Читать книгу Krimi Doppelband 2220 - Alfred Bekker - Страница 9
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ОглавлениеDie Hitze lag drückend über der idyllischen Landschaft, die sich rund um den Mondsee erstreckte. Es ging gegen zehn Uhr zu. Die brütende Hitze, die schon seit Tagen anhielt, lähmte den Bewegungsdrang der zahlreichen Einheimischen und Touristen. Eine Möglichkeit der Abkühlung bot sich im Strandbad, deshalb tummelten sich bereits zu dieser frühen Stunde die Massen im Strandbad. Dicht an dicht bedeckten die Badetücher und Schirme die Liegewiese. Das Seebad war knapp davor, seine Pforten wegen Überfüllung zu schließen. Zu den regulären Feriengästen kamen an diesem „Seefestwochenende“ noch mehrere tausend weitere Besucher, die sich die rundum bekannte Attraktion nicht entgehen lassen wollten.
Weit über Mondsee hinaus bekannt war dieses Seefest, das einst größte Seefeuerwerk Österreichs. Zu Tausenden säumten sie nach wie vor das Ufer, wenn Sonntagnacht das Spektakel begann. Der einstige Glanz hatte sich über die Jahre gerettet. Mondsee konnte immerhin noch für sich verbuchen, eines der traditionsreichsten Seefeste zu veranstalten, war aber heutzutage bei Gott nicht mehr so exklusiv. Nahezu jeder Ort in weitem Umkreis wartete mit einer ähnlichen Attraktion auf – man wollte den Gästen ja etwas bieten. Um die Nase weiterhin vorne zu haben, wurde die Unterhaltung Jahr für Jahr ausgebaut und jährlich lockte man mit hochkarätigen Konzerten aus der leichten Muse eine weitere Publikumsschicht an den Mondsee.
Über diese Umstände dachten die Menschen im Seebad natürlich nicht nach. Auch Richard Hillinger nicht, der sich schweißgebadet überlegte, ob er sich nicht doch lieber ein kühles Eis oder ein weiteres Bier gönnen sollte. Er stöhnte laut unter der Hitze.
„Geh ins Wasser und kühl dich ab!“, riet ihm seine Frau. Sie lag im Schatten und war nicht gewillt, ihren kühlen Platz aufzugeben. Ihr Mann Richard lag voll in der Sonne. Und das seit einer guten halben Stunde, seit die Sonne weiter gewandert war und nun zwischen einigen Bäumen direkt auf ihn durchschien. In den Schatten konnte er sein Badetuch nicht mehr verlegen, denn da lagen längst andere Gäste. Gerade ein Minimum an Platz war noch zwischen den einzelnen Gästen vorhanden.
„Zu viele Leute“, schimpfte er. „Das macht ja keinen Spaß mehr.“ Er machte eine, wie er meinte, weltmännische Geste. „Wasser? Die oberste Schicht ist doch nur mehr Sonnenschutzöl. Da soll ich hinein?“
„Wenn du dich abkühlen willst, bleibst dir nichts anderes mehr übrig. Und ein weiteres Bier schlag dir gleich aus dem Kopf. Wir sind heute Abend eingeladen bei den … Du kennst ja seine Frau Sonja. Die rümpft gleich wieder die Nase, wenn du bereits gut gelaunt erscheinst. Die hält dich sowieso für einen Alkoholiker.“
„Wen hält die nicht für einen Alkoholiker, die blöde Kuh. Ich geh nur mit, weil ich Franz gerne habe und mit ihm gut reden kann.“
„Also bleib brav.“
„Bin ich sowieso. Ich versteh nicht, wie man bei dieser Hitze schlafen kann. So wie der da drüben. Ich glaube, der hat den ganzen Tag heute noch keinen Mucks gemacht.“
„Er wird schlafen. Er liegt ja im Schatten.“
„Trotzdem. Mir ist das nicht geheuer. Ich glaube, ich sehe mal zu ihm hin.“
„Untersteh dich, Richard! Lass ihn in Ruhe schlafen!“
„Dann rutsch ein wenig zur Seite, damit ich auch etwas Schatten abbekomme. Ich liege schon wieder voll in der Sonne.“
„Mach keinen Unsinn, Richard. Wir sind keine zwanzig mehr. Wir haben zu zweit nicht Platz auf der Liege.“
Elfie spielte natürlich darauf an, dass sie als Lehrerin im Ort bekannt war und sich zahlreiche Schüler im Bad tummelten, denen sie keinen Anlass zu Klatsch und Tratsch bieten wollte. Und wenn sie wie ein verliebtes Paar zu zweit auf einer Liege lagen, bot dies sicherlich Grund für genügend Klatsch. Nebenbei war sie mit ihrer Figur alles andere als zufrieden und verbat sich schon aus diesem Grund jegliche auch nur im Entferntesten an Zärtlichkeit anmutende Berührung. Sie konnte es sich mit ihrer Figur ihrer Meinung nach auch nicht mehr leisten. Richard war zwar gegenteiliger Meinung, aber in dieser Hinsicht setzte er sich nicht durch. Mit ihren 45 Jahren war Elfie noch äußerst attraktiv, schlank, aber mit Rundungen versehen, wo manche Männer gerne Rundungen vorfanden.
„Du verdirbst einem auch jeden Spaß. Von mir aus können wir wieder zusammenpacken.“
„Sei nicht kindisch, Richard.“
„Was heißt hier kindisch. Jedes Mal, wenn man deine Meinung nicht teilt, ist man kindisch. Man kann ruhig anderer Meinung sein und dennoch erwachsen.“
Elfie kannte ihren Mann, deshalb antwortete sie auf diese letzte Aussage gleich gar nicht. Sie ärgerte sich nicht einmal mehr über solche Aussagen.
Mit einem absichtlich lauten Schnaufer stand er auf.
„Ich vertrete mir ein wenig die Beine“, erklärte er und tat ein paar vorsichtige Schritte zwischen den am Boden ausgelegten Badetüchern.
Plötzlich fiel sein Blick wieder auf den schlafenden jungen Mann. Er lag bald in der prallen Sonne.
„Wenn der nur mal keinen Sonnenbrand abkriegt“, murmelte er leise vor sich hin und lenkte unwillkürlich seine Schritte auf den schlafenden Mann zu.
Da der Schläfer auf dem Bauch lag, konnte Richard ihn nicht richtig einschätzen, anhand der Figur erkannte er aber, dass er noch relativ jung sein musste, so um die zwanzig Jahre, schätzte er.
