Читать книгу Krimi Doppelband 2220 - Alfred Bekker - Страница 12
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ОглавлениеAm nächsten Morgen wartete Maria Schwaiger mit einer echten Überraschung auf ihn. Er kam bereits mit einem irgendwie unguten Gefühl in das Amtsgebäude. Die Nacht hatte er bei seiner Gattin verbracht. Daran konnte es also nicht liegen. Jedoch je näher er dem Amtsgebäude kam, umso mehr verstärkte sich in ihm das Gefühl des Unbehagens, als erwarte ihn auch heute wieder ein unerwarteter Besuch.
Aber das war es diesmal nicht.
Auf seinem Platz an dem Schreibtisch fiel ihm gleich ein schwerer Motorrad-Helm und eine robust aussehende Biker-Lederjacke ins Auge, beide in neutralem Schwarz gehalten, ohne irgendwelche angebrachte Embleme oder andere individuelle Erkennungszeichen.
„Haben wir wieder Besuch?“, rief er und hoffte, dass jemand seinen Ruf durch die offen stehende Tür vernommen hatte und ihm Antwort geben konnte.
„Maria kommt gleich“, rief eine männliche Stimme. Der Besitzer der Stimme machte sich aber nicht die Mühe, sich zu erkennen zu geben oder gar seinen Kopf im Türausschnitt erscheinen zu lassen.
Hanns Ursprunger seufzte ergeben und machte sich dennoch auf den Weg in den Gang. Zumindest wollte er einen Blick nach links und rechts riskieren, ob er hier jemanden erspähte, der ihm nähere Auskunft geben konnte.
Es war Sonntag. Der dritte Tag des Seefestes in Mondsee. Von Wochenend-Dienst keine Spur. Die Mannschaft war vollzählig vertreten.
Der Himmel wolkenlos und bereits in den frühen Morgenstunden in einem tiefen Blau strahlend. Was konnte es besser für den Veranstalter geben?
Für die Exekutive ein Tag, an dem sich die Schweißbildung nicht gerade zurückhalten würde, denn die Temperaturen näherten sich bereits jetzt in den Morgenstunden wieder eigentlich unnatürlichen Höchstwerten. Der Klimawandel machte sich bemerkbar. Wie lange war es her, als er gescherzt hatte, dass er sich wenigstens die Winterreifen ersparen könnte, wenn es so weiter ging. Wenn er jetzt darüber nachdachte, kam ihm sein Scherz nicht mehr lustig vor. Er betrachtete die dicke Lederjacke. Allein schon bei der Vorstellung, sie überziehen zu müssen, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Ihm war jetzt schon warm genug, obwohl er sich mit einem zwar modischen, aber dennoch luftigen Leinenhemd als Oberkleidung begnügte. Dazu trug er auch heute eine grün leuchtende Sommerhose, die ihn schon von aller Weite als Tourist bzw. als Besucher des Seefestes kenntlich machen sollte. Er wollte in der Masse untertauchen.
Dann kam Maria. Sie trug Leder.
Sie war bereits in ihr Motorrad-Outfit gewandet.
Hanns pfiff unwillkürlich durch die Vorderzähne bei geschlossenem Mund und sah ihr irgendwie bewundernd entgegen. Auch Maria lächelte ihm entgegen und war sichtlich erfreut, dass ihre Überraschung gelungen war. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
„Du siehst aus wie eine echte Rocker-Braut“, stellte er wohlwollend fest.
Die Motorradkluft stand ihr gut, musste er bei sich zugeben. Die Kleidung war zwar alles andere als figurbetont, ließ aber viel Spielraum über für die Vorstellung, wer in dieser Kluft steckte.
