Читать книгу Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands - Alfred Bekker - Страница 10

1. Kapitel: Berringer, dein Freund und Helfer

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Ein klickendes Geräusch.

Der Geruch von Benzin.

Dann – Feuer!

Gelbrot, heiß ...

Wie die Hölle ...

Aus der einzelnen Flamme eines Feuerzeugs ein Flammenmeer ...

Darin: zwei Gesichter hinter den Scheiben einer Limousine.

Bettina ...

Alexander ...

Seine Frau und sein Kind, die Mienen im Schrecken erstarrt wie die Fratzen von Gargoyles.

Gefroren in der Zeit – und doch versengt im glutheißen Höllenfeuer.

Ich kann es verhindern!, dachte Berringer. Diesmal kann ich es vielleicht verhindern!

Der Gedanke hatte sich noch nicht einmal zur Gänze in seinem Kopf gebildet, als sein Körper längst handelte. Er wirbelte herum, fasste den hoch gewachsenen Mann mit dem Dreitagebart am Handgelenk und an der Schulter und drückte ihn grob gegen die Wand.

Der Kerl schrie auf und ließ das Feuerzeug fallen, und Berringer löste seine Finger vom Handgelenk des Mannes und presste ihm den Unterarm gegen die Kehle.

„Hör auf, Berry!“, rief eine schrille Stimme, die ihn vage an etwas erinnerte. An jemanden. An ein anderes Leben, das nie hätte Wirklichkeit werden dürfen.

Jemand fasste ihn an den Schultern. Er wandte den Kopf, blickte in ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Ein Frauengesicht. Fein geschnitten, die Augen weit aufgerissen. Die Frisur hatte Stil, die Ohrringe nicht. Sie klimperten. Über dieses Klimpern hatte sich Berringer schon oft geärgert, aber jetzt rettete es ihn, denn es holte ihn augenblicklich zurück. Zurück ins Hier und Jetzt.

„Willst du unseren Klienten abmurksen, oder was soll der Mist?“, fauchte die Frauenstimme. Sie klang schrill und hoch und war genau richtig, um durch den Panzer aus Watte zu dringen, der Berringer im Moment zu umgeben schien und alle seine Empfindungen und Sinneseindrücke extrem dämpfte.

Er spürte plötzlich wieder den Schweiß auf seiner Stirn. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Er hatte einen Puls eines zum Tode Verurteilten, kurz bevor man ihn auf dem Elektrischen Stuhl festschnallte.

„Vanessa ...“, murmelte er.

Seine Stimme klang heiser und entsetzlich schwach. Und dieselbe Schwäche machte sich plötzlich auch in seinen Armen und Beinen breit. Seine Knie begannen zu zittern.

„Na, endlich merkst du es, Berry. Jetzt lass den Kerl los. Zwing mich nicht dazu, dir eins überzubraten. Du kannst von Glück sagen, dass die ›Zehntausend legalen Steuertricks‹ von Konz nicht an ihrem Platz im Regal stehen, warum auch immer.“ Berringer atmete tief durch. Vanessa Karrenbrock, Mitte zwanzig, BWL-Langzeitstudentin ohne den Ehrgeiz, den man Studierenden dieses Fachs für gewöhnlich nachsagte, arbeitete stundenweise in Berringers Detektivbüro, und Berringer fragte sich manchmal, ob das Chaos in seinen Ermittlungen, für das ihr loses Mundwerk stets sorgte, durch die Ordnung aufgewogen wurde, die sie in seine Buchhaltung und Steuerunterlagen brachte.

Aber so sehr Berringer die Erkenntnis auch widerstrebte – in diesem kritischen Moment hatte sie auf ihre rustikal-schrille Art sogar etwas Ordnung in sein zertrümmertes Seelenleben gebracht. Zumindest für den Augenblick.

Berringer wandte den Blick dem völlig verängstigten Dreitagebartträger zu, dessen Nasenflügel vor Angst bebten. Berringer ließ ihn los, strich sein Jackett glatt und trat einen Schritt zurück.

Bei dem Dreitagebartmann übernahm Vanessa das Glattstreichen des Jacketts. „Er hat’s nicht so gemeint“, versicherte sie – Worte, die etwa die gleiche Überzeugungskraft hatten, als wenn ein Lude seinen Mastiff spazieren führte und jedem Passanten versicherte: „Der macht nix. Der will nur spielen.“ Endlich kam der Mann, der vor diesem Ereignis zumindest potenziell als „Klient“ der Detektei Berringer anzusehen gewesen war, zu Atem, während er sich mit einer unbewussten fahrigen Geste erst einmal selbst die Gelfrisur nachhaltig ruinierte, woraufhin ihm die Haare zu Berge standen. „Der Typ ist ja nicht ganz richtig im Kopf! Ich frage mich, wie so ein Psycho frei herumlaufen kann!“

„Sag, dass es dir leid tut, Berry“, forderte Vanessa auf ihre unnachahmliche nachdrückliche Art und Weise. „Fix!“

Berringer schluckte. Allmählich begriff er, was er angerichtet hatte. Er bückte sich, um die Sonnenbrille aufzuheben, die bei dem Handgemenge zu Boden gefallen war.

Ein Billigmodell, das teuer aussehen sollte, erkannte Berringer gleich. Er reichte sie dem Mann. „Es war wirklich nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Sie müssen verstehen, ich ...“

„Klar, jemand versucht mich umzubringen, vor meinem Büro fliegt ein Wagen in die Luft, die Polizei hilft mir nicht, und der Typ, auf den ich meine letzte Hoffnung setze, nimmt mich in den Schwitzkasten und erwürgt mich fast. Aber ich kann das natürlich alles verstehen und sehe das ganz easy!“

Er schielte zu dem Feuerzeug, das noch am Boden lag.