Vermutlich hat er eine durchzechte Nacht hinter sich, überlegte er, als er ihn erreicht hatte. Er blickte auf ihn hinab. Etwas irritierte ihn. Im ersten Moment konnte er nicht sagen, was es war, aber plötzlich überfiel ihn eine Ahnung kommenden Unheils.
Er räusperte sich, zuerst eher zurückhaltend, aber als sich keine Reaktion zeigte, lauter. „Sie sollten nicht in der Sonne schlafen, auch wenn es noch früher Vormittag ist“, sagte er laut und blickte weiterhin auf den Schläfer hinab. Der rührte sich nicht. „Hallo!“, sagte Richard laut. Es klang ein wenig unbeholfen, aber laut genug, um selbst einen schlafenden Bären aus dem Winterschlaf zu wecken. Der Mann rührte sich nach wie vor nicht. Richard ging in die Knie und berührte ihn leicht an der Schulter. Im selben Moment wusste er, dass er einen Toten berührt hatte. Der Körper war bereits kalt und hart, obwohl er in der Sonne lag.
Unwillkürlich entfuhr ihm ein lauter Schrei. Ein paar andere Badegäste warfen ihm einen missbilligenden Blick zu. Wie kam er dazu, ihre Ruhe zu stören!
Richard überlegte nicht lange. Er handelte jetzt rein gefühlsmäßig. Und dieses Gefühl sagte ihm, dass er, ohne viel Aufregung zu verursachen, zumindest die Polizei und die Bademeister informieren musste. Mit schnellen Schritten lief er zu dem Eingangskomplex, in dem auch der Bademeister sein Büro besaß.
*
Inspektor Ursprunger wischte sich den Schweiß von der Stirn und hob seinen Kopf, hielt ihn in den Luftstrom unter den Rotorblättern des Ventilators, der an der Decke einen schier aussichtslosen Kampf gegen die Hitze focht. Der Luftzug kühlte Ursprungers Stirn zumindest soweit, dass der Schweiß trocknete. Ein paar Minuten blieb er so sitzen. Im Stillen hoffte er, dass alles so bleiben würde, das Telefon ruhig blieb und er nach der langen Erholungsphase weiter an seinem Bericht schreiben konnte. Das hätte ihm noch gefehlt, wenn jetzt das Notfalltelefon geschrillt hätte und ihn zu einem Außeneinsatz gerufen hätte. In der Zentrale in Linz staute sich zwar auch die Hitze, aber es gab immerhin auch einige Rückzugsmöglichkeiten, um der ärgsten Hitze zu entfliehen. Der Platz direkt unter dem Ventilator zum Beispiel. Diese Plätze waren in jedem Büro heiß begehrt.
Wie der Teufel es wollte, kam sein Kollege und Freund Inspektor Lang gerade in dieser Sekunde in das Büro gestürmt. Er kam wirklich gestürzt, denn er hatte die Tür aufgerissen, dass sie an den Türstopper prallte und zurückfiel, ohne allerdings erneut ins Schloss zu fallen.
„Das hat uns gerade noch gefehlt!“, verkündete er mit fast genau denselben Worten, die Ursprunger gerade durch den Kopf gegangen waren, anstatt eine vernünftige Erklärung abzugeben. „Zum Baden wirst du kaum kommen.“
„Erklär dich, Lang!“ Diese drei Wörter hatte Ursprunger wohl schon hundert Mal gesprochen, aber Franz Lang, wie er mit vollem Namen hieß, hatte diese Unart noch nicht abgelegt, in rätselhaften Stummelsätzen seine Mitarbeiter zu überraschen. „Weshalb sollte ich nicht zum Baden kommen?“
„Weil es für dich Arbeit gibt. Im schönen Mondsee, direkt im Schwimmbad.“
„Hast du etwa einen Job als Bademeister angeboten bekommen?“
„Ha, ha, sehr lustig!“
„Dann gib endlich deine Informationen preis, zum Donnerwetter. Du bist ja schlimmer als meine Alzheimertante. Also erklär bitte von Anfang an, worum es geht.“
„Im Schwimmbad lag eine Leiche, und das bereits den ganzen Vormittag. Alle dachten, da schläft einer einen Rausch aus.“
„Und?“, hakte Ursprunger nach, als Lang verstummte.
„Es gibt natürlich keine Spuren mehr. Die örtlichen Beamten haben um Unterstützung gebeten. In Mondsee ist dieses Wochenende nämlich Seefest …“
„Ich weiß, meine Frau will sich das Konzert am Samstag anhören. Na, da wimmelt es von Besuchern. Da kann ich mich richtig verstecken und im Verborgenen ermitteln.“
„Der Tote ist ein junger Mann. Der Gemeindearzt, der ihn untersucht hat, hat ihn als Junkie bezeichnet, aber an Drogen allein ist er offensichtlich nicht gestorben. Er hat eine böse Kopfwunde.“
„Woher hast du eigentlich deine Informationen?“
„Ich habe zufällig den Chef …“
Da läutete bereits das Telefon. Ursprunger zwinkerte Lang zu und schnappte sich den Hörer.
„Ursprunger“, meldete er sich.
Das Gesicht des Polizisten veränderte sich nur unwesentlich, während er der Stimme lauschte, die ihn durch das Telefon mit Informationen versorgte. „Ja, Chef … Ich komme.“
Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: „Der Chef hat fast wortwörtlich deine Worte wiederholt. Wo hast du ihn denn belauscht?“
„Ich lausche nicht …“
„Aber irgendwie bist du ja den Informationen gekommen.“
„Seine Tür war offen, vermutlich wegen des Durchzugs, in seinem Zimmer steht ja die Luft …“
„Zum Wesentlichen, Lang!“
„Oh ja, also, ich kam eigentlich aus dem Archiv und wollte nur tief durchatmen, als er das wiederholte, was er gerade per Telefon durchbekommen hatte. Eigentlich hatte er es übers Handy gehört, aber das lief mit Lautsprecher, so dass es kaum zu überhören war, selbst wenn ich nicht lauschen hätte wollen, was ich ja eigentlich auch nicht wollte. Aber da wir nun einmal Dienst haben, habe ich mir gleich gedacht, dass einer von uns die Sache zugeschanzt bekommt, also blieb ich gleich stehen und hörte mir den Rest auch noch an.“
„Ich soll zum Chef kommen. Dort erfahre ich das Ganze also nochmals. Oder soll ich ihm gleich verraten, dass du mich bereits informiert hast?“
„Muss nicht sein.“
„Dachte ich es mir doch. Na, vielleicht erfahre ich sogar noch zusätzlich etwas. Sieht so aus, als könntest du hier im kühlen Büro bleiben.“
„Kühl, dass ich nicht lache!“
„Du könntest auch meine Berichte übernehmen. Wer weiß, wann ich dazu komme.“
„Als ob ich darüber Bescheid wüsste.“
„Du musst dich halt ein wenig einlesen“, empfahl ihm Ursprunger.