„Auf eine unechte Braut fällt niemand herein“, sagte sie. „Heute müssen wir mobil sein!“, setzte sie hinzu. „Da es eigentlich mein freier Tag ist und ich mich auf einen Ausflug gefreut habe, dachte ich mir, ich verbinde beides miteinander.“
„Aha“, bemerkte Ursprunger, „und deshalb hast du mich gleich zur Biker-Crew versetzt.“
„Ich nehme dich auf dem Sozius mit, wenn du keine Angst hast. Äh, kannst du mit einem Motorrad fahren?“
„Ich bevorzuge vier Räder unter meinem Hintern, wenn ich ehrlich bin. Das ist bequemer.“
„Dachte ich mir fast, deshalb habe ich dir Helme und Jacke mitgebracht.“
„Du willst auf einem Bike …?“
„Schau nicht so entsetzt! Tausende fahren damit. Ich hätte dich gar nicht für so einen Angsthasen gehalten.“
„Bin ich nicht …“
„Oder ist es, weil ich Frau bin?“
„Mitnichten. Ich bin kein Macho. Äh, seit wann fährst du eigentlich Motorrad?“
„Seit ich kleines Kind bin. Mein Vater hat mich schon immer mitgenommen.“
„Als kleines Kind schon?“
„Stell dich nicht lächerlich. Mit 12 oder 13 Jahren. Damals hat es mir riesigen Spaß gemacht. Als ich 18 wurde, habe ich natürlich den A-Schein für Motorräder gemacht.“
„Und jetzt fährst du eine schwere Polizeimaschine“, stellte Hanns Ursprunger fest.
„Für heute habe ich meine Privatmaschine mitgebracht. Die hat kein Polizeitaferl. Wir wollen ja nicht gleich von allen als Bullen erkannt werden.“
Hanns Ursprunger ergab sich in sein Schicksal.
„Wohin geht es eigentlich?“
„Zuerst nach Unterach. Matthias Mahn stammt von dort. Und dort soll er angeblich gut im Geschäft sein. Mag sein, dass wir etwas entdecken. Wully soll übrigens auch dort sein.“
„Eine sichere Spur hat sich aber noch nicht ergeben?“
„Holger hat uns geraten, den beiden auf der Spur zu bleiben. Wenn wir sie beschatten, führen sie uns vielleicht auf die richtige Fährte.“
„Du glaubst also auch, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit erzählt haben?“
„Das liegt doch auf der Hand. Die graben sich doch selbst nicht ihr eigenes Grab. Selbst Karl glaube ich nicht, dass er von Franz nichts gehört hat, wer in der Führungsriege in Mondsee sitzt. Jetzt sind sie vermutlich um Schadensbegrenzung bemüht. Und über jeden, den sie jetzt kontaktieren, müssen wir Bescheid wissen, denn das könnte unser Mörder sein.“
„Freut mich, dass unsere Ansichten soweit übereinstimmen“, meinte Hanns Ursprunger. „Wann willst du aufbrechen?“
„Ich bin jederzeit fertig. Wirft dich in die Klamotten, dann geht es ab!“
Mit gemischten Gefühlen schlüpfte Ursprunger in die dicke Motorradjacke. Als er sie aufnahm, bemerkte er auch die kompakten Handschuhe, die er ebenfalls überstreifte. Zum Schluss nahm er den Helm unter den Arm und folgte Maria auf den Parkplatz.
Marias Maschine war ein japanisches Modell. Herbert wollte gar nicht wissen, wie stark sie motorisiert war, auf jeden Fall wirkte sie recht kräftig.
Er setzte den Helm auf.
Das war einer der Gründe, weshalb er auf das Vergnügen, ein Zweirad zu bedienen, verzichtete. Der Helm vermittelte ihm stets ein Gefühl des Eingezwängtseins. Mit einem Wort, er fühlte sich nicht wohl. Maria sah ihm das anscheinend an.
„Du gewöhnst dich daran“, meinte sie nur und setzte sich auf die Maschine. Herbert stieg hinter ihr auf. Wohin mit seinen Händen? Außer Maria gab es nichts zum Festhalten.
