Читать книгу Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands - Alfred Bekker - Страница 12

2. Kapitel: In den Straßen von Mönchengladbach

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Die Treppe zu Berringers Büro im vierten Stock mehrmals täglich hoch- und dann wieder auf Erdgeschossniveau hinabzusteigen, war gegenwärtig der einzige Sport, den er betrieb – vom Denksport mal abgesehen, den sein Job manchmal mit sich brachte.

Angeblich war Bilk der Stadtteil mit den meisten Frauen und der höchsten Geburtenrate in ganz Düsseldorf; nirgends in der Landeshauptstadt gab es mehr Kinder. In den vielen Kneipen wurde aber trotzdem Alt und nicht Malzbier ausgeschenkt. Eingefleischte Lokalpatrioten behaupteten sogar, dass man in der Bilker Lorettostraße viel besser shoppen könnte als auf der Kö.

Berringer allerdings nahm eher an, dass Leute, die so etwas von sich gaben, einfach nur schon zu lange nicht mehr aus Bilk herausgekommen waren, vielleicht weil sie den ganzen Tag über einen Kinderwagen vor sich herschoben. So toll dieser Stadtteil mit seinen schmucken Altbauten, den kleinen Straßen und den vielen Bäumen auch war, in Bilk zu wohnen hätte sich Berringer nicht vorstellen können. Sein privates Domizil lag im Düsseldorfer Hafen, fünfzehn Gehminuten entfernt, und war ein Hausboot, für das er noch immer keinen richtigen Namen gefunden hatte. So hieß der umgebaute Frachter einfach DIE NAMENLOSE.

Auch bis zu seinem Wagen musste Berringer an diesem Tag fast eine Viertelstunde gehen, nur in die andere Richtung. Parkplätze waren in Bilk so knapp wie überall in der Landeshauptstadt. Die legalen Parkplätze waren sogar noch knapper und die, für man nichts bezahlen musste, eigentlich immer besetzt.

Aber für Berringer hatte das sein Gutes. Manchmal wachte er morgens auf, und es schien keinen Grund zu geben, das Bett zu verlassen. Doch bevor man sich der Depression ergab, riss einen der Gedanke aus den Federn, dass man vielleicht keinen Parkplatz mehr bekam, wenn man sich nicht sputete, und in Berringers Job konnte es mitunter ziemlich wichtig sein, den Wagen in unmittelbarer Nähe des Büros zu haben.

So angenehm ein Spaziergang durch das malerische Bilk bei gutem Wetter auch sein mochte, manchmal musste es eben einfach sehr schnell gehen. Und dies war so ein Moment.

Berringer ging mit großen Schritten durch die Straßen und zog schließlich das Longjackett aus, weil er ins Schwitzen geriet. Schließlich fand er die Stelle wieder, wo er den Wagen, einen Opel, geparkt hatte. Er war neu, denn der fahrbare Untersatz, den er bis vor zwei Monaten noch benutzt hatte, hatte den Geist aufgegeben.

Berringer stieg ein.

MEAN DEVVILS mit Doppel-V ... Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er schon irgendwann mal etwas von dieser Rockergruppe gehört hatte. Etwas, das ihn weiterbringen konnte. Aber ihm fiel nichts ein. Außer ein paar Zeitungsartikeln, an die er sich vage erinnerte und in denen es um die üblichen Randale gegangen war: Schlägereien, einen Türsteherkrieg, Drogen ... Aber das hatte alles in Mönchengladbach stattgefunden, also schon fast im Ausland.

Bestimmt konnte ihm Thomas Anderson weiterhelfen.

Berringer warf das Jackett auf den Beifahrersitz. Von Düsseldorf-Bilk bis Gladbach war es eine knappe halbe Stunde. Berringer stellte fest, dass er sein Navi vergessen hatte, fand das aber nicht weiter schlimm. Erstens war es noch nicht lange her, dass er zuletzt dem Polizeipräsidium von Mönchengladbach einen Besuch abgestattet hatte, und zweitens hatte Berringer als Ex-Polizist einen exzellenten und gut trainierten Orientierungssinn, und so traute er sich zu, die Theodor-Heuss-Straße in Mönchengladbach im Schlaf zu finden. Das Polizeipräsidium war ein so großer Gebäudekomplex, dass man ihn kaum übersehen konnte.