Ursprunger war ungefähr 35 Jahre alt, groß, schlank und braunhaarig. Wenn es die Dienstordnung zuließ, liebte er saloppe Kleidung. Seit er in die Kriminalabteilung aufgestiegen war, kam ihm dies in dieser Hinsicht sehr entgegen, denn er tauschte die Uniform gegen seine Privatkleidung. Wenn er an einem Fall arbeitete, war er ein richtiges Arbeitstier. Seine Frau konnte ein Lied davon singen. Tatsächlich hatte sie es sich bereits abgewöhnt, ihm das Essen warm zu halten.
Ursprunger speicherte gewohnheitsmäßig seinen Bericht, ehe er die Datei schloss und sich am PC abmeldete.
„Auf zum Chef!“, meinte er und verließ mit Lang das Büro.
Ursprunger trug ein langärmeliges hellblaues Hemd, dessen zwei obersten Knöpfe geöffnet waren. Dazu trug er eine weiß Leinenhose. Derart luftig gekleidet war er, wann immer er es sich leisten konnte, auch hatte er auf die Krawatte an diesen heißen Tagen verzichtet. Wenig später saß er seinem Chef in dessen Büro gegenüber.
Nachdem der die bereits bekannten Fakten erläutert hatte, sagte er noch: „Der Junkie ist kein Unbekannter. Er hatte seine Finger seit einigen Jahren im Drogengeschäft. Er war nicht nur ein kleiner Dealer, sondern muss in der Organisation schon etwas höher gestiegen sein. Also recherchier sein Umfeld und sieh zu, ob sich irgendwelche neuen Verbindungen ergeben.“
„Alles klar, Chef!“, meinte Ursprunger bereits aufstehend. „Du vermutest also, dass hinter der Sache mehr steckt.“
„Es könnte sein, also überseht nichts.“
*
Die Fahrt nahm aufgrund des erhöhten Verkehrsaufkommens etwas über eine Stunde in Anspruch. Bei dieser Hitze strömte jeder, der es sich leisten konnte, aus der Stadt heraus und die Salzkammergutseen waren ein beliebtes Ziel.
Ursprunger hatte noch schnell seine Badesachen in das Auto geworfen – man wusste ja nie, vielleicht kam er doch noch dazu, in den See zu springen -, ehe er sich auf den Weg machte. Kaum im Auto und nachdem er die Autobahn erreicht hatte, informierte er seine Holde über die Freisprechanlage und bereitete sie darauf vor, dass aus dem gemeinsamen Abendessen aller Voraussicht nach nichts werden würde.
„Du hättest mich gleich mitnehmen können“, schmollte sie.
„Ich komme vermutlich heute Nacht zurück, dann fahren mir morgen zusammen.“
„Als ob du Zeit hättest“, unkte seine Frau. „Ich kenne das. Bis heute Abend wirst du den Fall kaum gelöst haben. Aber du weißt ja, wo du mich finden kannst. Auch in Mondsee. Meine Freundin hat für morgen übrigens schon bei einem Mostheurigen vorbestellt. Also sieh zu, dass du nichts verpasst.“
Während Ursprunger den Wagen über die Autobahn lenkte, gab ihm seine Gattin noch eine Reihe von Tipps, wie er sich bei diesen Temperaturen frisch halten konnte.
Gut eineinhalb Stunden später hatte er endlich einen Parkplatz in Seebadnähe erspäht und stellte sich in die Lücke. Dann wählte er die Nummer des Beamten, die ihm angegeben worden war.
Es war bereits Nachmittag.
„Ursprunger. Ich bin jetzt in Mondsee beim Seebad. Wo finde ich Sie?“
„Kommen Sie zum Eingang! Äh, sind sie in Uniform?“
„Nein. Aber sie erkennen mich sicherlich: weiße Hose, blaues Hemd.“
„Ich trage Uniform. Ich komme zum Eingang.“
Fünf Minuten später drängte er sich an der Schlange vorbei, die immer noch in das Seebad strömte. War es die Hitze allein oder gar die Sensationsnachricht des Mordes, dass so viele Besucher nach wie vor in das Bad strömten? Es machte bereits einen ziemlich überfüllten Eindruck. Seine Dienstmarke ebnete ihm den Weg und verhalf ihm zu einem schnellen Einlass.
Die Liegewiese erstreckte sich am Ufer entlang und vermittelte auf den ersten einen relativ großzügigen Eindruck. Einige Bäume sorgten für einen angenehmen Schatten. Sämtliche Plätze unter den Bäumen waren belegt. Daneben wimmelte es von Sonnenschirmen, die man Gott sei Dank bei der Kassa ausleihen konnte – solange der Vorrat reichte. An Tagen wie diesen konnte es manchmal knapp werden.
„Ich habe mir gedacht, Sie wollen einen Eindruck von dem Tatort bekommen“, begrüßte ihn gleich darauf ein junger Polizist, dem der Schweiß auf der Stirn stand.
„Das kann nie schaden“, gab Ursprunger zu und schüttelte dem jungen Kollegen die Hand, die der ihm so demonstrativ entgegenhielt. Dann deutete er ihm mit der Hand vorauszugehen, indem er ihm die Richtung wies, aber Ursprunger wollte dem Kollegen lieber folgen. Er sagte ihm das auch. Der junge Kollege nahm für einen Moment die Mütze ab und wischte sich den Schweiß aus der Stirn, ehe er voranging.
Ursprunger schlängelte sich hinter dem Polizisten durch die Badegäste bis in den hinteren Teil der Liegewiese. Dort hatte man ein größeres Viereck mit Absperrbändern vom Rest der Liegewiese isoliert.
„Hier ist er aufgefunden worden“, erklärte der junge Kollege. Die Konturen eines Körpers waren mit Kreidestaub auf der Wiese nachgezogen worden. Ganz unspektakulär, denn der Körper war einfach ausgestreckt dagelegen.