„Halte dich an mir fest! Und beruhige dich!“, sagte sie, dann ließ sie den Motor aufheulen. Gleich darauf war er froh, dass er seine Hände um die Taille der Polizistin gelegt hatte, denn Maria legte die Maschine ziemlich schief, als sie eine erste Kurve aus dem Parkplatz nahm. Dann spürte er die Kraft der Maschine, als Maria das erste Mal richtig Gas gab. Er hegte den Verdacht, dass sie jetzt auf ihn besonders Rücksicht nahm – aber im negativen Sinn. Jede Kurve in Schieflage, heftiges Beschleunigen und Bremsen, dichtes Auffahren …
Der Vollvisierhelm nahm ihm den Fahrtwind. Aber gerade jetzt fühlte er den fast unwiderstehlichen Drang, ein Jucken auf seiner linken Wange zu beruhigen, indem er mit seinen Fingern für einen Gegenreiz sorgte. Das war jedoch nicht möglich.
Nach wenigen Minuten Fahrtzeit bog Maria auf die Uferstraße ein. Die Strecke Mondsee nach Unterach führte am Seeufer entlang. Hanns kannte die Strecke. Egal ob man sie links oder rechts des Sees entlang fuhr, eine Kurve reihte sich an die andere. Die Straße folgte dem natürlichen Ufer. Für manche Biker ein Traum zum schnellen Fahren, für Hanns ein Alptraum. Hoffentlich hielt sie sich ein wenig zurück. Glücklicherweise gab es eine 80er Beschränkung, aber Hanns war sich nicht sicher, ob sie diese Beschränkung einhielt.
Als ein Traktor sie etwas bremste, kam er das erste Mal dazu, einen Blick auf die Landschaft zu werfen, doch eine kurze Gerade voraus begrenzte diesen Blick auf wenige Sekunden. Dennoch, er nahm die zahlreichen weißen Segel wahr, die ein regelrechtes Muster auf den See warfen. Dann brauste Maria wieder regelrecht davon. Sie hielt maximal den Mindestabstand zu dem Traktor beim Überholen ein, ehe sie ihm womöglich zeigen wollte, was alles in der Maschine steckte. Hanns hätte es gar nicht so genau wissen wollten.
Sie ließen den Mondsee hinter sich. Gleich darauf breitete sich der Attersee vor ihnen aus. Der größte See Österreichs, der vollständig in Österreich lag. Ein Taucherparadies und ein El Dorado für die Reichen der Welt. Sowohl russische Oligarchen wie auch Berühmtheiten aus Film und Musik, Sport und Wirtschaft gaben sich hier ein Stelldichein.
Unterach, ihr erstes Ziel, war im Winter fast ein verschlafenes Dorf, im Sommer konnte man es als 25.Bezirk von Wien bezeichnen. Jahrelang war es Mode gewesen, seine Sommerfrische an einem der Seen im Salzkammergut zu verbringen. Kaiser Franz Joseph hatte zu diesem Zweck Bad Ischl erwählt. Die reichen Wiener wollten anscheinend auch im Sommer ihren Kaiser nicht missen und suchten sich die Ortschaften rund herum an den Seen für ihr Domizil aus. Nun gab es natürlich schon längst keinen Kaiser mehr, aber einmal erworbener Besitz wollte natürlich nach wie vor besucht werden. Der Ort quirlte vor Geschäftigkeit.
Maria lenkte ihre Maschine bis zum Seebad. Mit viel Glück fand sie eine Stelle, an der sie ihre Maschine abstellen konnte. Hanns fühlte sie sich wie nach einer langen Seereise. Er war froh, sicher auf beiden Beinen zu stehen und einen festen, nicht schwankenden Untergrund zu fühlen.
Maria nahm ihren Helm und schüttelte ihre Haare aus. Diesmal hatte sie darauf verzichtet, ihre blonde Haarpracht zu einem Pony zusammenzubinden.
„Du hast es überlebt“, stellte sie mit einem versteckten Lächeln fest. Irgendwie drückte es aber auch Anerkennung aus.