Während er damals Paul Pauke vor den Nachstellungen dieser verrückten Stalkerin beschützt hatte, war er mehrmals die Woche in Thomas Andersons Büro gewesen. So oft, dass er dem Herrn Kriminalhauptkommissar damit wohl schon ziemlich auf die Nerven gegangen war, Freundschaft hin oder her.

Und jetzt bin ich leider gezwungen, Thomas schon wieder auf den Wecker zu fallen, dachte Berringer. Kein Wunder, dass Anderson alles andere als erfreut geklungen hatte, als er Berringers Stimme am Telefon vernommen hatte.

Er fuhr auf die Kopernikusstraße und gelangte schließlich zum Düsseldorfer Südring, wo sich der Verkehr bereits auf verdächtige Weise verlangsamte. Stau? Baustelle?

Berringer rechnete jeden Moment damit, dass bei den Fahrzeugen vor ihm die Warnblinkanlagen angingen.

Der Aggregatzustand des Verkehrs veränderte sich von fließend in zähflüssig.

Berringer trommelte mit den Fingern nervös auf dem Lenkrad herum. Wenn das so weiterging, würde Anderson bereits in der staatsanwaltschaftlichen Drachenhöhle hocken, wenn er die Theodor-Heuss-Straße in Mönchengladbach erreichte. Anders als in Märchen und Fantasy-Romanen bestimmten dort allerdings die Drachen die Regeln, nicht die aufrechten Recken, die für Recht und Gerechtigkeit eintraten.

Berringer erinnerte sich noch gut daran. Von diesen Büros war mitunter ein enormer Ermittlungsdruck ausgegangen, was bisweilen dafür gesorgt hatte, dass letztendlich niemand mit dem Ergebnis der jeweiligen Untersuchung hatte zufrieden sein können.

Insbesondere geschah das immer dann, wenn ein Fall Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte. Dann schrien Medien und Politik jedes Mal auf, wenn nicht umgehend Erfolge präsentiert wurden, und dadurch reagierten alle Beteiligten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen und taten in erste Linie das, was öffentlichkeitswirksam nach entschlossenem Handeln aussah, aber nicht das, was wirklich zur Lösung des Falls beitrug. So mancher Massen-Gentest gehörte in diese Rubrik und war in Wahrheit eher ein Akt der Verzweiflung als Teil überlegter Ermittlungstaktik.

Manchmal brauchte man eben Geduld, um zu Ergebnissen zu kommen. Jeder Jäger, der tagelang auf dem Hochsitz zubrachte, wusste das, aber diese Tugend vertrug sich irgendwie nicht mit der Kurzatmigkeit der Medien.

Wie geduldig man mitunter sein musste, hatte Berringer am eigenen Leib erfahren, und das auf sehr schmerzhafte Weise. Der Tod seiner Familie war auch nach Jahren noch immer nicht vollständig aufgeklärt, und es war fraglich, ob das überhaupt jemals geschehen würde. Zwar saß ein Mann wegen dieses Verbrechens im Gefängnis, aber der Killer war bestenfalls ein Werkzeug gewesen, und man hätte ihn genauso gut zusammen mit anderen Tatwaffen in der Asservatenkammer aufbewahren können, hätte das nicht gegen die Menschenwürde verstoßen. Wer diesen Mann beauftragt und damals aus dem Hintergrund die Fäden gezogen hatte, war bislang unbekannt.

Es gab nur einen nom de guerre, einen Kampfnamen.

Die Eminenz!

Anscheinend spielte diese Eminenz eine gewichtige Rolle in der organisierten Kriminalität des Niederrheins, und so hatte Berringer damals gegen dieses Phantom ermittelt. Vielleicht war er dem unbekannten Paten dabei näher gekommen, als er geahnt hatte. So nahe, dass man ihn als Gefahr eingestuft hatte – als jemanden, der kaltgestellt werden musste.