„Ich bin Maria Schwaiger“, stellte sich eine zweite Kollegin vor und deutete auf das Umfeld des Liegeplatzes. „Der Tote lag anscheinend bereits hier, als die ersten Badegäste in der Früh in das Bad strömten.“
„Wieso anscheinend?“
„Weil wir noch nicht alles sicher geklärt haben. Es gibt einige Stammgäste, aber auch Einheimische, die vor dem Frühstück baden gehen. Die haben wir noch nicht alle erwischt, um sie befragen zu können. Aber hier befinden wir uns im rückwärtigen Teil der Liegewiese. Die Frühschwimmer gehen nicht unbedingt ins letzte Eck, um zu schwimmen. Dennoch, wir können noch nicht mit letzter Sicherheit sagen, wann der Tote zum ersten Mal jemandem aufgefallen ist.“
„Wann sperrt das Bad auf?“
„Üblicherweise um 9:00 Uhr, aber das hat nichts zu sagen.“ Sie deutete auf den nahegelegenen Zaun. Ein etwa fünf Meter hoher Maschendrahtzaun sperrte einen Beachvolleyball-Platz ab. Auf beiden Seiten des Zaunes gab es ein Tor. Von der Seewiese aus war die Tür immer unversperrt. Der Zaun diente hauptsächlich dafür, dass die Bälle nicht zu weit auf die Liegewiese gespielt werden konnten. Die andere Seite des Zaunes führte auf einen Parkplatz und auch auf dieser Seite gab es ein Tor, das im Regelfall aber verschlossen war.
„Der Sportplatz ist natürlich auch außerhalb der Öffnungszeiten bzw. der Saison verschiedenen Vereinen zugänglich. Das heißt, die Anzahl der Leute, die hier Zugang hat, ist nicht so leicht einzugrenzen. Außerdem ist der Platz kein Gefängnis und der Zaun keine unüberwindliche Mauer. Jugendliche, die es darauf abgesehen haben, können jederzeit drübersteigen.“
„Aha“, sagte Ursprunger. „Man musste demnach nicht auf die Öffnungszeiten Rücksicht nehmen.“
„Das wollte ich damit sagen. Dafür spricht auch, dass er gleich hier in der Nähe des Zauns abgelegt worden ist.“
„Man hat ihn allerdings auf einem Badetuch abgelegt,“ ergänzte der junge Polizist, von dem Ursprunger immer noch nicht den Namen wusste. Aber Ursprunger hatte sich ohnehin bereits entschieden, dass ihn Maria durch diesen Fall begleiten würde, und das nicht nur deshalb, weil sie sich ihm namentlich vorgestellt hatte.
Ihr blonder Pferdeschwanz fiel ihr fast bis zur Hälfte ihres Rückens herab. Unwillkürlich fragte er sich, wie sie aussah, wenn sie ihr Haar nicht streng nach rückwärts gekämmt und gebändigt trug. Er schätzte sie irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahren ein, also in etwa sein Alter, auf den ersten Blick attraktiv und mit beiden Beinen fest im Leben stehend. Mit einem Wort, jemand, der vernünftig war.
„Das sieht alles so aus, als wäre das nicht zufällig passiert“, stellte er fest.
Ursprunger drehte sich einmal langsam im Kreis herum und musterte die Umgebung. Auf der einen Seite breitete sich die Liegewiese aus, die sich bis zum Ufer des Sees, etwa vierzig Meter von seinem Standpunkt entfernt, erstreckte. Auf der anderen Seite gab es den Beachvolley- und den Fußballplatz. Den Toten hatte man eindeutig im ruhigeren Teil des Bades abgelegt, wobei das Wort Ruhe eigentlich nicht ganz zutraf. Wenn die Kids hier spielten, ging es vermutlich sehr laut zu.
„Ein geplanter Mord“, bestätigte Maria. „Allein die Tatsache, dass man ein Badetuch bei der Hand hatte …“
„Was nicht unbedingt etwas zu sagen hat. Wir leben hier an einem See. Ich kenne eine Menge Freunde, die ihre Badesachen ständig im Auto mitführen“, warf der zweite Polizist ein, „aber zu denken gibt es einem natürlich. Zu vorschnellen Schlüssen dürfen wir uns allerdings nicht hinreißen lassen.“
„Wie hat das Badetuch ausgesehen?“
„Sie meinen die Farbe?“, fragte der Polizist erstaunt.
„Nein, war es frisch gewaschen? Oder gebraucht? Wenn er bereits in der Nacht abgelegt worden ist, hat sich das Badetuch mit dem Tau vollsaugen können. Das bedeutet, die Wiese ist, besonders in der Früh, relativ feucht. Und das erzeugt Flecken.“
„Sie haben recht“, stimmte der Polizist erstaunt zu. „Diese Sache muss ich noch klären.“
„Der Amtsarzt hat sich die Leiche sicherlich angesehen.“
„Natürlich, er musste sie zum Abtransport freigeben.“
„Dann hat er auch sicherlich festgestellt, wann der Tod eingetreten ist.“
„Nach seinen Worten muss das heute in der Früh gewesen sein, frühestens um fünf Uhr, spätestens um acht Uhr.“
„Also knapp vor Öffnung des Bades.“
„Genug Zeit aber, um ihn in aller Ruhe abzulegen“, stellte Ursprunger fest.
„Gestern Nacht hat es kurz geregnet. Wirklich nur kurz“, erinnerte sich Maria, „genug, dass der Boden feucht war, zwar nicht durchnässt, aber immerhin.“
„Das Badetuch konnte in der Zeit, bis der Tote als solcher erkannt wurde, auftrocknen.“ Diese Erkenntnis kam den jungen Polizisten.
„Warten wir das Ergebnis der Leichenschau ab. Wenn wir den genauen gesicherten Todeszeitpunkt kennen, sehen wir weiter.“
*
„Ist der Tote bekannt?“
Als hätte es ein geheimes Einverständnis gegeben, kümmerte sich Maria um den Kollegen aus Linz, das hieß, sie machte ihn mit den hier gültigen Gegebenheiten vertraut.
