

»Eine zweite Lebensaufgabe, Chris.«

»Von wegen.« Die Rollmöpse, die sie bezahlt hatte, waren noch nicht verdaut, und schon markierte Möller wieder das Vorgesetzten-Ekel. »Erstens heiße ich Christine, und zweitens habe ich mich an deinen Rat gehalten.«

»Häh?«

»Du hast unterstellt, dass Bulle, weil er kein Auto hatte, öffentliche Verkehrsmittel benutzen musste, wenn er zu seinem Job ging. So, und zwei Zellengenossen leben nun in einem Kreis mit zehn Kilometer Radius um Mutter Krauses Wohnung herum.«

Seidel strahlte, und er war zu groggy, sich gegen soviel Aktivität zu wehren.

*



SINA KAUFTE SICH FLACHE Schuhe und behandelte abends ihre Blasen. Seit Tagen lief sie durch die Innenstadt, vom Hauptbahnhof bis zum Berliner Platz, kreuz und quer, und starrte die Passanten an. Hagen hatte sie auf Tom geschickt: »Der Sachse soll sich um die Hauptpost herumtreiben.«

Sie wagte nicht, eine Frage zu stellen, sondern nickte rasch. Wenn Hagen einen Tipp bekommen haben sollte, würde er es ihr nicht verraten; sie fürchtete ihn eigentlich von Tag zu Tag mehr. Einmal hatte er vor sich hin gemurmelt, während er in seine Hosen stieg: »Der Doktor wird sich wundern.«

»Bist du krank?«, platzte sie heraus, und er drehte sich so wild zu ihr herum, dass sie instinktiv die Arme vor das Gesicht legte; seinen Jähzorn kannte sie mittlerweile. Im letzten Moment fing er sich: »Es gibt auch andere Doktoren«, knirschte er mit den Zähnen, und auf ihren langen Spaziergängen durch die Innenstadt legte sie sich zurecht, dass dieser »Doktor« etwas mit dem Sachsen zu tun haben musste.

Immerhin zahlte Hagen regelmäßig, und wenn sie in einem Café saß, weil die Füße schmerzten, beobachtete sie die Bedienungen. Ein harter Job, zweifellos, aber vielleicht doch besser als ihre Tätigkeit in der Canalistraße.

*



CHRISTINE SEIDEL RIEB sich mehrfach die Augen, als träume sie. Aber sie irrte nicht, es war so, nicht ein Mensch war zu Herrmann Stiers Beerdigung gekommen, weder Mutter Krause noch seine Schwester. Kein Kranz, kein Blumenstrauß. Kein Pfarrer, kein Gebet. So wurde ein Hund verscharrt! Der Mann vom Beerdigungsinstitut wartete genau zwei Minuten, dann winkte er den vier Trägern zu, die den Sarg auf den Karren wuchteten, als handele es sich um Sand und Zement. Im Eiltempo rasten sie auf das Gräberfeld zu; sie hatte Mühe, ihnen zu folgen, und während sie nach Luft schnappte, legte sich ihre Empörung. Je schneller der Sarg in der Grube lag, desto größer die Pause für die Träger. Was war daran verwerflich?

Aus zwanzig Meter Entfernung schaute die Kriminalbeamtin zu; die Männer hatten Übung, der Sarg landete mit einem dumpfen Poltern auf dem Grund der Grube, wenigstens einer verbeugte sich kurz in Richtung des Toten. Zwei Männer mit Spaten traten heran und begannen eilig, die seitlich aufgehäufte Erde in das Loch zu schaufeln. Möller hatte sie gewarnt, und sie ärgerte sich, dass er recht behalten hatte. Als Christine an das Grab trat, unterbrachen die beiden Männer ihre Arbeit.

»Guten Tag«, radebrechte der eine. »Wir nicht graben?«

Traurig schüttelte sie den Kopf und drehte sich weg. Die scheußliche Wasserleiche hatte sie sich ohne große Bewegung ansehen können. Die Beerdigung wühlte sie auf.

Möller wartete schon auf sie in der Mülheimer Straße, und weil sie seinem neugierigen Blick hartnäckig auswich, verzichtete er auf Fragen. Klaus Junghans wohnte im dritten Stock, eine dicke Frau in Schürze und Pantoffeln öffnete.