Und obwohl die Autobombe aufgrund nie wirklich geklärter Umstände nicht ihn, sondern seine Familie getötet hatte, hatte die andere Seite damit ihr Ziel erreicht.

Vorerst zumindest.

Denn auch wenn sich Berringer in dieser Sache zunächst geschlagen geben musste, so war er doch entschlossen, irgendwann Licht ins Dunkel zu bringen. Irgendwann, das hatte er sich fest vorgenommen, würde er alle Teile des Puzzles zusammengefügt haben. Irgendwann würde vielleicht auch der eingebuchtete Killer sein Schweigen brechen.

Irgendwann ...

Sie sollten aufhören, in der Vergangenheit zu leben!

Er hatte den markigen Satz eines dieser Psychologen noch im Ohr, bei denen er in Behandlung gewesen war. Berringer mochte dem noch nicht einmal widersprechen.

Manchmal wiederholte er diesen Satz sogar leise, sprach ihn vor sich hin wie ein Mantra, wenn er innerlich abzudriften drohte und Gefahr lief, den Anforderungen im Hier und Jetzt nicht mehr gerecht zu werden. Sein Verstand sagte ihm, dass der Doc recht hatte, aber da war etwas anderes, viel Stärkeres in ihm, das seine Gedanken trotzdem immer wieder rückwärts richtete.

Er konnte nichts dagegen tun. Und oft wollte er es auch gar nicht.

Der Verkehr quälte sich langsam an einem Lastwagen vorbei, dem wohl ein Reifen geplatzt war. Jedenfalls hing der Geruch von angeschmortem Gummi in der Luft und gelangte über die Belüftung des Opel auch in Berringers Nase.

Der Lastwagen war offenbar die Ursache für den zähfließenden Verkehr gewesen, denn danach ging es schneller voran. Auf dem Südring nahm Berringer die Ausfahrt zur A57 und trat dann das Gaspedal voll durch, in der Hoffnung, dass er nicht von den Ex-Kollegen der Autobahnpolizei gestoppt wurde.

Er nahm die Route über die A52 Richtung Mönchengladbach. Drei Baustellen ließen ihn beinahe jeden Zukunftsglauben begraben, noch pünktlich beim Polizeipräsidium anzukommen.

Durch die veränderte Verkehrsführung im Baustellenbereich verpasste Berringer dann beinahe noch die Abfahrt Nord. Vielleicht war auch der Umstand Schuld, dass er sich nicht richtig auf die Fahrt konzentrierte. Ein Detail aus Frank Marwitz’ Bericht schwirrte ihm immer wieder im Kopf herum.

MEAN DEVVILS – mit Doppel-V ...

Berringer war sich plötzlich sicher, schon einmal in einem anderen Zusammenhang das Wort DEVVIL mit Doppel-V gesehen zu haben. Es lag schon länger zurück, in jenem so fern erscheinenden Abschnitt seines Lebens, in dem noch alles in Ordnung gewesen war.

Vor seinem inneren Auge tauchte ein grobschlächtiges Gesicht auf, das ihm jedoch nur nebulös in Erinnerung geblieben war, obwohl er eigentlich darauf trainiert war, sich Gesichter zu merken. Aber offenbar war dieses nicht wichtig genug gewesen, und so hatten es diese Züge nicht in den permanent abrufbaren Bereich des Langzeitgedächtnisses geschafft.

Dafür war da dieses Detail, das sich dort aus irgendeinem Grund festgesetzt hatte und nun wieder aus der Versenkung auftauchte, in der es einige Jahre lang geschlummert hatte.

DEVVILISH – mit zwei V! Ein Tattoo, das am Halsansatz aus dem Muskelshirt eines Türstehers geschaut hatte. Die einzelnen Buchstaben waren in altdeutscher Frakturschrift gewesen.

Und auf einmal fiel Berringer auch wieder ein, bei welcher Gelegenheit er das Tattoo gesehen hatte.

Es war bei einer Razzia gewesen, an der er vor Jahren teilgenommen hatte. Der Türsteher mit dem Tattoo am Halsansatz hatte ein ziemlich verdutztes Gesicht gemacht, als ihm die Dienstmarke der Kripo unter die Nase gehalten wurde.