„Er war ein Junkie. Er hat gedealt, wie regelmäßig und in welcher Intensität, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, auch wenn wir stark vermuten, dass er nicht nur ein kleiner Mitläufer war. Einem regelrechten Job ging er nicht nach. Als Beruf gab es stets Bauer an. Er stammt auch aus einer Bauernfamilie, sowohl von Seiten seines Vaters wie auch von Seiten der Mutter. Die Familienverhältnisse dürften aber alles andere als harmonisch gewesen sein. Er ist allein bei seiner Mutter und seiner Großmutter väterlicherseits aufgewachsen. Allein das ist schon auffällig. Mit einem Wort, ein richtiger Tu-Nicht-Gut.“
„Wie haben sie auf seinen Tod reagiert?“
„Mein Gott, wie soll man auf die Todesnachricht schon reagieren. Die Mutter war in Tränen aufgelöst. Was man von seiner Großmutter nicht behaupten kann, auch nicht von seinem Urgroßvater, dem Vater seiner Großmutter.“
„Sie haben gesagt, dass die Familienverhältnisse nicht gerade harmonisch waren, deshalb hat es mich interessiert. Und die Familienbande läuft nur in die Richtung des Vaters vom Toten?“
„Ausschließlich. Der Tote war ein uneheliches Kind. In manchen Familien ist das sogar heute noch ein Grund, jemandem aus der Familie auszustoßen. Seiner Mutter, Hanne Mock, ist das widerfahren.“
„Und der Vater des Toten – hat der die Verantwortung nicht übernommen?“
„Nicht bis zur letzten Konsequenz. Er hat sich um die Mutter und den Sohn gekümmert, sie aber nie geheiratet und das Kind nie anerkannt. Zwangsweise sind sie auf seinem Hof untergekommen, und dort hatte seine Mutter das Sagen.“
„Dann sollten wir die nochmals besuchen. Ich will mir ein Bild des Toten machen können.“
„Jetzt noch?“ Maria warf einen Blick auf ihre Uhr. „Da werden sie keine Freude haben. Es ist Stallzeit.“
„Dann treffen wir sie wenigstens Zuhause an. Beginnen wir mit seiner Mutter und Großmutter.“
Maria nickte, blickte ihn aber einen Augenblick lang überlegend an, dann rang sie sich anscheinend doch durch und sagte: „Ich warne dich gleich vor. Regina, die Großmutter, ist ein besonderes Kaliber.“
„Muss ich mich fürchten?“
„Nein, aber wappne dich mit Geduld.“
Es war schließlich nach sieben Uhr, als sie endlich im Auto saßen. Sieben Uhr Sommerzeit, das hieß, sechs Uhr Normalzeit, da die Kühe ja nicht umgestellt worden waren. Maria, die ihm als ortskundige Begleiterin zur Seite gestellt worden war, bog im Markt mit ihrem Dienstauto in Richtung Mondseeberg hinauf und gleich nach dem Passieren der Autobahnunterführung links in Richtung Sonnenhang. Dort ging es fast drei Kilometer weiter. Die Straße, eigentlich ein ehemaliger Güterweg, wechselte zwar mehrmals den Namen, blieb ansonsten aber gleich schmal und kurvenreich. Die ersten Kilometer standen links und rechts Privathäuser, aber weiter oben gab es – in größeren Abständen voneinander – einen Bauernhof nach dem anderen. Maria lenkte das Polizeifahrzeug in den Hof von Regina Bergmann und blieb vor dem Eingang zum Stall stehen. Die beiden stiegen aus.
„Verdammt, was sucht ihr schon wieder?“, klang eine ärgerliche Stimme aus dem Stall. „Lasst uns in Ruhe!“ Die Stimme kam von der Großmutter. Sie blickte Ursprunger wild entgegen und schwang ihre Heugabel wie eine Waffe. „Franz ist tot. Hanne sitzt in der Küche und weint sich die Augen aus, aber deswegen wird er auch nicht mehr lebendig. Ihr seht, dass ich zu tun habe. Irgendjemand muss ja die Arbeit erledigen. Die Kühe bringen sich leider nicht alleine fort, sie haben ja keine Hände, also muss jemand für sie sorgen. Und wer bleibt über heute? Da glaubt ihr wohl, ich bin so erfreut, dass ihr mich besucht. Auf ein kleines Schwätzchen? Darauf bin ich absolut nicht scharf. Und schon gar nicht jetzt. Hanne ist mir heute keine große Hilfe. Sonst kümmert sie sich um das frische Heu, wenn Franz jetzt nicht da ist. Jetzt ist er ja überhaupt nicht mehr da. Nun kann ich die Viecher gar nicht mehr auf die Weide lassen. Ich bin eine alte Frau und …“
„Ist schon recht, Frau Bergmann, ich muss sie leider unterbrechen“, fuhr Maria ihr dazwischen. „Das ist Inspektor Ursprunger. Er untersucht den Tod von Franz und hätte einige Fragen.“
„Was gibt es da zu fragen?“, wunderte sich Regina Bergmann. „Ich war nicht dabei, als er gestorben ist. Aber er ist tot, und das ist eine Tatsache, die zählt. Wie kann man nur so dumm sein …“
„Er wurde ermordet!“, rief Maria gleich dazwischen, als fürchte sie, sie könnte ihre Information nicht rechtzeitig anbringen. Ihr Verdacht war nicht ganz unbegründet, denn wenn Regina Bergmann einmal ins Reden kam, war sie nur schwer zu bremsen.
„Am Ergebnis ändert sich deswegen nichts“, sagte die alte Bäuerin und warf mit der Heugabel der nächsten zu fütternden Kuh einen Haufen frisch gemähten Grases vor das Maul, dass das Tier regelrecht den Kopf schütteln musste, um sein Futter so auf den Boden zu bringen, dass es mit dem Maul danach greifen konnte.
„Mich interessiert, wie der Tote so war!“, warf Ursprunger ein.
„Da fragst du besser seine Mutter. Von ihr bekommst du eine Lobeshymne, von mir das genaue Gegenteil. Überhaupt die Jugend heutzutage, was das Arbeiten betrifft, haben sie eigene Vorstellungen …“
„Können wir bei der Sache bleiben?“, unterbrach diesmal Ursprunger, der jetzt wusste, weshalb Maria ihn vor der Bäuerin gewarnt hatte. „Was hat nicht gestimmt mit ihm?“
„Er war ein Hallodri!“
„Ist Ihnen bekannt, dass er Drogen konsumiert hat?“
„Das konnte ja nicht verborgen bleiben bei seinem Lebenswandel. Lassen Sie mich zurückdenken! Als ich in seinem Alter war, verstand man unter dem Begriff Arbeiten vermutlich etwas anderes. Ich stand spätestens um sechs Uhr im Stall, obwohl ich ein Mädchen war. Da gab es ständig etwas zu tun, die Kühe – und damals hatten wir noch Ziegen, melken, Stall ausmisten, Kannen reinigen u.s.w., dann ging es auf die Weide …“
„Schön, gut und recht, Frau Bergmann, aber mich interessiert mehr seine Lebensgeschichte.“
„Unterbrechen Sie mich nicht! Sie können ja gar nicht beurteilen, wie er gelebt hat, wenn Sie gar keine Ahnung davon haben, was Arbeiten auf einem Bauernhof bedeutet. Erst wenn Sie wissen, was Arbeiten wirklich heißt, erkennen Sie doch den Unterschied.“
„Auch ich habe meinen Beruf!“, sagte Ursprunger dazwischen.