Berringer hatte es eigentlich genau wie die Brille aufheben wollen, aber er konnte es einfach nicht. Er fühlt sich wie gelähmt.

Nein, du darfst nicht wieder abdriften!, versuchte er sich selbst zurechtzuweisen und mental an die Kandare zu nehmen. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Deine Frau und dein Kind sind tot, und du lebst jetzt!, versuchte er sich selbst auf dem Pfad der Realität zu halten – einem sehr schmalen Pfad. Nimm das Feuerzeug! Überwinde dich! Setz dich dem Trigger aus und erfahre, dass er dich nicht mehr beherrscht!

Aber es ging nicht. Wie zur Salzsäule erstarrt stand Berringer da.

Der Kerl mit der selbst ruinierten Gelfrisur wagte es ebenfalls nicht, sich zu rühren, geschweige denn, das Feuerzeug selbst aufzuheben, denn dazu hätte er dem in seinen Augen völlig unberechenbaren Berringer zu nahe kommen müssen.

Vanessa erfasste die Situation. Seufzend schob sie Berringer noch ein Stück weiter zurück, sodass sich der Abstand zwischen den beiden Männern noch vergrößerte, und bückte sich nach dem Feuerzeug.

Anschließend versuchte sie, ihr Lächeln charmant aussehen zu lassen, als sie das Feuerzeug seinem Eigentümer zurückgab.

„Danke“, murmelte der Mann. „Ich mach mich dann besser vom Acker. Irgendwie bin ich hier anscheinend fehl am Platz.“

„Bleiben Sie“, sagte Berringer. „Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Sie mir gerade so beiläufig entgegengeschleudert haben, dann sind Sie hier sogar genau richtig.“

„Ach ja?“

„Es gibt nur wenige, die Ihnen helfen können. Viele werden das von sich behaupten, aber das sind Kaufhausdetektive und Leute, die nur Ihr Geld wollen, denen Ihre Sicherheit aber vollkommen gleich ist.“

„Ich hatte gerade nicht den Eindruck, dass sie Ihnen was bedeutet.“

„Fangen wir von vorn an. Ich heiße Berringer, und das ist meine Hilfskraft Vanessa Karrenbrock, die Ihnen die Rechnung schreiben wird, wenn wir für Sie tätig werden. Ich bin ehemaliger Polizeihauptkommissar und kenne mich aus. Außerdem habe ich noch einen guten Draht zu den Kollegen und komme so an Informationen heran, die nicht so einfach zugänglich sind.“

„Das war's also. Ein Zwei-Mann-Betrieb. Ich habe gehört, dass amerikanische Detekteien oft mehr als ein Dutzend Mitarbeiter haben, und selbst hier in Deutschland ...“

„Wir haben noch einen dritten Mann“, warf Vanessa ein - wobei sie ihrer Formulierung nach dann ebenfalls ein Mann sein musste, aber die Herausstellung ihrer weiblichen Identität schien ihr wohl im Moment von zweitrangiger Bedeutung.

„Herr Mark Lange ist ein hoch qualifizierter Mitarbeiter aus der Sicherheitsbranche, den wir glücklicherweise abwerben konnten. Tja, Sie sehen, gute Leute sind überall rar. Das ist bei Ihnen wahrscheinlich genauso. Ich ... äh, ich meine ... das schätze ich mal, obwohl ich noch nicht weiß, wer Sie sind und was Sie so machen.“

„Frank Marwitz, Event-Agentur EVENT HORIZON“, stellte er sich vor, und die Geschäftsmäßigkeit, mit der er dies tat, verriet, dass er diesen Halbsatz wahrscheinlich jeden Tag fünfzig Mal am Telefon aufsagte.

„Setzen wir uns“, schlug Berringer vor. „Kaffee ist leider alle, aber mich würde Ihr Problem interessieren.“

Marwitz schien noch nicht so recht entschieden zu haben, ob er dem Braten nun trauen sollte oder ob nicht doch sein ursprünglicher Entschluss, die Detektei fluchtartig wieder zu verlassen, die bessere Idee war.

Berringer ging zum Tisch und setzte sich auf einen der einfachen Stühle. Abgesehen von einer Computeranlage und allem Telekommunikationszubehör, was man in einer Detektei so brauchte, war die Einrichtung eher spärlich. Es gab in diesem etwas heruntergekommen wirkenden Büro im Düsseldorfer Stadtteil Bilk nur das Allernötigste – dafür aber einen großartigen Ausblick auf die uralte, langsam verblassende Blümchentapete, deren unmerkliche Verwandlung vom schrillen Hippie-Design zum zarten Aquarell wohl Jahrzehnte in Anspruch genommen hatte.

Das Telefon klingelte.

Berringer ging ran. Es war Mark Lange, der von Vanessa so hoch gepriesene, hoch qualifizierte dritte Mann der Detektei. In Wahrheit war er ein arbeitslos gewordener Angestellter des Sicherheitsunternehmens Delos, das vor ein paar Jahren in die Insolvenz gegangen war, weil einige leitende Mitarbeiter die Kundengelder von Banken und Versicherungen, die sie eigentlich von A nach B transportieren und dabei bewachen sollten, in die eigene Tasche gesteckt hatten. Das Ganze hatte nach dem berühmten Schneeballprinzip funktioniert, und folgerichtig war diese Blase irgendwann geplatzt. Die Verantwortlichen saßen nun im Knast und die Mitarbeiter auf der Straße, wobei dieses Schicksal alle gleichmäßig unbarmherzig getroffen hatte, die Ehrlichen wie die Halunken.