Wahrscheinlich waren seine Personalien von Kollegen aufgenommen worden; an den Namen des Burschen erinnerte sich Berringer jedenfalls nicht mehr. Aber an den Namen der Diskothek. Und daran, dass die Razzia ein Reinfall gewesen war.

BLUE LIGHT ...

Ein Glitzerschuppen, der über ein paar Strohmänner unter der Kontrolle des organisierten Verbrechens gestanden und der Geldwäsche sowie als Drogenumschlagsplatz gedient hatte. Berringer und seine Kollegen hatten gehofft, eine Spur zu finden, die sie der Eminenz ein Stück näher hätte bringen können. Die Düsseldorfer Kripo hatte Insidertipps gehabt, aber die andere Seite hatte von der geplanten Razzia Wind bekommen. Jedenfalls war am entsprechenden Abend noch nicht einmal ein Joint gefunden worden.

Devvilish ... Mean Devvils ...

Das doppelte V bei beiden Wörtern stellte nun wirklich keine besonders augenfällige Verbindung zwischen beiden Sachverhalten dar.

Dennoch ...

Glaubst du an Zufälle?, fragte sich Berringer.

Er wusste, dass er dieser Spur folgen würde. Geduldig und ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie ihn führen würde.

Gut möglich, dass er damit wieder mal nur nach einem Strohhalm griff, um den Mord an seiner Familie aufklären zu können ...

Mit Mühe und Not und einem Tritt in die Eisen, der einen dicht auffahrenden Mercedes-Fahrer zu der allgemein unter der Bezeichnung „Einen Vogel zeigen“ bekannten Geste verleitete, zog Berringer den Opel auf die Abbiegerspur nach Viersen. Er sah auf die Uhr. Er brauchte schon eine grüne Welle, um es noch mit einer einigermaßen vertretbaren Verspätung zum Präsidium zu schaffen.

An der nächsten Gabelung hielt er sich rechts und folgte den Schildern, die nach Mönchengladbach wiesen. Wo auch immer das sein mag, dachte Berringer leicht amüsiert. Im Grunde war Mönchengladbach eine Gruppe von Kleinstädten und Dörfern, um welche die allmächtigen Herren der Gebietsreform irgendwann einmal einen Kreis gezogen hatten, um dann zu verkünden: Es werde eine Stadt! Und es ward eine Stadt. Mit einem Lokalpatriotismus, der zumindest solange gehalten hatte, wie die Borussia den Bayern die Meisterschaft hatte wegschnappen können. Aber das war in den seligen Siebzigern gewesen, und die waren lange vorbei.

Berringer folgte der Kaldenkirchener Straße und wurde von ein paar Motorrädern überholt, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Überholmanöver durchführten und die anderen Verkehrsteilnehmer offenbar als Slalomstangen in einem Biker-Rallye-Park ansahen. In solchen Augenblicken hätte Berringer am liebsten die rote Kelle rausgehalten oder die Leuchtanzeige mit der Aufschrift BITTE FOLGEN! eingeschaltet, um wenigstens ein paar dieser Verrückten die Leviten zu lesen.

Nein, du bist kein Polizist mehr!, musste er sich dann jedes Mal eindringlich selbst erinnern. Seine Befugnisse waren nicht größer als die jedes anderen Bürgers. Er konnte Nummernschilder aufschreiben und Anzeige erstatten, mehr nicht.

Nun ja, der Nutzen all der Appelle an die Vernunft war bei solchen Typen ohnehin kaum messbar.

Dieses Mal achtete Berringer besonders auf die Embleme und Schriftzüge auf den Jacken und den Maschinen der Biker. Einer von den Kerlen fuhr sogar provozierend lange neben ihm her und zeigte ihm den Stinkefinger, anstatt seinen Überholvorgang zügig abzuschließen.

An diesem Tag wurde das bisschen, das von Berringers psychischer Stabilität geblieben war, auf eine harte Probe gestellt.