„Frage mich, wenn wir wieder in Mondsee sind! Immerhin müssen wir ja auch zurückfahren. Morgen darfst du wieder bei mir im Auto mitfahren.“
„Kommt darauf an, wohin wir müssen. Also, es gibt zwei Hotspots in Unterach. Die Jugend und die ewig Junggebliebenen treffen sich während der Woche mit Vorliebe in diesen beiden Lokalen, eines ist weiter draußen, und eines dieser Lokale ist direkt im Zentrum. Dorthin gehen wir jetzt.“
„In Mondsee ist Seefest-Wochenende. Sonntag. High-Life.“
„Es sind genügend Touristen da. Deswegen ist Unterach nicht ausgestorben. Kann sein, dass am Abend zum Feuerwerk etwas Flaute herrscht. Unsere Jungs sind jetzt in Mondsee ohnehin fehl am Platz. Da tummeln sich viel zu viele Familien mit ihren Kindern herum. Trotz der vielen Leute wagen sich auch die Drogen-Kunden nicht so gerne in die Öffentlichkeit. Zumindest wenn kein absoluter Notstand herrscht. Ich bin sicher, dass ihr Geschäft dort erst gegen Abend so richtig anläuft.“
„Und in Unterach soll es anders sein?“
„Sie können nicht überall gleichzeitig sein. Sie lassen sich sehen, verstehst du das? Wer Bedarf hat, spricht sie an. Das sind die Stammkunden, die sie bedienen. Die Laufkundschaft …, nun - Holger hat uns ja gestern erklärt, dass es da weitere Dealer gibt, die wir, da wir sie nicht kennen, nicht regelmäßig im Auge behalten können.“
Wenig später standen sie an der Schiffsanlegestelle. Am Attersee gab es einen regulären Bootsfahrdienst. Hier, an dieser Stelle, hatte es einst ein bekanntes Hotel und einen gutgehenden Gastronomiebetrieb gegeben. Der Betrieb hatte das Flair des letzten Jahrhunderts bewahrt, konnte davon aber vermutlich nicht überleben. Kurzum, das gesamte Gebäude war abgerissen wurde und das Gelände stand nun für eine neue Bebauung bereit.
Auf der anderen Seite der Anlegestelle, nicht weit entfernt, gab es ein Heurigenlokal, das nun die Bedürfnisse der Gäste zu befriedigen versuchte. Dort, im Gastgarten, fanden sie tatsächlich ihre beiden „Freunde“ Wully und Karl Reiter. Sie saßen an einem der länglichen Tische, die sechs Personen und mehr Platz boten. Alle Plätze waren besetzt. An dem Tisch ging es hoch her. Die lauten Stimmen, besonders Wully tat sich hervor und ein ihm gegenübersitzender junger Mann mit einer etwas ungepflegt aussehenden Löwenmähne, drangen deutlich bis zu ihnen, obwohl sich die beiden Gesetzeshüter in gebührlichem Abstand hielten, damit sie nicht sofort gesehen werden konnten. Ganz offensichtlich stritten die beiden Dealer über irgendetwas.
Nun begann der Teil der Arbeit, der manchmal mehr an seinen Nerven zehrte als irgendeine gefährliche Situation. Das Beobachten, auch Observieren genannt.
Sie fanden glücklicherweise eine Bank, die sie, wenn sie saßen, in die richtige Richtung schauen ließen. Zwar waren sie so weit weg, dass sie kein Wort verstanden, aber darum ging es ja eigentlich auch nicht. Dafür konnten sie mit gutem Gewissen annehmen, dass Wully sie auf diese Entfernung nicht entdeckte und sich unbeobachtet fühlte. Sie unterschieden sich in Nichts von irgendeinem anderen Touristenpärchen, das in der Sonne saß und es sich gut gehen ließ. Die anfängliche Streiterei, die zu vernehmen sie geglaubt hatten, war anscheinend beigelegt, denn die lauten Stimmen hatten sich beruhigt, dennoch herrschte eine hektische Aktivität an diesem Tisch. Ständig stand einer auf, fuchtelte mit seinen Armen, ehe er sich wieder niederließ.
„Mich würde doch interessieren, was dort los ist“, meinte Maria.