Mark war im Grunde ein armer Hund und keineswegs ein hochkarätiger Sicherheitsfachmann. Er hatte vor seinem Engagement bei Delos nur eine kurze Umschulung hinter sich gebracht, die aus ihm einen Wachmann hatte machen sollen.

Berringer wusste aus seiner Zeit bei der Düsseldorfer Polizei, wie erbärmlich der Ausbildungsstand dieser Sicherheitsfirmen häufig war. Das qualitativ Hochwertigste an diesen Security Guards, die auch zur Bewachung von Werksanlagen oder als Sicherheitsdienst in Bürohäusern eingesetzt wurden, war oft schon die respekteinflößende Fantasie-Uniform, mit deren martialischer Pseudoautorität sich die Obdachlosen aus den noblen Passagen herausmobben ließen.

„Brauchst du mich heute?“, fragte Mark. „Ich hab da einen lukrativen Schwarzarbeit-Job. Möbelschleppen bei einem Firmenumzug. Da könnt ich mir 'n paar Euro dazuverdienen, damit endlich mal mein Konto wieder im Plus ist.“

„In Ordnung“, sagte Berringer.

„Aber wenn bei dir irgendwas anliegt, dann hat das natürlich Vorrang.“

„Ich hab hier gerade einen Klienten. Du beurteilst die Lage am besten vor Ort und entscheidest dann nach Lage der Dinge“, sagte Berringer in einem Tonfall, der an Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere kaum zu überbieten war.

„Irgendwie redest du heute komisch“, fand Mark.

„Ist schon in Ordnung.“

„Na ja, wie auch immer. Danke, dass du mir keine Knüppel zwischen die Beine wirfst und mich Geld verdienen lässt. Mein Kühlschrank und mein Bankkonto werden es dir danken.“

„Wiedersehen und alles Gute“, sagte Berringer und beendete das Gespräch. Dann fuhr er – an Vanessa gewandt, in Wahrheit aber mehr an Marwitz gerichtet – fort: „Auf Mark werden wir im Moment verzichten müssen. Die Observation zieht sich noch etwas hin. Aber er ist zuversichtlich, dass wir die Angelegenheit heute noch zum Abschluss bringen können.“

„Wunderbar!“, sagte Vanessa etwas zu übertrieben, als dass es wirklich überzeugend gewesen wäre. Doch Marwitz war dennoch beeindruckt. Vielleicht war auch seine Furcht vor dem, weswegen er die Detektei aufgesucht hatte, größer als die Angst davor, von Berringer noch einmal in den Würgegriff genommen zu werden.

Zögernd setzte auch er sich. „Ihr Laden scheint gut zu laufen. Offenbar behandeln Sie nicht alle Ihre Klienten so grob wie mich.“

„Ich kann mich gern noch dreimal entschuldigen, wenn Sie wollen“, erwiderte Berringer knurrig. Die Situation hatte ihn mindestens genauso mitgenommen wie das „Opfer“ seiner Attacke. „Aber es wird Ihnen wahrscheinlich kaum ein Trost sein, wenn ich Ihnen den Grund dafür erkläre, weshalb ich mich Ihnen gegenüber – wie soll ich sagen? – etwas merkwürdig benommen habe.“

„Das ist reichlich untertrieben“, erwiderte Marwitz. „Ich betrete Ihr Büro und denk mir nichts Böses, da fällt der Herr des Hauses mich an, als ob ich ein Einbrecher oder was weiß ich wäre! Ich habe Ihnen weder etwas getan, noch Sie provoziert oder beleidigt. Ja, genau genommen hatte ich ja noch nicht einmal die Möglichkeit, überhaupt ein Wort zu sagen, da haben Sie mich schon angegriffen!“ Er betastete seinen Hals, insbesondere die Gegend um den Adamsapfel. „Glauben Sie mir, wenn ich nicht so verzweifelt wäre, ich wäre schon weg. Davon abgesehen ...“ Er räusperte sich. „Ein Bekannter hat Sie mir empfohlen, den Sie offenbar nicht so traktiert haben.“

„Darf ich fragen, wer dieser Bekannte ist?“

„Frank Meier. Besser bekannt als Paul Pauke.“

Berringer nickte. „Ja, da klingelt’s bei mir.“

Frank Meier trat unter dem Namen Paul Pauke als Partysänger in den Clubs von Mallorca auf und hatte unter den Nachstellungen einer Stalkerin gelitten, bis Berringer dem ein Ende gesetzt hatte.

Marwitz wurde etwas lockerer. „Ich war es ja, der Paul Pauke dazu überredet hat, auch in Deutschland aufzutreten. Schließlich gibt es genügend Leute, die ihre Urlaubserinnerungen von der Sonneninsel in der Heimat gern wieder auffrischen lassen, und wo immer wir zusammen aufgetreten sind, sind wir auch hervorragend angekommen. Und ... nun, wenn Sie nicht gewesen wären, würde diese Spinnerin Paul noch immer belästigen. Aber Sie haben genug Beweise sammeln können, um sie schließlich juristisch an den Eiern zu kriegen und ...“ Marwitz stockte. Offenbar war ihm die Absurdität seines Sprachbilds selbst aufgefallen. „Also, Sie wissen schon, was ich meine.“

„Klar“, sagte Berringer.