Bei keinem der Rocker war ein DEVVIL mit zwei V auszumachen, auch nicht in irgendwelchen Abwandlungen oder Kombinationen. Stattdessen registrierte er jede Menge Totenköpfe und ein paar Mal die Aufschrift EAGLES OF TERROR. War wohl die Konkurrenz der MEAN DEVVILS.

Die Motoren heulten auf, und auch der Stinkefinger-Zeiger brauste davon, mit einer Geschwindigkeit, dass es den überwiegend altersschwachen Fahrzeugen der Einsatzwagenflotte des Landes NRW wohl schwer gefallen wäre, die Verfolgung aufzunehmen. Der Spuk war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte.

Komische Schreckensvögel, dachte Berringer.

Noch bevor er den Bismarckplatz erreichte, meldete sich sein Handy. Er nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen.

„Herbolzheimer, Hafenverwaltung“, stellte sich eine schleppend sprechende Frauenstimme vor. „Spreche ich mit Herrn Robert Berringer?“

„Ja.“

„Sie sind der Eigner eines Boots, das die Bezeichnung NAMENLOSE trägt?“

„Richtig.“

„Im Bereich des Liegeplatzes, den Sie zurzeit haben, müssen Ausbesserungsarbeiten an der Kaimauer durchgeführt werden. Dazu ist es nötig, dass Ihr Boot an einen anderen Liegeplatz verlegt wird.“

Der Gedanke, dass die NAMENLOSE an einem anderen Platz festmachen sollte, gefiel Berringer nicht. Er konnte nicht genau sagen, weshalb eigentlich. War es nicht völlig normal, dass Boote ab und zu mal ihren Liegeplatz änderten?

Aber in diesem Fall war das etwas anderes. Seitdem Berringer die NAMENLOSE

besaß und als seinen Wohnsitz nutzte, hatte sie ihren Liegeplatz nicht mehr gewechselt.

„Ich habe nirgends Schäden an der Kaimauer bemerkt“, sagte der Detektiv.

„Wir führen die Arbeiten ja auch durch, bevor sichtbare Schäden auftreten“, erläuterte ihm die Stimme am anderen Ende der Verbindung. „Im Übrigen sind Sie bereits schriftlich auf die anstehenden Maßnahmen hingewiesen worden.“ Berringer konnte sich nicht erinnern, einen entsprechenden Bescheid erhalten zu haben. „Tut mir leid, Ihre Post hat mich nicht erreicht.“

„Wie dem auch sei, Sie müssen bis morgen mit der ... äh, mit der NAMENLOSEN den jetzigen Liegeplatz verlassen haben.“

„Ich habe die Gebühren im Voraus bezahlt!“, empörte sich Berringer.

„Dafür ist Ihnen ja auch für die Zeit der Baumaßnahmen ein Ersatzliegeplatz zugewiesen worden. Nummer ... Einen Moment!“

„Mailen Sie mir die Nummer zu“, bat Berringer. „Dann weiß ich zumindest, wo es hingeht.“ Er gab seine E-Mail-Adresse durch.

„Ich rufe Sie eigentlich nur an, weil ich mich vergewissern wollte, dass Sie Ihren Liegeplatz tatsächlich freigemacht haben, damit die Arbeiten wie geplant beginnen können.“

„Ja“, knurrte Berringer wenig begeistert.

„Vorsorglich weise ich Sie darauf hin, dass man Sie in Regress nehmen kann, falls durch ...“

„Ist schon klar“, schnitt Berringer ihr das Wort ab.

Nachdem er das Gespräch beendet hatte, rief er in der Detektei an. Vanessa war am Apparat.

„Ruf Werner van Leye an. Seine Nummer steht in unserem Adressverzeichnis. Sag ihm, meine NAMENLOSE muss bis morgen auf einen anderen Liegeplatz verlegt werden, dessen Nummer gleich per E-Mail durchgegeben wird.“ Werner van Leye war ein ehemaliger Binnenschiffer, der sich zu seiner Frührente hier und da etwas schwarz dazuverdiente. Er war es gewesen, der die NAMENLOSE überhaupt an ihren Liegeplatz manövriert hatte. Schließlich hatte Berringer zwar manche Qualifikation, aber eine Fahrberechtigung für Binnenschiffe gehörte nicht dazu. Noch schwerer wog, dass er sich zu einem solchen Manöver gar nicht in der Lage sah. Bevor er also selbst sein Kapitänsglück versuchte, war es besser, dass sich jemand darum kümmerte, der die nötige Erfahrung hatte. Schließlich wollte Berringer nicht, dass am Ende nicht nur Ausbesserungsarbeiten an der Kaimauer, sondern auch noch an seinem Boot durchgeführt werden mussten.