„Das können wir später immer noch erfahren. Warte erst einmal ab, wie sich alles entwickelt!“
„Wenn ich daran denke, dass sich auf meinem Schreibtisch der Papierkram stapelt …“
„Denk nicht daran! Freue dich, dass du zumindest eine Weile in der Sonne sitzen kannst! Auch das ist Arbeit. Der Papierkram läuft dir nicht weg.“
„Das bedeutet eine Nachtschicht. Ich sehe das schon kommen.“
„Du bist doch freigestellt, solange ich dich als ortskundige Führerin benötigte?“
„Von meinen Runden bin ich freigestellt“, bestätigte Maria, „aber der Rest …“
Eine gute Stunde tat sich nichts Auffälliges. Doch dann verstärkte sich wieder die Hektik. Auch die Stimmen wurden lauter.
„Mach dich bereit!“, sagte Ursprunger plötzlich. „Ihre Stimmen klingen schon ziemlich aggressiv!“ Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als einer an dem Tisch aufsprang, Wully wütend anfauchte und dann davonlief. Es dauerte keine Sekunde, bis Wully ebenfalls aufsprang und ihm hinterherlief. Er drängte sich rücksichtslos durch die Reihen der Gartentische und rempelte den einen und den anderen grob an, wenn sie ihm nicht genug Platz ließen. Er war sichtbar wütend.
„Los, hinterher!“, rief Ursprunger und spurtete ebenfalls los.
Dieser Aufforderung hätte es für Maria gar nicht bedurft, denn nahezu zeitgleich nahm auch sie die Verfolgung auf. Ursprunger als Ortsunkundiger nahm den gleichen Weg, den Wully und der andere genommen hatte. Dadurch blieb der Vorsprung der beiden gleich, denn Ursprunger musste ja auch den Weg von der Sitzbank bis zum Lokal zurücklegen. Er hoffte nur inständig, dass er sie nicht aus den Augen verlor.
Maria nahm einen kürzeren Weg. Dass sie kurz über Privatgrund laufen musste, störte sie nicht. Als sie um das Haus herumbog, sah sie die beiden vor sich.
Wully holte eindeutig auf. Er war der schnellere Läufer, das konnte selbst ein Laie relativ rasch erkennen. Der andere bekam das ebenfalls mit. Er lief jetzt auf der Hauptstraße, wohl in der Hoffnung, dass Wully ihm auf dieser belebten Straße nicht einfach angreifen würde. Schließlich erreichte er die Abzweigung zum Seebad. Wenn er es erreichte, konnte er sich rechts halten und versuchen, im öffentlichen Park irgendwo zwischen den zahlreichen Gästen unterzutauchen. In der anderen Richtung wäre seine Flucht unweigerlich an einem Zaun zu Ende gegangen. Seine Rechnung ging nicht ganz auf. Wully war bereits dicht hinter ihm. Das eingezäunte Seebadgelände hatte er bereits links hinter sich gelassen. Vor ihm erstreckte sich der Kinderspielplatz. Wully lief nun keine zwei Meter mehr hinter ihm.
Maria trennten noch sicherlich fünf Meter, und sie ihrerseits hatte zwei Meter Vorsprung vor Ursprunger.
Der Fliehende sah endlich ein, dass er auf diese Weise seinen Verfolger nicht loswurde.
Im Drehen zückte er ein Messer mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge. Breitbeinig stand er plötzlich da und wartete auf Wully.
Der heulte auf, als er das Messer sah, aber brachte seine Arme vor seine Brust und hielt sie als Deckung gekreuzt etwa in Höhe seines Halses. In Wully musste eine ganz schöne Wut stecken, denn er bremste seinen Lauf auf den letzten Metern überhaupt nicht. Der andere machte sich bereit, das Messer zu benutzen. Er hielt es nicht nur zur Abschreckung in der Hand.
Als Wully heran war, drehte er seinen Körper noch zusätzlich zu seiner Armdeckung auf die Seite und lief mit vollem Schwung in seinen Gegner hinein. Der stieß mit dem Messer zu. Aber da sich Wully im letzten Moment gedreht hatte, traf er nicht das beabsichtigte Ziel. Das Messer zog zwar einen Schnitt über seinen linken Oberarm und traf in Höhe der Brust auf den Oberkörper von Wully, dort drang die Waffe aber nicht tief ein. Zum einen verhinderten das die Rippen, zum anderen die doch im letzten Moment gezeigte Zurückhaltung des zweiten Kontrahenten.