„Wussten Sie, dass Paul Pauke wegen dieser Verrückten schon fast so weit war, die Auftritte in Deutschland abzublasen?“

Berringer nickte. „Ja, das hat er mir gesagt, und ich habe ihm damals erklärt, dass ihm das sehr wahrscheinlich nichts nützen würde, weil dieser Täter-Typ notfalls auch den letzten Cent dafür ausgibt, dem Opfer zu folgen. Oder in diesem Fall Dauerurlaub auf Mallorca zu machen.“

„Nun, jedenfalls hat mir Paul Pauke so ziemlich alles erzählt, was Sie für ihn getan haben, und ich bin natürlich froh, dass er weitermacht und ich ihn weiterhin als Party-Act in hiesigen Discos einsetzen kann. Na ja, daher wusste ich auch, dass Sie bei der Polizei waren und auf Ihrem Gebiet wirklich gut sind. Mein Problem ist ja so ähnlich wie das von Pauke. Nur, dass diese Stalkerin nicht versucht hat ihn umzubringen.“ Während Marwitz redete, hatte er wieder sein Feuerzeug hervorgezogen und spielte damit herum. Wie ein Taschenspieler ließ er es durch die Finger wandern, bis es ihm zu Boden fiel. Dabei bewegte sich der Mund des Event-Managers unablässig, er machte nicht einmal eine Komma-Pause, auch nicht, als er sich nach vorn beugte, um das Feuerzeug wieder vom Boden aufzunehmen, woraufhin er anfing, damit herumzuklicken.

Berringer spürte, wie sich wieder Schweiß auf seiner Stirn bildete. „Hören Sie auf damit!“, unterbrach er Marwitz so barsch, dass sich dagegen jeder Unteroffizier morgens auf dem Kasernenhof wie ein säuselnder Sozialpädagoge ausnahm.

„Wie ...?“, fragte Marwitz.

„Tun Sie besser, was er sagt“, bat Vanessa und verdrehte genervt die Augen.

Marwitz blickte auf sein Feuerzeug, runzelte die Stirn und steckte es ein. „Seitdem man versucht, mich umzubringen, rauche ich wieder, obwohl ich es seit meinem Engagement beim Shopping-Sender drangegeben hatte, weil es die Haut ruiniert. Aber dass Sie so ein militanter Nichtraucher sind, Herr Berringer ...“

„Der Reihe nach“, unterbrach ihn Berringer. „Wenn Sie schon wissen, dass ich bei der Polizei war, dann sollten Sie auch wissen, warum ich den Dienst dort geschmissen hab. Vor ein paar Jahren ermittelte ich gegen das organisierte Verbrechen, und diese Schweinehunde haben sich an meiner Familie vergriffen. Meine Frau und mein Kind wurden in unserem Wagen in die Luft gesprengt. Ich habe mit angesehen, wie sie darin verbrannten. Ob die Gangster dachten, dass ich auch drin sitze, weiß ich nicht. Jedenfalls ...“

Als er stockte, führte Vanessa den Satz für ihn zu Ende: „... leidet er seitdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.“

„Ich habe davon gehört“, erklärte Marwitz, und er sagte es in einem fast mitleidigen Tonfall. Genau deswegen erzählte Berringer normalerweise niemandem etwas davon.

Aber in diesem Fall ließ es sich nicht vermeiden. Schließlich hatte Marwitz ein Recht darauf zu erfahren, weshalb Berringer scheinbar grundlos auf ihn losgegangen war.

„Ich konnte nicht länger bei der Polizei bleiben. Es ging einfach nicht“, sagte Berringer, „und deswegen habe ich damals den Dienst quittiert.“

„Ich verstehe. Wie bei den Afghanistan-Soldaten, die erlebt haben, wie ihre Kameraden in die Luft gesprengt wurden.“

„So ähnlich“, bestätigte Berringer. „Als Sie plötzlich mit dem Feuerzeug herumspielten, hat es in mir ausgesetzt. Normalerweise habe ich das im Griff. Diesmal war’s leider nicht so. Ich kann nur nochmals versichern, wie leid mir das tut – aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass es nicht wieder geschieht, wenn Sie hier unbedingt den Feuerteufel spielen wollen. Wenn Sie jetzt denken, dass ich vielleicht doch nicht der Richtige wäre, um Ihr Problem zu lösen, dann hätte ich Verständnis dafür und Sie sollten sich jemand anderen suchen.“ Marwitz zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sagen, Sie haben das im Griff ...“ Er warf einen Blick auf das Feuerzeug in seiner Hand und ließ es dann schnell in seiner Hosentasche verschwinden. „Paul Pauke haben Sie ja auch helfen können.“

„Gut, dann wird Ihnen Vanessa mal unsere aktuelle Preisliste raussuchen, damit Sie wissen, was finanziell auf Sie zukommt, wenn ich für Sie tätig werde.“

„Geld ist kein Problem“, behauptete Marwitz.

Vanessa hatte inzwischen ein Exemplar der Preisliste aus einer Schublade hervorgeholt und gab sie Marwitz, dessen Augenbrauen sich zunächst etwas zusammenzogen, dann aber nickte er. „Okay.“

„Nun erzählen Sie mal, worum es geht“, forderte Berringer.

Marwitz atmete tief durch und bewegte nun nervös den großen Zeh, der sich durch das weiche Leder seines spitz zulaufenden Schuhs drückte. Auch der Schuh bewegte sich ein wenig, und das erzeugte ein nerviges leises Geräusch.