„Die Hände machen Sie sich dabei aber nicht schmutzig. Ich brauche ja nur einen Blick auf ihre Fingernägel zu werfen …“
„Kommen Sie endlich zur Sache!“
„Ist ja schon gut. Franz war ein Faulpelz. Wenn man ihm sagte, treib die Kühe auf die Weide, hat er es gemacht. Wenn man ihm sagte, bring die Kühe in den Stall, hat er es gemacht. Aber sonst nichts. Er hat die Arbeit nicht gesehen. Er hat das getan, was man ihm angeschafft hat.“
„War er oft unterwegs?“
„Auf Urlaub? Nein, das hat ihn nicht interessiert.“
„Ich dachte eher an das Fortgehen. Hat er eine Freundin?“
Regina Bergmann lachte kurz meckernd auf.
„Der doch nicht! Er war höchstens an einer schnellen Nummer interessiert. Wenn er sein Bedürfnis befriedigt hatte, interessierten ihn die Mädels nicht mehr. Ganz wie sein Vater, verfluchter Kerl!“
„Der war doch Ihr Sohn!“
„Ja, das war er, und Franz schlägt in das gleiche Fahrwasser. Aber sein Vater hatte wenigstens die Arbeit gesehen und konnte Privat und Geschäft absolut trennen. Aber er besaß die gleichen Flausen. Ging ja auch bei dem nicht lange gut. Und als er sich dann von Hanne ein Kind hat andrehen lassen …“
„Franz?“, vergewisserte sich Ursprunger.
„Ja, natürlich. Die ließ nicht locker, als sie schwanger wurde. Die zog hier ein, gegen den Willen der gesamten Familie, aber sie blieb. Ihr Vater hatte sie ja auf die Straße gesetzt. Ein uneheliches Kind … und das noch ohne Heiratsversprechen … Man konnte Hanne keine andere Liebschaft nachweisen … Seither ist sie da.“
„Und vermutlich ließen Sie sie spüren, dass sie nicht sehr willkommen ist“, mischte sich Maria ein.
„Na, hätte ich sie auf einen Rosenhügel betten sollen?“
„Zurück zu den Drogen. Sie haben es bemerkt.“
„Man musste ihn ja nur anschauen. Seine Augen konnten einen ja gar nicht mehr fixieren. Ständig sahen sie an einem vorbei.“
„Das muss doch eine Unmenge Geld gekostet haben. Geht der Hof so gut – oder woher hatte er das Geld?“
„Hanne wird ihm schon etwas zugesteckt haben. Aber er hatte ja stets ein paar Geschäfte nebenher laufen. Die halben Nächte schlug er sich um die Ohren. Wenn es in der Früh ans Aufstehen ging, war er ja meistens arbeitsunfähig.“
„Besaß er Feinde?“
„Mit mir hatte er kein so inniges Verhältnis, dass er mich darüber aufgeklärt hätte. Klar, ich bin eine andere Generation und habe andere Interessen, aber so ganz weg vom Fenster bin ich noch nicht. Auch ich war einmal jung und kann mich noch sehr gut daran erinnern …“
„Danke, Frau Bergmann. Hatte er gute Freunde, mit denen er oft abhing?“, fragte Maria.
„Seine Kumpels waren das gleiche Kaliber. Gleich und gleich gesellt sich gerne, heißt es immer. Bei Franz traf das zu. Am liebsten taten die alle nichts, glaubten wohl, dass ihnen wie im Schlaraffenland die gebratenen Tauben in den Mund fliegen würden. Jeden, der hart arbeitete, bedachten sie mit Verachtung. ´Wie kann man nur so dumm sein und sich abzurackern, wenn das Geld ja auf der Straße liegt, wo man es nur aufzuheben hat´.“
„Um zu den Freunden zurückzukommen …“, unterbrach Ursprunger.
„… Was weiß ich, wie die heißen. Legen Sie eine Nachtschicht ein und besuchen Sie dienstlich eine Disko, da treffen Sie die ganze Bagage. Aber ihre Kollegin soll möglichst in Zivil erscheinen.“
„Danke für den guten Ratschlag“, warf Maria ein, „ich weiß, wie ich meinen Job zu erledigen habe.“
„Ich meinte ja nur, weil Sie relativ jung aussehen. Und die Uniform ist ja auch nicht gerade ein Blickfang.“
„Zur Sache, Frau Bergmann!“
„Okay, dann lassen sie mich arbeiten!“
*
„Heute war sie ungewöhnlich schweigsam“, sagte Maria, als sie aus dem Stall traten und Richtung Haus zumarschierten.
„Sie hat dennoch viel geredet“, meinte Ursprunger.
„Ja, aber wenig gesagt.“
„Nun, bei einigen Sachen werden wir nachfragen müssen.“ Ursprunger legte seinen Kopf schien. Das tat er manchmal, wenn er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, wenn er einen Fall bearbeitete.
„Über einige Dinge wäre ich vorher noch gerne aufgeklärt worden, bevor wir seine Mutter sprechen. Der Vater des Toten ist der Sohn von Regina Bergmann. Habe ich das richtig mitbekommen?“
„Ja, das stimmt so weit.“
„Wieso heißt dann der Tote nicht Bergmann?“
„Regina Bergmann hat es eh angedeutet. Ihr Sohn hat sich von Hanne ein Kind andrehen lassen, wie sie es ausdrückt. Regina vor allem hat den Sohn nie anerkannt. Also durfte er auch nicht ihren Namen führen. Nicht auszudenken, was geschehen hätte können, wenn er in der Erbfolge nachgerutscht wäre. Gerade was das Erben betrifft, sind Regina und auch ihr Vater sehr eigen. Der armen Hanne blieb nicht viel Ausweg, als auch ihr eigener Vater sie auf die Straße gesetzt hatte. Hanne blieb nichts anderes über, als zu dem Mädchennamen ihrer Mutter zu wechseln. Jetzt war sie plötzlich Hanne Mock.“
„Da sind ja schöne Zustände.“
„So ist es manchmal noch bei einigen Bauernfamilien. Manche der Familien haben richtige Sturschädel als Familienoberhaupt. Und hier kann man tatsächlich noch von einem Familienoberhaupt sprechen, auch wenn die Alten langsam aussterben.“
„Sie kennen sich richtig gut aus“, sagte Ursprunger anerkennend.