Nach dem ersten Aufprall gab es plötzlich einen freien Raum von einem Meter zwischen den beiden. Der Gefährlichere von beiden war der bewaffnete Mann – und auf ihn stürmte Maria los. Wully konnte sie getrost Ursprunger überlassen.
Der Messerträger reagierte im Bruchteil einer Sekunde und wollte schon einen zweiten Angriff auf Wully starten, als Maria dazwischen trat.
„Messer weg!“, schrie sie zwar, aber darauf reagierte er nicht. Maria hatte damit gerechnet. Der Messerkämpfer sah Maria lediglich als ein weiteres Opfer an. Er ging gleich auf sie los, denn aus den Augenwinkeln erkannte er nun, dass Ursprunger sich auf Wully warf. Wenn er geglaubt hatte, dass er leichtes Spiel mit Maria hatte, täuschte er sich, denn das genaue Gegenteil war der Fall. Maria hatte nicht umsonst eine Ausbildung in Karate und Kung Fu, und dagegen hatte der junge Mann kein wirkungsvolles Gegenmittel. Maria schaffte es in einer halben Minute, den Kerl zu entwaffnen und auf den Boden zu zwingen. Dann kniete sie mit ihrem gesamten Gewicht auf seinem Rücken und fixierte seine Arme.
Ursprunger und Wully sahen dabei erstaunt und gleichzeitig fasziniert zu. Sie vergaßen regelrecht auf ihren Kampf.
„Ich bin schon ruhig!“, sagte Wully. „Wenn deine Kollegin das Schwein festsetzt, lasse ich von ihm ab.“
„Schön hiergeblieben!“, raunte Ursprunger und gesellte sich zu Maria. Er bückte sich und zückte das Paar Handschellen, das er stets bei sich trug und legte sie dem Mann an.
„Alle Achtung!“, sagte er dann anerkennend zu seiner Kollegin. „Ich werde für deine Versetzung sorgen. Für den Streifendienst bist du viel zu gut.“
„Das ist das Erste, woran du jetzt denkst?“
„Klar, ich suche schon lange nach einer geeigneten Partnerin.“
„Und ich werde wohl gar nicht gefragt?“
„Natürlich darfst du mitreden. Aber denk nur an die Möglichkeiten ...“
„Vielleicht gefällt es mir dort, wo ich bin.“
„Alkosünder des Nachts zu filzen?“
„Man merkt, dass du schon lange vom Einsatz in der Straße weg bist.“
„Ich bin ständig auf der Straße!“
„Und jetzt haben wir einen an der Angel. Wie willst du ihn in unser Allerheiligstes bringen?“
„Du hast sicherlich dein Handy bei dir.“
„Wie du vermutlich auch. Also, weshalb forderst du nicht einen Gefangenentransporter an?“
„Ich würde gerne auf der Maschine auf deinem Sozius mitfahren. Wenn ich Hilfe anfordere, muss ich wohl oder übel mit ihnen mitfahren. Wenn du die Hilfe anforderst. Hast du zumindest die Ausrede, dass ich keinen A-Führerschein habe und damit nicht berechtigt bin, deine Maschine nach Hause zu fahren.“
„Sehr klug überlegt“, wandte Maria spöttisch ein.
„Ihr verdammten Bullen könnt euch das später ausmachen!“, schrie der Messerattentäter. Seine Stimme klang diesmal richtig voller Pein. „Steig endlich von meinem Rücken herunter!“
Maria war im ersten Moment richtig verdutzt, doch sie rührte sich vorerst nicht.
„So zimperlich wirst du schon nicht sein“, meinte sie mit versöhnlich klingender Stimme und gab ihm einen weiteren kräftigen Klaps auf seinen Rücken, der dem Kerl einen weiteren Schrei entlockte. Doch dann verlagerte sie ihr Gewicht und erhob sich von dem Rücken des Kerls. Gleich darauf griff sie mit ihrer Hand nach seinen gefesselten Händen und zerrte ihn in eine aufrechte Haltung. Das entlockte dem Messerattentäter einen weiteren heiseren Schrei, aber immerhin stand er jetzt aufrecht und konnte Maria von Auge zu Auge gegenüberstehen.