Der Mann ist vollkommen fertig, dachte Berringer, der allmählich wieder eine Antenne für seine Umgebung bekam. Eigentlich waren die genaue Beobachtungsgabe und die instinktsichere Interpretation von Kleinigkeiten in Mimik, Gestik, Körpersprache und Tonfall eine seiner Stärken. Er konnte Personen sehr schnell und sehr sicher einschätzen, und gerade seit er als privater Ermittler tätig war und ihm der erkennungsdienstliche Apparat der Düsseldorfer Polizei nicht mehr zur Verfügung stand (auf jeden Fall nicht mehr in gleicher Weise wie früher), war er auf diese Fähigkeit mehr denn je angewiesen.

Allerdings gab es gewisse Momente, in denen sie vollkommen aussetzten. Und einer dieser Momente war gewesen, als er Marwitz angegriffen hatte. Dann war er ein Gefangener der Vergangenheit und seine Gedanken nur auf diesen einen Augenblick konzentriert, an dem sich für ihn alles verändert hatte. Nichts war so geblieben, wie es war. Es gab ein Leben davor und eines danach, und beide hatten nicht allzu viel miteinander zu tun.

Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt!, ermahnte er sich. Laut der Anzeige an deinem Rechner ist es 12 Uhr 29. Du sitzt in deinem Büro im Stadtteil Bilk einem Klienten gegenüber, der sich trotz der abschreckenden Geschichten, die du über dich selbst kundgetan hast, noch von dir helfen lassen will, was wohl nur bedeuteten kann, dass ihm niemand anderes helfen kann oder will.

Die Vergegenwärtigung der Realität anhand von fassbaren Details war eine Strategie, die von Psychologen empfohlen wurde, um ein Trauma unter Kontrolle zu halten. Es sollte verhindern, dass ein Geruch, ein Geräusch, ein Lichtreflex oder irgendetwas anderes sonst als Trigger wirkte und man wieder anfallartig in den Moment versetzt wurde, in dem das traumatisierende Ereignis stattgefunden hatte. Ganz verhindern ließ es sich nicht. Der Körper hatte sein eigenes Gedächtnis, so hatte man es Berringer erklärt. Ein Gedächtnis, das sich vom Gehirn wenig vorschreiben ließ und in der Lage war, sich an eine Raumtemperatur bis auf ein Zehntel Grad genau zu erinnern – um damit einen Anfall auszulösen.

„Also“, begann Marwitz, „gestern Abend war ich in meinem Büro und habe auf so einen Blödmann gewartet, der heute bei der großen Ü-30-Party in der Kaiser-Friedrich-Halle von Mönchengladbach als Michael-Jackson-Double einspringen soll.“

„Wieso Blödmann?“, fragte Berringer.

„Der Typ kann nichts und wollte gleich Geld im Voraus. Aber ich hab keine Wahl, als ihn zu nehmen, weil mich sein Vorgänger ziemlich kurzfristig sitzen gelassen hat. Seit der King of Pop tot ist, können sich seine Lookalikes und Imitatoren vor Auftrittsangeboten kaum retten, und das macht die Sache für jemanden wie mich leider nicht leichter. Aber egal. Es war schon Mitternacht, und der Typ kam und kam nicht. Dann taucht er schließlich doch noch auf, und es stellt sich heraus, dass er nicht singen kann, Michael Jackson so ähnlich sieht wie eine Salatgurke einer Karotte und auch den Moonwalk kaum hinkriegt. Na ja“, Marwitz verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen, „er kann ja vielleicht mit Mundschutz auftreten, dann fällt die nicht vorhandene Ähnlichkeit nicht so auf, und wenn er beim Playback die Lippen nicht synchron bewegt, kriegt das auch keiner mit. Und jetzt, da alle Welt um Jacko trauert, erhält er dafür wahrscheinlich trotzdem Applaus. Mit hoher Stimme ›I love you‹ ins Mikro hauchen, wird ja wohl nicht so schwer sein ...“

„Was passierte an dem Abend?“, versuchte Berringer das Gespräch wieder auf den Kern der Sache zu bringen. Er konnte sich inzwischen lebhaft vorstellen, wie Marwitz als Plaudertasche vom Dienst nacheinander einen Kindergeburtstag, einen Seniorennachmittag, eine Karnevalssitzung und eine Ü-30-Party über die Bühne brachte und vielleicht noch zwischendurch eine Amateur-Modenschau für ein Kaufhaus moderierte.

„Ich wollte dem Jacko-Double gerade fünfhundert Euro geben, hab meine Geldkassette aus der Schublade geholt, da gibt es plötzlich einen Knall. Eins der Bürofenster zerspringt, und ein Stahlbolzen zischt an mir vorbei und haut mit einer Wucht in die Wand rein – ich sag Ihnen, so was haben auch Sie noch nicht erlebt. Tja, und im nächsten Moment fliegt der Wagen des Jackson-Doubles in die Luft, und man hört laut und deutlich, wie ein paar Motorräder davonbrausen.“ Als er erwähnte, dass das Auto des Lookalikes explodiert war, zuckte Berringer merklich zusammen. Das Feuer ... Die verzerrten Gesichter seiner Frau und seines Sohnes in den Flammen ... Berringer riss sich am Riemen und fragte: „Und dann?“

„Na, was und dann? Das war‘s im Wesentlichen. Ich hab die Feuerwehr und die Polizei gerufen und kann jetzt nur beten, dass der falsche Jackson heute Abend auch auftaucht. Ich hätte mir ja schon längst selbst den Moonwalk beigebracht, wenn ich nicht seit meinem Skiunfall im letzten Jahr Probleme mit dem Knie hätte. Die fünfhundert Euro hat er jedenfalls mitgenommen, aber nachdem sein Wagen ausgebrannt ist, hat er ja vielleicht einen so großen Bedarf an Geld, dass er heute Abend wirklich auftritt.“

„Name und Adresse des Jacko-Doubles“, forderte Berringer.