»Was wollen Sie?«, schnauzte sie los. Aus der Wohnung quoll der Geruch nach gekochtem Fisch wie eine Narkose-Wolke hervor.

»Mit Ihrem Sohn sprechen!« Möller antwortete grob, er musste sich nicht vorstellen, diese Frau hatte ihn sofort als Polizisten erkannt.

»Er hat nichts getan!«, kreischte sie los.

»Wenn wir hier nicht mit ihm reden können, holen wir ihn aufs nächste Revier. Was ist Ihnen lieber?«

»Scheißbullen! Euch hätte man alle abtreiben sollen!«

Irgendetwas zersprang in der Kriminalbeamtin mit einem unhörbaren Knacks. Erst Bulles Beerdigung, dann dieses widerliche Weib: »Sie hat man auch künstlich befruchtet, was?« Möller blieb der Mund offen stehen. »Oder kannst du dir vorstellen, dass sich jemals ein richtiger Mann auf diesem Haufen Dreck gewälzt hat?«

Sekunden lag etwas in der Luft, Gebrüll oder Gewalt, es war ihr egal, Christine Seidel wusste nicht, dass sie vor Hass die Zähne fletschte, aber die Dicke kapierte instinktiv, was ihr drohte.

»Er ist in seinem Zimmer«, quetschte sie heraus und verzog sich so hastig, dass die Halbstrümpfe rutschten und ihre Krampfadern bloßlegten. Möller kam erst zu sich, als die Küchentür ins Schloss krachte. Er machte den Mund auf, aber seine Kollegin rammte ihm den Ellbogen in die Seite: »Ein Wort, und ich werde wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt.«

Junghans stand im Zimmer und starrte ihnen entgegen, als solle er ohne Betäubung kastriert werden. Die Monate außerhalb des Knasts hatten ihm nicht gut getan. Sein Bierbauch hing über dem Gummizug der schmutzigen Trainingshose, das Unterhemd war seit zwei, er seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Wenigstens überdeckte es den Fischgeruch.

»Waaas ... was wollen Sie von mir?«

Wie hatte der flotte Inspektor in Werl ihn genannt? Einen Pechvogel, ach, das war eine milde Umschreibung für dieses geistesschwache Riesenbaby. Möller angelte sich den einzigen Stuhl, holte in aller Seelenruhe seine Zigaretten hervor und zündete sich umständlich eine an, wobei er Junghans keine Sekunde aus den Augen ließ. Auch Seidel musterte den Dicken ausdruckslos, verzog dann nach einem Blick durch das Zimmer angeekelt den Mund und stolzierte ans Fenster.

»Du hast mit einem Herrmann Stier in Werl in einer Zelle gelegen.«

Junghans blubberte vor Aufregung. »Mit Bulle, ja, ja ...«

»Wann habt ihr euch zum letzten Mal gesehen?«

»Ich? Den Bulle?«

»Mein Gott, lispele ich? Oder hast du so viel Dreck in den Ohren?«

»Ich ... ich ... mit dem Bulle? Wann ich ...?«

»Entweder kriegst du jetzt die Kiemen auseinander, oder ich nehm dich mit aufs Revier. Jemand hat dem Bullen ein Gewicht ans Bein gebunden und ihn in den Rhein geworfen.«

»Ich ... in den ... den Rhein - aber ...« Die Schweißtropfen liefen über sein erhitztes Gesicht, mit offenem Mund keuchte er. »Hab Bulle nie mehr gesehen, nie mehr, nie, nach dem ... dem Kahn ...«

»Wo hat Bulle gewohnt?«

»Wo ... wo ... wo er ...?«

Zur selben Sekunde gaben sie es auf. Wenn Junghans nicht so blöd war, wie er sich präsentierte, verdiente er Orden und Freispruch für eine hervorragende schauspielerische Leistung. Aber in Wirklichkeit war er ein schwachsinniges Würstchen, mit dem sich kein normaler Mensch einlassen würde, der etwas Kriminelles plante. Wortlos verließen die Beamten das Zimmer, die Küchentür stand einen Spalt offen, sie spürten das Auge förmlich auf ihren Rücken, aber die Dicke riss sich zusammen, bis sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gedonnert hatten.