„Was habe ich eigentlich getan?“, stieß er wütend hervor und man sah ihm an, dass er Maria am liebsten angespuckt hätte.
„Wenn du das nicht weißt, musst du eh wegen Dummheit aus dem Verkehr gezogen werden“, antwortete die Polizistin schlagfertig. „Den Rest kannst du den Behörden erzählen. Der Amtsweg ist zwar langwierig, aber zu deinem Vorteil endet er selten.“
„Zumindest wenn er keinen guten Anwalt hat“, setzte Wully hinzu.
„Hat er den?“, fragte Ursprunger.
„Ich sorge schon dafür, dass er ihn bald nicht mehr hat,“ mischte sich Wully ein.
„Wenn das soweit geklärt ist, kannst du mir jetzt sicherlich erzählen, weshalb ihr euch gestritten habt“, mischte sich Ursprunger ein.
„Das geht euch gar nichts an!“, rief gleich der Messerattentäter, und zwar in so einem bestimmten Ton, dass Wully überhaupt verstummte. Ursprunger war sicher, dass Wully mehr dazu gesagt hätte, wenn er alleine gewesen wäre.
„Kommt schon“, drängte er, „es geht doch um die Mordaufklärung. Wen wollte ihr denn schützen?“
Ursprunger wandte sich direkt an Wully und blickte ihm streng in die Augen. Nur für einen kurzen Moment sah es aus, als würde Wully schwach werden, doch dann bemerkte Ursprunger, dass Wully und der Messerattentäter in festem Blickkontakt standen. Jeder weitere Versuch, etwas Neues aus den beiden herauszubringen, schlug fehl.
„ Dickköpfe!“, murrte Ursprunger. Dann nahm er sein Handy zur Hand und forderte einen Polizeiwagen an, der die beiden abtransportieren sollte.
„Auf deiner Maschine können wir sie schlecht mitnehmen“, setzte er als Erklärung für Maria hinzu.
„Für einen hätte ich Platz. Dann müsstest du allerdings zu Fuß gehen. So ein Spaziergang hat noch niemandem geschadet.“
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Am Abend waren beide wieder auf freiem Fuß.
„Genieß den Abend und sorge dafür, dass deine Gattin etwas von dir hat“, sagte Maria, als sie ihn vor dem Festgelände von ihrer Maschine steigen ließ.
„Du kommst nicht hinein?“, fragte er und deutete mit einer Hand auf das Festgelände.
Maria schüttelte lediglich den Kopf.
„Das Feuerwerk ist weithin zu sehen. Zu diesem Event kommen Jahr für Jahr Scharen von Gästen, da ist selbst für unseren Job keine Übersicht mehr möglich. Du kannst dich nicht einmal durch die Massen durchzwängen, wenn du jemandem folgen möchtest – auch im Guten. Wenn du alleine unterwegs bist – ohne Händchenhalten musst du dich ständig suchen! Und Händchenhalten, das mache ich lieber mit meinem Freund.“
„Gibt es da so jemanden?“, fragte Ursprunger, und gleich darauf kam ihm die Unmöglichkeit dieser Frage in den Sinn, deshalb setzte er hinzu. „Ich kenne dich ja kaum. Ein bisschen mehr möchte ich schon von meiner Partnerin wissen.“
„Freut mich, dass ich jetzt schon Partnerin bin und nicht nur ortskundige Fremdenführerin. Okay, ich kenne mich hier aus, aber du weißt bestimmt, dass kein Polizist in seiner Heimatgemeinde Dienst tut.“
„Du bist eine komplizierte Person“, seufzte Ursprunger.
„Wie hält es deine Frau nur mit dir aus?“, wunderte sich Maria und lachte ihn voll an. „Weißt du was, du amüsierst dich heute Abend mit ihr, und ich besuche meinen Künftigen. Da kommen wir beide auf andere Gedanken und vielleicht löst sich der Fall bereits schon morgen auf einfache Weise.“ Sie schloss das Visier des Helms und fuhr davon.