„Ich habe mir die Familienunterlagen angesehen, als der Tote identifiziert war.“
Sie lachte Ursprunger ins Gesicht.
„Sie glauben doch wohl nicht, dass wir zwei Stunden im Seebad auf Sie gewartet haben? Wir wissen ja, wie lange man von Linz bis nach Mondsee braucht. Da konnten wir in der Zwischenzeit wertvolle Informationen besorgen. Und der familiäre Hintergrund gehört dazu. Da die Bauern manchmal recht streitsüchtig sind und sich gegenseitig eins auszuwischen versuchen, dazu gehört auch hie und da eine Anzeige, haben wir über einige Familien ein paar Unterlagen.“
Hanne Mock erwartete sie an der Tür. Ihre Augen blickten verweint, aber insgesamt machte sie einen gefassten Eindruck.
„Es tut mir leid, was geschehen ist und dass ich Sie stören muss“, begrüßte Ursprunger sie, „aber ein paar Fragen haben wir dennoch.“
„Einen ersten Eindruck von meinem Sohn haben Sie ja schon von Regina erhalten“, sagte Hanne, wobei ihre Stimme niedergeschlagen klang.
„Manchmal schadet es nicht, ein und dasselbe von zwei verschiedenen Warten aus erzählt zu bekommen“, meinte Ursprunger. „Dürfen wir eintreten oder sollen wir uns hier zwischen Tür und Angel unterhalten?“
„Entschuldige“, entfuhr es Hanne. „Regina ist es üblicherweise, die Besucher ins Haus bittet.“
„Führt sie so ein strenges Regime?“
„Ich bin hier lediglich geduldet“, sagte Hanne niedergeschlagen, „dessen bin ich mir wohl bewusst, aber damit habe ich mich zwischenzeitlich abgefunden. Kommen Sie in die Küche! Darf ich etwas anbieten?“
„Nein, danke. Wir machen es auch kurz, aber es kann sein, dass wir später noch weitere Fragen haben. Ich möchte Sie gerade an diesem heutigen Tag nicht länger als notwendig stören. Was wissen sie über die Freunde von Franz?“
„Relativ wenig. Er hat sie ja nie nach Hause eingeladen. Und keiner, der Regina kennt, hat Lust und Laune, freiwillig uns zu besuchen, also war es hinfällig, dass er Freunde mitgebracht hat, zumindest seit er ein Teenager war. Ich kann Ihnen die Namen seiner besten Freunde geben. So viele sind es ohnehin nicht.“ Sie kramte auf dem Kaminsims des Kachelofens, wo ein Haufen von Schachteln herumlag. „Verzeih’n Sie die Unordnung, aber ich habe mir die Papiere zum Durchschauen hergeholt.“ Dort griff sie nach längerem Suchen ein Blatt Papier heraus und brachte es dem Inspektor. „Das ist das Konzept eines Geschäftes, das Franz mit zwei Freunden eröffnen wollte. Die Namen und Telefonnummern der beiden Freunde sind hier neben Franz vermerkt.“
„Worum ging es bei dem Geschäft?“
„Was weiß ich, irgendwelche Computersachen. Sie boten Hilfe jenen Leuten an, die sich nicht gut auskannten.“
„Es war nur ein Konzept?“
„Das Geschäft lief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Kaum jemand brauchte wirklich Hilfe. In jeder Familie gibt es ja jemanden, der sich bereits mit den PCs auskennt.“
„Haben sie bemerkt, dass er Drogen konsumierte?“
„Glauben Sie, dass er deshalb ermordet wurde?“
„Auszuschließen ist es nicht. Sie haben also davon gewusst“, stellte Ursprunger fest.
„Wissen Sie, wie schwer süchtig er war?“
„Er war in letzter Zeit immer gut drauf“, bestätigte Hanne.
„Das muss eine schöne Stange Geld gekostet haben. Verfügte er über genügend Mittel?“
„Er hat auf dem Hof mitgeholfen und ich habe ihn regelmäßig dafür entlohnt.“
„Seine Großmutter war mit seinem Arbeitseinsatz nicht zufrieden.“
„Die ist mit niemandem zufrieden. Was glauben Sie, wie sie über mich schimpft, wenn sie glaubt, dass ich nicht zuhöre. Und manchmal auch, wenn ich es hören kann. Nein, Franz hat seinen Job erledigt. Mein Gott, er ist jung. Er wollte halt auch manchmal hinaus. Wenn er fertig war, hat er sich auf seine Maschine gesetzt und ist in den Markt gefahren. Dort hat er sich mit seinen Freunden getroffen. Dass sie nicht in der Kirche gesessen sind, ist auch klar, aber angestellt haben sie nie etwas.“
„Ist er öfters in Geldnöte geraten?“
„Er hat schon manchmal gefragt, aber es waren jedes Mal nur kleine Summen, nie mehr als hundert Euro. Da habe ich mir keine allzu großen Sorgen gemacht.“
„In welchen Lokalen verkehrte er?“
„Es gibt einige Treffs für jüngeres Publikum. Ein Stammlokal? – Mir ist keines bekannt, lediglich die ehrwürdigen Restaurants haben sie links liegen lassen. Jetzt, im Sommer, hat sich ohnehin alles draußen abgespielt.“
*
„Mal sehen, was sein Urgroßvater zu sagen hat“, bemerkte Ursprunger.
Fritz Brahms wohnte drei Kilometer weiter die Straße entlang Richtung Zell am Moos.
Mit seinen 80 Jahren war er noch extrem rüstig. Man sah ihm sein Alter außerdem nicht an. In seiner Familie war er als Tyrann verschrien. Genau genommen war er ein Menschenfeind, der niemanden um sich duldete. Kein Wunder also, dass alle längst von dem Hof weggezogen waren.
Es ging bereits gegen acht Uhr zu, als der Polizeiwagen in die Hofeinfahrt einbog. Fritz Brahms saß auf der Hausbank und ließ sich die Strahlen der bereits sehr tief stehenden Sonne in das Gesicht scheinen. Er rauchte eine Pfeife, von der er in regelmäßigen Abständen einen Zug nahm und versuchte, Rauchringe zu erzeugen. Ruhig blickte er den Polizisten entgegen.