Erst kurz vor ihrem anderen Ziel mahnte Möller beiläufig: »Deine Beleidigung war schon richtig, Risti, aber in Zukunft denk daran, dass du nicht immer einen Begleiter hast, der dich schützen kann.«

»Wie hast du mich eben genannt?«

»Risti. Christine ist mir zu lang, Chris oder Tine magst du nicht leiden, also habe ich mir etwas Neues ausgedacht.«

»Hm.« Sie sollte einmal ausprobieren, ob sie mit diesem Namen leben konnte.

Hagen zwinkerte, aber nur einmal, dann setzte der Verstand wieder ein: Das eindeutig nicht professionelle, hübsche Kind vor seiner Wohnungstür war leider eine Polizistin. Und der Knabe, der hinter ihr die Treppe heraufstieg, sogar ein Oberbulle. Ein Pärchen - das kündigte Ärger an.

»Herr Hagen?«, fragte Möller gleichmütig. »Mein Name ist Möller, Kriminalpolizei. Das ist meine Kollegin Seidel. Können wir Sie einen Moment sprechen?«

»Mir wird kaum etwas anderes übrig bleiben«, erwiderte Hagen trocken. »Kommen Sie herein!«

Die Wohnung war groß, für einen Junggesellen sogar sehr groß, aber spärlich möbliert. Die wenigen Stücke verrieten, dass der Besitzer mehr Wert auf demonstrativ teure als geschmackvolle Sachen legte.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich sitze noch beim Frühstück.«

»Den Kaffee nehmen wir gerne an, und die Störung tut uns leid«, sagte Möller ruhig. »Wir werden Sie auch nicht lange aufhalten.«

»Ich habe Zeit.«

»Herr Hagen, Sie haben in Werl ein halbes Jahr lang mit einem Herrmann Stier in einer Zelle gelegen.«

»Mit Bulle, ja.« Hagens Gedanken rasten. Konnte er leugnen - nein, zu viele hatten Bulle im Billardkeller getroffen, und dann waren da noch Rudi und diese Sina ...

»Sind Sie nach Ihrer Entlassung noch einmal mit Bulle zusammengekommen? Oder haben Sie ihn gesprochen, gesehen?«

»Fast täglich.« Hagen stöhnte, aber was half s jetzt? »Er kam zu mir, er brauchte einen leichten Job.«

»Was meinen Sie mit einem >leichten< Job?«

»Er war schwer magenkrank, das wissen Sie doch sicher aus den Anstaltsakten. Und mit seinem Herz war auch nicht mehr viel los. Außerdem kurzatmig, und dann noch Schmerzen in den Gelenken, nee, gesundheitlich war er eine ziemliche Ruine.«

Seidel holte einen Block aus der Handtasche und begann zu stenographieren, was Hagen einen Moment ablenkte.

»Vor allem hatte er eine panische Angst vorm Knast. Auf keinen Fall wieder in den Bau, das wäre für ihn eine Art Todesurteil - so hat er sich ausgedrückt.«

»Und? Hatten Sie einen Job für ihn?«

»Ja.« Hagen brummte. »Ich hab in der Canalistraße einen Automatensalon. Mit einem Billardkeller, das war genau das Richtige für Bulle.«

»Moment! Sie haben eben gesagt, er sei schwach ...«

»Nein, nein, natürlich habe ich für die Spielautomaten einen Assistenten ...«

»Einen Rausschmeißer!«, verbesserte Möller skeptisch.

»Sicher. Sie wissen doch, wie's in diesem Gewerbe zugeht. Rudi heißt er, hat wenig im Kopf und viel im Bizeps. Frauen und kleine Jungs laufen vor ihm weg, da war Bulle genau der Richtige, älter und nicht ... nicht «

»Bedrohlich«, half Seidel spöttisch aus, worauf Hagen nach kurzem Zögern nickte.

»Bulle hat also im Billardkeller gearbeitet«, sagte Möller nachdenklich.

»Ja, jeden Tag bis zum Schluss. Und was soll ich Ihnen sagen: Er hat den Laden auf Vordermann gebracht, sauber gehalten, keinen Streit geduldet, Getränke und Brote verkauft, ob Sie's glauben oder nicht, der Keller war auf dem besten Weg, eine Goldgrube zu werden.«

»Sie waren also zufrieden mit ihm?«

»Und wie!« Hagen blieb wachsam.