„Ich kann dir jetzt keine Einzelheiten erklären“, sagte Berringer zu Vanessa. Aber wie sich herausstellte, war das auch gar nicht nötig.

„Ach, du meinst wegen der Ausbesserungsarbeiten des Hafenamts“, hörte er ihre helle Stimme ganz beiläufig daherflöten.

Für einen Moment glaubte er, sich verhört zu haben, und war sprachlos. Dann brach es aus ihm hervor: „Du weißt davon?“

„Ich habe dir den Brief mehrfach vor die Nase gehalten, aber du hast die Sache wohl irgendwie nicht zur Kenntnis genommen. Na ja, das ist ein Weilchen her. Ich dachte, du hättest das längst geregelt.“

„Tja, das habe ich dann offensichtlich nicht“, murmelte Berringer.

„Ich kümmere mich darum.“

„Danke.“

Vanessa beendete das Gespräch.

Berringer nahm mechanisch die Südeinfahrt des Mönchengladbacher Polizeipräsidiums an der Ecke Theodor-Heuss-Straße/Webschulstraße. So kam man auf dem schnellsten Weg zum Besucherparkplatz, und außerdem war das Gebäude nicht weit, in dem sich das Kommissariat 11 befand, dem Kriminalhauptkommissar Thomas Anderson angehörte.

Berringer ließ sich vom Pförtner durchwinken, der ihn kannte und wusste, dass sich Berringer zurechtfand. Nach links ging es auf den Besucherparkplatz, der an eine Grünfläche mit Teich angrenzte. Die Gebäude waren von A bis P durchnummeriert, woran man allein schon ermessen konnte, welche Ausmaße die Anlage hatte.

Berringer konnte sich immer nur wundern, dass diese Ansammlung von beschaulichen Dörfern, die sich Mönchengladbach nannte und, seit die Borussia nicht mehr am Bökelberg spielte, ihr „Zentrum der Herzen“ verloren hatte, ein so großes Polizeipräsidium brauchte. Lokalpatrioten aus Rheydt, die sich noch lange gegen die Eingemeindung im Jahre 1975 gewehrt hatten, sahen darin wahrscheinlich noch immer eine geballte Demonstration der kommunalen Zentralmacht.

Aber vielleicht war der Grund für die bauliche Zurschaustellung polizeilicher Stärke auch der, dass die Gegend gar nicht so besinnlich war, wie sie Berringer bei der ersten Durchfahrt erschien. Die Nähe zur holländischen Grenze brachte es natürlich mit sich, dass die Drogenfahnder immer gut zu tun hatten. Trotz europäischer Union und Schengener Abkommen, trotz des gemeinsamen Wirtschaftsraumes, gemeinsamer Verteidigung und des Euros als gemeinsame Währung – die unterschiedliche gesetzliche Behandlung sogenannter weicher Drogen in den Niederlanden und dem Rest der Welt sorgte dafür, dass diese Grenze auf absehbare Zeit mehr bleiben würde als nur eine Verwaltungsgrenze.

Berringer eilte im Laufschritt zum Gebäude, das sich entlang der Theodor-Heuss-Straße wie ein lang gezogener Schlauch erstreckte. Unglücklicherweise war das Kriminalkommissariat im Westteil untergebracht, was bedeutete, dass Berringer einen längeren Weg hatte.

Er stürmte durch den Eingang, nachdem man ihm dort geöffnet hatte. Jetzt nur nicht ungeduldig oder gar aggressiv-erregt wirken, dachte Berringer. Sonst bestand die Gefahr, dass man ihn nicht weiter vorließ.

„Zu wem wollen Sie denn?“, fragte eine Frau in einem Glaskasten.