„Arno Schwekendiek. Adresse, Telefonnummer und so weiter hab ich hier aufgeschrieben.“ Er kramte einen Zettel aus der Jacketttasche hervor und schob ihn Berringer über den Tisch. „Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was Sie von dem Kerl wollen.“

„Er ist ein wichtiger Zeuge, und da sein Auto bei diesem Anschlag in die Luft gesprengt wurde, könnte es sein, dass er das eigentliche Ziel der Attacke war und nicht Sie.“

„Nein, das glaub ich nicht“, widersprach Marwitz. „Sehen Sie, seit Wochen werde ich immer wieder von einer Rockergang bedroht. Die haben Veranstaltungen gesprengt, bei denen ich moderiert hab. Das Fest der Landjugend in Knickelsdorf zum Beispiel. Da haben die mit ihren Maschinen einen Riesen-Tumult veranstaltet.“

„Und da Sie vergangene Nacht Motorräder gehört haben, glauben Sie, dass diese Bande dahintersteckt?“

„Genau! MEAN DEVVILS nennen die sich. DEVVILS mit Doppel-V. Die sind in der ganzen Gegend berüchtigt.“

„Hat sich die Polizei die Typen nicht vorgenommen nach der Sache in Knickelsdorf?“, fragte Berringer.

„Nun, da laufen ein paar Verfahren, aber die Typen waren maskiert, und es ist wohl nicht so leicht, da Einzelnen was nachzuweisen. Und ich fürchte, dass wird jetzt wieder so sein.“

„Und weshalb meinen Sie, haben es die Burschen auf Sie abgesehen?“ Marwitz zuckte mit den Schultern. „Ich habe bisher immer gedacht, dass mir da jemand von der Konkurrenz richtig schaden will. Mich aus dem Job drängen oder so.

Verstehen Sie? Wenn sich herumspricht, dass es bei Veranstaltungen, bei denen ich auftrete, stets zu Krawallen kommt, engagiert mich niemand mehr.“

„Ich nehme an, die Polizei war am Tatort und hat sich alles angesehen“, vermutete Berringer.

„In Knickelsdorf?“

„Nein, bei dem Anschlag letzte Nacht.“

„Ja, sicher. Aber einen richtig kompetenten Eindruck haben die mir nicht gemacht.

Ich habe denen gesagt: Was soll denn noch passieren, damit Sie endlich ein paar von der Bande festnehmen? Aber dieser rothaarige Typ meinte nur, dass ich ganz beruhigt sein könnte, sie würden ihre Arbeit schon machen. Na großartig! Ich darf gar nicht an heute Abend denken ...“

„Wieso?“

„Na, die Ü-30-Party in der Kaiser-Friedrich-Halle. Können Sie da nicht mit Ihren Leuten hinkommen?“

„Und Sie beschützen?“

„Vielleicht fällt Ihnen ja was auf. Wenn da heute Abend was passiert, dann ...“

„Was dann?“

Marwitz sah Berringer an und schluckte. „Dann bin ich draußen, verstehen Sie?“ Die Augen des Event-Managers flackerten unruhig. „Jetzt steht das Schützenfest in Korschenbroich an und dann das große internationale Feldhockey-Turnier, wo ich den Stadionsprecher machen werde und natürlich durch das Vorprogramm moderiere. Das ist ein Riesending! Ich weiß nicht, ob Sie’s wissen, aber der Hockeypark in Mönchengladbach ist das größte Feldhockey-Stadion Europas und ...“

„Ich verfolge eigentlich mehr das Schicksal der Borussia“, unterbrach Berringer, um Marwitz‘ Abschweifungen zu stoppen.

„Was ich sagen wollte, ist: Es gab da im Vorfeld einen sehr starken Konkurrenzkampf“, erklärte Marwitz, „und ich habe bei beiden Veranstaltungen die Sache für mich entschieden. Ich habe einfach überzeugt. Gutes Konzept, gute Probemoderation, ein rundes Paket eben. Aber es gab da noch jemand anderen, und den hat das sehr gewurmt: Eckart Krassow, meinen lokalen Konkurrenten. Wir machen so ziemlich das Gleiche, nur ist er in jeder Hinsicht etwas schlechter als ich. Schlechter bei der Moderation und schlechter im Preis ...“

Berringer runzelte die Stirn. „Und Sie glauben, dass dieser Krassow etwas mit dem Anschlag auf Sie zu tun hat? Ist der etwa nach Feierabend Rocker und fährt mit den MEAN DEVVILS auf 'ner Harley durch die Gladbacher City?“

„Nein, natürlich nicht. Aber erstens könnte es doch sein, dass die MEAN DEVVILS von Krassow bezahlt werden, um mich aus dem Markt zu drängen ...“