»Bis Bulle eines Tages wegblieb.«

»Ja, ohne jede Ankündigung. Er kam einfach nicht. Na ja, zuerst hab ich gedacht, er ist krank ...«

»Haben Sie ihn nicht angerufen?«

»Nee!« Hagen zog den Kopf ein. »Ich wusste nicht, wo er wohnt, das hat er nicht verraten wollen. Keine Anschrift, keine Telefonnummer.«

»Merkwürdig«, meinte Möller unfreundlich, und Hagen holte tief Luft: »Verdammt, Herr Kommissar, nun stellen Sie sich nicht so an! Natürlich ging das alles ohne Steuerkarte. Nix Sozialversicherung oder Krankenkasse. Bar auf die Hand, und wenn Bulle nicht wollte, dass ich spitz kriegte, wo er untergekrochen war, okay, dann war das seine Sache. Wir haben uns nicht im Priesterseminar kennengelernt.«

Christine lachte vergnügt über den letzten Satz, und Möller funkelte sie ärgerlich an, bevor er sich wieder an Hagen wandte: »Wann haben Sie Bulle zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

»Moment!« Hagen verließ den Raum und kam mit einem Ringbuch zurück. »Das war am Mittwoch, 31. Januar. Gegen Mitternacht nehme ich immer den größten Teil der Tageseinnahmen aus der Kasse, Bulle hat mir einen Zettel gegeben, was ich besorgen sollte, na, und dann haben wir ein paar Worte gewechselt, das war's dann auch schon.«

»Genau so ist es am 31. Januar abgelaufen?«

»Ja. Rudi hat Bulle immer mitgenommen und an der Fritzenbrücke rausgelassen. Er meinte, Bulle wohnte in der Nähe der Hütte.«

»Aber Rudis Anschrift haben Sie doch?«

»Ja, Emscherweg 114. Nach hinten raus. Rudi Kotowski.«

»Na schön, Herr Hagen, das wär's vorerst mal.« Möller musste niesen. »Aber ich hätte mir an Ihrer Stelle etwas mehr Sorgen über Bulle gemacht.«

Hagen musterte ihn düster, bevor er Christine Seidel anlächelte und zeigte, dass er Charme und Selbstbewusstsein besaß: »Sie sind auch nicht vorbestraft und haben ein etwas anderes Verhältnis zur Polizei.«

Darauf wusste Möller nichts zu erwidern, aber Christine schnaufte ärgerlich: »Lesen Sie keine Zeitungen? Da stand doch drin, dass ein Herrmann Stier tot aus dem Rhein gefischt worden ist.«

»Sicher, man hat's mir später erzählt. Laden Sie sich freiwillig Schwierigkeiten auf?«

Den forschenden, unfreundlichen Blicken der beiden hielt er ungerührt stand. Was er wirklich überlegte, konnten sie ihm nicht ansehen. Die Mordkommission befasste sich mit diesem Todesfall - diese kleine Nutte hatte ganz recht, es wurde höchste Zeit, dass er sich mal mit dem Sachsen unterhielt.

Im Auto falteten sie den Stadtplan auf. Von der Fritzenbrücke über die Eisenbahn hatte Bulle eine Viertelstunde, zwanzig Minuten bis zu Mutter Krauses Haus zu laufen. Nach Stunden in einem verqualmten Keller vielleicht eine willkommene Erholung. Und weit genug, dass Rudi nicht durch Zufall mitbekam, wo Bulle hauste. Nein, das klang logisch.

Rudi Kotowski war zu Hause. Auf dem düsteren Hinterhof bastelte er an einem uralten Motorrad herum, das er in seine Einzelteile zerlegt hatte. Ein junges, mageres Mädchen in Jeans und Lederjacke sah ihm zu, verzog sich aber unauffällig, als sie in den Hof einbogen. Auch Rudi hatte Möller und Christine Seidel auf den ersten Blick als Polizisten erkannt, seine finstere Miene mochte viel verdecken, aber als Möller erklärte, sie kämen gerade von Hagen, entspannte er sich ein wenig und bekam die Zähne auseinander.