„Kriminalhauptkommissar Thomas Anderson. Wir haben einen Termin.“

„Davon ist mir nichts bekannt.“

„Rufen Sie doch bitte kurz durch.“

„Ja, aber ...“

„Bitte, es ist dringend.“

Der größte Fehler, den Berringer in so einer Situation machen konnte, war zu erwähnen, dass er Privatdetektiv war. Irgendwie wurde er dann immer als unlautere Konkurrenz angesehen, als etwas, das es eigentlich gar nicht geben durfte.

Schließlich war die Bekämpfung des Verbrechens eine staatliche Aufgabe, da hatte sich die Privatwirtschaft rauszuhalten. So oder so ähnlich lautete die in Hallen wie dieser weit verbreitete Ansicht. Kaufhausdetektive, Nachtwächter und Personenschützer – das war noch statthaft. Aber um den Rest – wenn’s denn nicht gerade um Ehebruch ging – kümmerte sich bitte schön die Staatsmacht selbst.

Früher hatte Berringer diese schlechte Meinung über Privatdetektive und alles, was sich sonst noch im sogenannten Security-Business tummelte, durchaus geteilt. Die Tatsache, dass man keine Ausbildung, sondern nur einen Gewerbeschein brauchte, um sich „Privater Ermittler“ nennen zu dürfen, trug sicher nicht zum guten Ruf der Branche bei.

Abgesehen davon war jeder Private, der in der Sicherheitsbranche tätig war, eine stille Anklage gegen die Unzulänglichkeit von Justiz und Polizei.

„Herr Anderson erwartet Sie“, sagte die Frau im Glaskasten schließlich, nachdem sie aufgelegt hatte.

„Danke“, knurrte Berringer, was eigentlich mehr wie „Na endlich“ klang.

„Sie sollen sich beeilen!“

„Witzbold!“

„Was meinten Sie?“

„Nichts.“

Berringer nahm immer drei Stufen auf einmal. Auf diese Weise war er schneller, als wenn er auf den Lift gewartet hätte.

Augenblicke später stand er vor Andersons Büro und klopfte.

„Herein!“

Berringer trat ein.

Thomas Anderson stand hinter seinem Schreibtisch. Er trug sein Jackett, den mittleren Knopf zugeknöpft, den Schlips hochgezogen und eine Mappe unter dem Arm. Das alles zusammengenommen konnte eigentlich nur bedeuten, dass er bereits auf dem Sprung war. Fertig zum Kampf in der Drachenhöhle.

Er sah auf die Uhr. Eine Geste, die man nur auf eine Weise verstehen konnte: als Vorwurf.

„Berry, du bist spät.“

„Tut mir leid.“

„Ich hatte dir doch gesagt, was gleich für mich ansteht.“

„Und ich sagte, dass es mir leid tut. Der verdammte Verkehr, du weißt schon. Sieht aus, als soll buchstäblich jeder Autobahnkilometer in und um Mönchengladbach verbreitert, ausgebessert oder aus anderen Gründen neu geteert werden.“

„Vorwiegend sind das wohl andere Gründe“, sagte Anderson. „Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung zeigt Wirkung. Die Gelder müssen von den Kommunen noch rechtzeitig ausgegeben werden, und da wird jetzt asphaltiert, was das Zeug hält. Für unsere Kollegen von der Verkehrspolizei ist das natürlich mit erheblicher Mehrarbeit verbunden. Die Unfallzahlen sind gerade in den Baustellenbereichen alarmierend gestiegen.“

„Kann ich mir denken.“

„Aber nun zur Sache, Berry. Meine Zeit ist knapp, und ich hoffe, du kommst mir mit etwas wirklich Wichtigem“

„Frank Marwitz war bei mir.“

„Dieser Wichtigtuer vom Dienst? Die Rampensau von Mönchengladbach? Keine Party ohne die dummen Sprüche von Frank Marwitz. Na ja, ich kann mir schon denken, was er wollte.“

„So?“

Anderson legte die Mappe auf den Tisch. Eins zu null für mich, dachte Berringer, denn das bedeutete, dass sich Anderson ein wenig Zeit nehmen würde. Und das Dunkelrot, das sein Gesicht plötzlich angenommen hatte, deutete auf einen Zustand hin, den man neudeutsch als „emotionale Betroffenheit“ bezeichnete. Kein Zweifel, der Fall Marwitz hatte Anderson ziemlich auf die Palme gebracht, und Berringer wollte unbedingt wissen, warum.