„Das glauben Sie wirklich?“

„... und zweitens ist Krassow Armbrust-Schütze in einem Verein.“

„Ich glaube, das müssen Sie mir erklären.“

„Na, der Stahlbolzen, der mich fast umgenietet hätte! Das war ein Armbrustbolzen! Das hat die Polizei herausgefunden. Wussten Sie, dass diese Dinger, wenn sie aus einer heutigen Hightech-Armbrust abgeschossen werden, sogar Panzerplatten durchschlagen können? Die Durchschlagskraft ist höher als bei den meisten Schusswaffen, und – jetzt kommt‘s! – sie zählen zwar als Schusswaffen, aber sie unterliegen nicht den dafür eigentlich infrage kommenden Gesetzen. Niemand braucht sich irgendwo anzumelden oder muss einen Waffenschein beantragen, wenn er so ein Ding erwirbt. Und wenn man wirklich auf Nummer sicher gehen will, geht man in die Schweiz, da zählen Armbrüste noch nicht mal als Waffe, und es gibt überhaupt keine Beschränkungen beim Erwerb, beim Verkauf, beim Besitz und so weiter.“

Klar, ist ja auch das Land von Wilhelm Tell, dachte Berringer, enthielt sich aber eines Kommentars auf Marwitz‘ gesammeltes Google-Wissen, das dieser sich offenbar auf die Schnelle angeeignet hatte, um sich schlau zu machen.

„Na, dann geben Sie mir sicherheitshalber auch die Adresse Ihres Konkurrenten“, sagte Berringer stattdessen. Er drehte den Zettel um, auf dem schon die Daten des Jacko-Doubels standen, und holte einen Kugelschreiber aus der Jackettinnentasche.

„Eckart Krassow hat sein Büro in der Landgrabenstraße. Nummer habe ich vergessen. Aber er hat 'ne Homepage, da steht alles drauf. Übrigens, soweit ich gehört habe, wäre es nicht das erste Mal, dass die MEAN DEVVILS solche Aufträge ausführen. Allerdings haben sie das bisher eher für das Rotlichtmilieu, Drogenhändler oder Inkasso-Büros getan. Nur will Ihr ehemaliger Kollege meinen diesbezüglichen Hinweisen nicht nachgehen. Den hat das gar nicht interessiert, diesen Ignoranten. Stattdessen wollte er dafür sorgen, dass bei mir jetzt häufiger Streifenwagen vorbeifahren, aber das glaube ich ihm nicht. Wäre ohnehin auch Blödsinn, weil ich ja ständig auf Achse bin. Ja, aber so ist das: Da wird man mit dem Tod bedroht und bekommt noch nicht mal anständigen Personenschutz! Das sind eben Beamte. Die haben ja ihre Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre, und was für Sorgen ein Selbstständiger wie ich so hat, das können die sich nicht mal ansatzweise vorstellen. Ich sage Ihnen, schon unser Steuersystem und die Pensionen ...“

Nein, bitte nicht!, dachte Berringer. Nicht diese Leier! „Sie sagten, mein Ex-Kollege war rothaarig. Hieß der zufällig Anderson?“

„Ja, so hieß er.“

„Sie haben Glück.“

„Als ich mit diesem Kerl zu tun hatte, hatte ich den Eindruck nicht gerade. Das ist ja einer der Gründe, warum ich zu Ihnen gekommen bin.“

„Kriminalhauptkommissar Thomas Anderson, früher Kripo Düsseldorf, jetzt Kripo Mönchengladbach“, murmelte Berringer. „Ich kenne ihn gut. Wir waren zusammen in der Ausbildung, und Sie sollten wirklich nicht zu schlecht über ihn denken.“

„Wieso?“

„Als ich Paul Paukes Stalkerin überführt hab, brauchte ich ein paar Informationen, an die ich ohne Anderson nicht herangekommen wäre.“

„Na ja ...“, gab sich Marwitz nun etwas kleinlaut. „Ich will ja nichts gesagt haben. Und ganz bestimmt will ich Ihren ehemaligen Kollegen nicht schlechter reden, als er ist ...“

Berringer lächelte kühl. „Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen, Herr Marwitz.“

„Aber Sie müssen auch mich verstehen. Ich bin mit den Nerven ziemlich am Ende.

Tja, und heute Abend muss ich natürlich wieder megagut drauf sein, wenn die ergrauten Achtzigerjahre-Teenies abfeiern wollen und so tun, als wäre die Zeit an ihnen vorbeigegangen und nur sie selbst jung und geil geblieben.“ Da passt du doch ganz gut dazwischen!, dachte Berringer.

„Klingt nach einem wirklich harten Job“, sagte er laut und mit einigermaßen überzeugend geheucheltem Mitleid.

„Kann ich heute Abend mit Ihnen und Ihrer Truppe rechnen?“, vergewisserte sich Marwitz.

„Ja, Sie können sich auf uns verlassen“, versprach Berringer. „Hundertprozentig.“

„Ich rede mit dem Veranstalter, damit man Sie hereinlässt.“

Wäre ja noch schöner, wenn ich für diesen Mist noch bezahlen müsste!, dachte Berringer. Alle Formen des organisierten Frohsinns waren ihm verhasst, und das hatte ausnahmsweise nichts mit seinem Trauma zu tun, sondern lag in seiner tiefsten Natur begründet. Das hatte er feststellen müssen, als es ihn vor Jahren aus dem heimatlichen, komplett frohsinnsfreien, von muffigen Sturköpfen dominierten Münsterland in das karnevalsverrückte Düsseldorf verschlagen hatte.

Marwitz wandte sich an Vanessa. „Ich werde sogar versuchen, Sonderkarten für Sie aufzutreiben. Für den Backstagebereich und so.“ Er schenkte Vanessa ein öliges Lächeln, und zu Berringers Entsetzen schien Marwitz damit bei ihr sogar zu punkten.

Jedenfalls kicherte sie.

Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, meldete sich Marwitz’ Handy, indem es in reichlich scheppernden Akkorden den Triumphmarsch aus Aida schmetterte.

Viel Schein, wenig Sein, dachte Berringer. Aber unglücklicherweise schien sich genau diese besondere Angeber-Spezies bestens zu vermehren.

„Marwitz, Agentur Event Horizon – Motto: Wir machen alles möglich, aber Wunder dauern fünf Minuten länger. Was kann ich für Sie tun?“ Berringer überlegte, wie oft Marwitz diesen Spruch wohl schon heruntergerattert hatte, um ihn in dieser exorbitanten Geschwindigkeit fehlerfrei und immer noch deutlich akzentuiert über die Lippen zu bringen. Da zeigt sich der wahre Profi, dachte Berringer.

Marwitz schien das größte Schnellsprechtalent seit Dieter Thomas Heck zu sein, doch der Fluch der späten Geburt hatte dafür gesorgt, dass seine Zeit schon vorbei gewesen war, bevor er seine Karriere hatte starten können. Der Mantel der Geschichte hatte diesen Moderatorentyp gestreift und war an ihm vorbeigegangen, und nun mussten Männer wie Frank Marwitz auf Ü-30-Partys grölende Massen unterhalten anstatt eine Samstagabendshow im ZDF zu moderieren.

Marwitz sagte ein paar Mal knapp, zackig und ganz gegen seine ansonsten ausschweifende Diktion „Ja!“ und beendete dann das Gespräch. Dann stand er auf und sah gewichtig auf seine Armbanduhr, die zwar aussah wie eine Rolex, aber nur ein preiswertes Imitat war, wie Berringer auf den ersten Blick erkannte. In der Zeit, als er noch mit einer Polizeimarke gegen das organisierte Verbrechen gekämpft hatte, hatte er unzählige solcher Fälschungen sichergestellt. Sie wurden von kriminellen Banden über die EU-Grenzen geschleust und dann für einen Bruchteil des Preises angeboten, den ein Originalprodukt kostete.

„Ich muss leider weg. Ich habe wider Erwarten jemanden gefunden, der mir eine PA-Anlage liefern kann.“

„Wie ...?“, fragte Berringer.

„PA – Public Adress. Eine Anlage zur Beschallung einer öffentlichen Veranstaltung – also mit genügend Leistung.“

Marwitz hatte Berringer gründlich missverstanden. Berringer wusste durchaus, was eine PA-Anlage war. Er wunderte sich nur, dass sie Marwitz plötzlich wichtiger war als seine Sicherheit. Jedenfalls schien er auf einmal keinerlei Furcht mehr davor zu haben, dass man noch einen weiteren Anschlag auf ihn verüben könnte.

„Wir sehen uns also heute Abend in der Kaiser-Friedrich-Halle“, sagte Marwitz und eilte schon Richtung Tür.

„Wann fängt die Party denn an?“, fragte Berringer schnell.

„Um acht. Aber ich bin schon um sieben da, und es wäre schön ...“ Den Rest bekam Berringer nicht mehr mit.

„Seltsamer Typ“, sagte Berringer, als der Event-Manager weg war.

„Ich fand ihn nett“, meinte Vanessa.

„Na ja ...“ Berringer bemühte sich, nicht mit den Augen zu rollen.

Als nächstes versuchte er Mark Lange anzurufen, um ihm zu sagen, dass er ihn am Abend unbedingt brauche. Aber Mark war nicht erreichbar. „Hat bestimmt das Handy abgestellt, damit ich ihn nicht belästige“, brummte Berringer.

„Schreib ihm doch 'ne SMS“, schlug Vanessa vor.

Berringer seufzte. „Bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, knurrte er. Er hoffte nur, dass sich Mark die Nachricht auch rechtzeitig ansah. „Mit dir rechne ich natürlich auch ganz fest“, fügte er an Vanessa gerichtet hinzu.

„Kein Problem.“

Na, da hat der Charme des Möchtegern-Medienstars aber volle Wirkung gezeigt!, ging es Berringer durch den Kopf, denn ansonsten brachte Vanessa ganz obligatorisch ein paar Widerworte vor, wenn er eine Aufgabe für sie hatte.

Die nächste Nummer, die Berringer wählte, gehörte Kriminalhauptkommissar Thomas Anderson. Sie war im Adressbuch der Telefonanlage gespeichert.

„Kann ich gleich mal vorbeikommen?“, fragte der Detektiv. „Wie, was heißt hier: Es ist im Moment gerade schlecht? Die Sache ist sehr wichtig, und eine Hand wäscht die andere, das weißt du doch.“

Berringer lauschte der Antwort, sagte dann „Ja, ja – schon gut“ und legte auf.

„Na, meiden dich jetzt schon alte Freunde, Berry?“, fragte Vanessa spitz.

„Nein, das nicht. Allerdings muss ich in einer halben Stunde in Gladbach sein. Thomas muss in die Drachenhöhle.“

Vanessa runzelte die Stirn. „Ist dein Kommissar-Kumpel nicht ein bisschen zu alt für Fantasy-Rollenspiele?“

„Drachenhöhle wird im Gladbacher Polizeipräsidium das Büro der Staatsanwaltschaft genannt, insbesondere das von Frau Dr. Müller-Steffenhagen. Und bei der soll der arme Thomas in 'ner Stunde antanzen.“

„Klingt ja richtig gruselig“, neckte Vanessa.

„Ja, da bin ich richtig froh, mit dem ganzen Laden nichts mehr zu tun zu haben“, seufzte Berringer.

Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands

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