„Ich kann mir schon denken, weshalb ihr kommt“, brummte er, „aber ich wüsste nicht, was ich dazu sagen sollte. Tragisch. Ja, so kann man es nennen, vor allem für die Mutter. Hätte sie ihren Sohn besser erzogen …“
„Das steht hier nicht zur Debatte“, meinte Ursprunger und stellte sich vor, ehe er mit seinem Fragenkatalog begann.
„Mutter und Großmutter haben sicherlich alles bereits gesagt“, vermutete er, „also kann ich nichts Neues dazu beitragen. Diesen Weg hättet ihr euch ersparen können.“
„Mitnichten. Wie würden Sie den Toten charakterisieren?“
„Häh?“, wunderte sich Fritz Brahms. „Wozu das?“
„Ich will wissen, was für ein Mensch Franz Mock war.“
Fritz Brahms legte seinen Kopf schief und dachte einen Augenblick nach. In der Zwischenzeit paffte er an seiner Pfeife, ehe er sich zu einer Antwort bequemte.
„Er hat die Arbeit nicht erfunden“, sagte er schließlich.
„Das ist alles?“, fragte Ursprunger nach.
„Das beschreibt ihn vollkommen.“
„Sie sind ja sein Urgroßvater. Hatten Sie ein enges Verhältnis?“
„Wir hatten überhaupt kein Verhältnis. Jedes Jahr kam er zum Geburtstagwünschen. Immer allein. Seine Mutter wollte ich nicht im Haus sehen. Die war es ja, die meinen Enkel ins Unglück gestürzt hat.“
„Wie ist der eigentlich gestorben?“
„Motorradunfall. Es hat ihn manchmal einfach raus aus der Enge seiner Familie getrieben. Da musste er sich Freiheit verschaffen. So ist es halt passiert. Er hat sich überschätzt und ist in einer Kurve hinausgeflogen.“
„Tut mir leid.“
„Ist schon Jahre her.“
„Seither ist Hanne hier nicht mehr gern gesehen?“
„Oh, eigentlich schon seit der Geburt von Franz. Die hat es doch nur auf sein Geld abgesehen hat. Die wollte sich in ein gemachtes Nest setzen.“
„Hat sie etwa eine andere Freundin vertrieben?“
„Nein, aber er hätte sich ruhig eine Freundin mit Geld oder zumindest mit einem Hof aussuchen können.“
„Apropos Geld, hat Franz Mock Sie jemals um finanzielle Unterstützung gebeten?“
„Was heißt hier jemals. Der hat doch ständig in Geldschwierigkeiten gesteckt. Ja, er hat es ein paar Mal versucht, aber bei mir hat er auf Granit gebissen. Weder von mir noch von Regina hat er jemals etwas zugesteckt bekommen.“
„Eine letzte Frage habe ich noch für heute: Werden Sie zum Begräbnis kommen?“
„Verschwinden Sie!“
*
Als sie zum Polizeiposten zurückfuhren, waren sie die ersten Minuten stumm. Jeder hing seinen Gedanken nach. Schließlich fragte Maria: „Aus welchem Grund haben Sie die letzte Frage gestellt?“
„Eigentlich können wir zum Du übergehen. Es sieht so aus, als beschäftige uns diese Angelegenheit noch etwas länger. Warum ich die Frage gestellt habe? Verdammt, er war doch sein Urenkel. Ist der Kerl wirklich so kalt, dass es ihm überhaupt nicht nahe geht oder war er direkt froh, dass ein Schandfleck endlich aus seiner Familie getilgt worden ist. Ich wollte lediglich wissen, wie ehrlich er in seiner Antwort ist.“
„Gott sei Dank sind nicht alle Familien hier so“, sagte Maria. „Aber Fritz Brahms und seine Nachkommen sind noch durch eine richtige patriarchalische Schule gegangen. Und Regina hat sich ihm in allem angepasst.“
„Wann ist deren Mann eigentlich gestorben?“
„Der hat es nicht lange bei ihr ausgehalten. Ich weiß gar nicht, ob der noch lebt. Möglich ist es. Regina und der Bergmann haben nach der Hochzeit höchstens zehn Jahre zusammen gelebt, wenn überhaupt so lange, dann, nach der Scheidung, hat sie den gesamten Hof zugeschrieben bekommen. Er hatte in der Zwischenzeit Trost bei einer anderen gesucht. Wenn du mich fragst, kann ich es ihm nicht verdenken. Das war aber für den Richter damals Grund genug, der armen Frau, wie er sich ausdrückte, ihre Existenzgrundlage zu sichern. Regina bekam den Hof, und ihr Mann schaute mehr oder weniger durch die Finger. Seither sind beide Höfe in einer Familie. Fritz bewirtschaftet den eignen Brahmsbetrieb und Regina und Hanne kümmern sich um den Bergmannhof. Die beiden arbeiten eng zusammen, auch wenn sie nach außen hin wie zwei Höfe ausschauen. Der alte Fritz und Regina sollen schon immer prächtig harmoniert haben.“
„Das stand alles in der Familienchronik?“
„Nein, aber wir haben ja nicht nur Däumchen gedreht, als wir gewartet haben, bis du gekommen bist. Wir haben eine Reihe von Leuten befragt. Und dabei habe ich die gesamte Familiengeschichte sehr ausführlich erfahren. Manches musste ich zwar filtern, aber im Großen und Ganzen hat es sich so abgespielt. Wie du dir vorstellen kannst, haben sowohl der alte Fritz wie auch Regina mit ihren Nachbarn manche Sträuße auszufechten gehabt. Auch in den Nachbarschaftsbeziehungen ist nicht alles heiterer Sonnenschein.“
„Für heute machen wir Schluss“, bestimmte Ursprunger. „Morgen sehen wir weiter.“
„Dieses Wochenende ist Seefest in Mondsee. Das bedeutet ziemlich viel Trubel“, warnte ihn Maria Schwaiger vor.
„Ich weiß. Heute fahre ich nach Linz zurück und komme morgen wieder. Ich werde einen Platz zum Nächtigen brauchen.“
„Dafür kann ich sorgen“, sagte Maria.
„Das kommt mir gelegen. Ach ja, ich möchte dich morgen in Zivil sehen. Zieh dir etwas Sommerliches an, etwas, damit man dir nicht gleich die Polizistin ansieht! Ich nehme an, du bist bekannt hier. Bei den Wenigen soll es bleiben.“
„Auch Polizisten haben ein Recht auf Privatleben!“
„Genau das meine ich. Schlaf dich am Vormittag aus! Morgen werden wir eine Nachtschicht einlegen müssen – ach ja, das mit deinem Dienstplan erledige ich gleich morgen. Um dieses freie Wochenende fällst du halt herum.“