Ja, es war genau so, wie Hagen erzählt hatte. Zum Dienst fuhr Bulle wohl mit dem Bus oder der Straßenbahn, nachts nahm Rudi ihn mit und ließ ihn an der Fritzenbrücke raus, weil Bulle noch etwas frische Luft haben wollte - hatte er immer gesagt. Nee, also dass er ein Freund von dem komischen Alten gewesen wäre - nee, das also nun nicht. Aber Hagen hatte befohlen, dass Rudi keinen Ärger machen sollte, und Hagen war der Boss. Ja, zuletzt war der Billardkeller gut besucht gewesen, doch, das stimmte. Und der Alte achtete schon darauf, dass es weder bei den Spielautomaten noch im Keller Knatsch gab, war wohl ein bisschen ängstlich geworden. Also, sein Fall war dieser Bulle nicht, aber man konnte ihn ertragen. Und mit den Trinkgeldern - da war er sogar ganz passabel.

»Welche Trinkgelder meinen Sie?«

Rudi erklärte die Aufteilung der Trinkgelder, die Bulle eingenommen hatte, und fügte großmütig hinzu: »Doch, war anständig von ihm.«

»Als Sie Bulle am Mittwoch - oder in der Nacht zum Donnerstag - absetzten: War da irgendwas Besonderes los? War er krank? Hat er gesagt, er würde ein paar Tage wegbleiben? Gab's Ärger mit einem Besucher oder so etwas?«

»Nee, nee.« Rudi schüttelte ratlos den Kopf und wischte sich die ölverklebten Hände an der Hose ab. »Kann mich nicht erinnern, es war alles so wie immer.«

Möller überlegte, aber ihm fiel nichts mehr ein. »Na, dann haben wir's ja wohl.«

»Tschüss!«, knurrte Rudi und bückte sich nach seinem Motorrad.

Rudis Aussage hatte nicht viel Licht in die Sache gebracht. Mutter Krause konnte nicht sagen, ob und wann ihr Untermieter Herrmann Stier nach Hause gekommen war. Sie vermisste ihn zum ersten Mal am Donnerstag, also am 1. Februar, gegen Mittag, als er nicht zu seinem späten Frühstück erschienen war. Aber sie hatte auch nicht gewagt, in sein Zimmer zu schauen. Vielleicht war er schon wieder weggegangen; sie hatte am Morgen - da schlief er sonst noch - eingekauft und sich überall Zeit zu einem Schwätzchen gelassen. Doch er versäumte auch das späte Mittag- oder frühe Abendessen, und da hatte sie an seine Tür geklopft. Ohne Antwort.

Nach dem erstaunlichen Obduktionsbefund mussten sie davon ausgehen, dass Bulle eines natürlichen Todes gestorben war. Otto Fröhlich und seine Kollegin Miriam hatten bei allen Ärzten rund um Mutter Krauses Wohnung nachgefragt, ob ein unbekannter Mann nachts medizinische Hilfe gesucht hatte. Ohne Ergebnis. Auch die Krankenhäuser hatten keinen Patienten in der Ambulanz behandelt, auf den Bulles Beschreibung zutraf. Polizei, Feuerwehr, Krankentransporte - nirgendwo war ein Notruf eingegangen. Wenn Rudi wie immer gegen 2.15 Uhr vom Kleeblatt in der Canalistraße fortgefahren war, hatte er etwa fünfzehn Minuten bis zur Fritzenbrücke gebraucht. Etwa 2.30 Uhr. Gegen 2.45 Uhr oder wenige Minuten später hätte Bulle normalerweise Mutter Krauses Wohnung betreten müssen. Oder war er auf dem Weg einem Bekannten begegnet? In dessen Gegenwart er später starb und der gute oder auch schlechte Gründe hatte, den Verstorbenen mittels Gewicht im Rhein zu versenken? Sie besaßen immer noch keinen Hinweis auf den Ort, an dem der Unbekannte die Leiche in den Fluss geworfen hatte; die Leute vom Wasserwirtschaftsamt meinten achselzuckend, es könne bei der Wasserführung durchaus oberhalb Duisburgs geschehen sein. Eine großartige Hilfe, diese präzisen Auskünfte.

»Und was jetzt?«

Möller grunzte. »Zurück ins Präsidium.«


Killerhof 3 Krimis

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