„Der Kerl weiß alles besser“, erklärte Anderson dann auch gleich ungefragt, „gibt uns aber keine vernünftigen Hinweise und denkt, die ganze Welt drehe sich nur um ihn.

Und zu allem Überfluss erzählt er uns dann auch noch, wie wir unseren Job zu machen hätten. Da kann einem wirklich der Kragen platzen.“

„Verstehe“, murmelte Berringer.

„Nein, das verstehst du nicht, Berry. Du bist schon zu lange draußen, um dich daran noch richtig erinnern zu können.“

„Jedenfalls hat Herr Marwitz mich beauftragt, ihm zu helfen.“ Anderson winkte ab. „Nichts für ungut, aber ich denke, er schmeißt sein Geld zum Fenster raus.“

„Na ja, da es nicht unser Geld ist, sollte uns beide das nicht weiter interessieren.“ Anderson zuckte mit den Schultern. „Komm du mir nicht auch noch auf die Tour.

Mein Bedarf an dummen Sprüchen ist auf Jahre hinaus gedeckt, seit ich diesen eingebildeten Blödmann kennengelernt habe.“

„Aber wir sind uns doch einig darüber, dass auch einen Blödmann niemand mit einem Armbrustbolzen abschießen darf, oder?“

Anderson atmete tief durch. Er strich sich übers Gesicht, das die dunkelrote Färbung einfach nicht verlieren wollte. Sie passte auch zu gut zu den zahllosen Sommersprossen und zu Andersons schütterem rötlichem Haar. Seit Neuestem trug er auch ein kleines Ziegenbärtchen, das ihm Berringers Meinung nach allerdings nicht stand.

Auf Berringers letzte Bemerkung ging Anderson nicht weiter ein. Stattdessen sagte er in gedämpftem, fast vertraulichem Tonfall: „Hör zu, dieser Anschlag auf Frank Marwitz gehört zu einer Serie vergleichbarer Taten. Immer wurden Hightech-Armbrüste eingesetzt. Nie starb jemand, es gab immer nur Sachschaden. Hast du nichts darüber gelesen? Der irre Armbrustschütze – Wurde er durch die alten Edgar-Wallace-Filme inspiriert?“

„Ich bin sehr beschäftigt. Diese Meldungen müssen an mir vorbeigegangen sein.“ Die Welt war schlecht, das wusste Berringer auch ohne die Lektüre bunter Sensationsblätter oder entsprechender Sendungen im Privatfernsehen, die das Publikum offenbar davon überzeugen wollten, dass Perverse und Kriminelle längst die Weltherrschaft errungen hatten.

„Na ja, du bist ja sozusagen auch raus aus dem Geschäft“, räumte Anderson ein. „Es hat sich manches geändert, seit wir zusammen in Düsseldorf unterwegs waren.“ O nein, jetzt kein Gequatsche über die Vergangenheit!, ging es Berringer durch de Kopf. Die sentimentalen Kollektiverinnerungen an irgendeine vermeintlich gute alte Zeit fielen Berringer schwer, seit seine Familie in einem Feuerball ums Leben gekommen war. Es schien so, als wäre sein gesamtes Leben vor diesem Augenblick mit verbrannt. Er mied deswegen Klassentreffen oder Einladungen alter Freunde.

Manche nahmen ihm das übel – vor allem dann, wenn er diese Kontakte trotzdem beruflich zu nutzen versuchte.

„Marwitz hat den Verdacht geäußert, dass eine Rockergang hinter dem Anschlag steckt, die es wohl schon länger auf ihn abgesehen hat“, sagte Berringer. „MEAN

DEVVILS mit Doppel-V in der Mitte. Die haben wohl schon mehrere Veranstaltungen gesprengt, die von Marwitz moderiert wurden.“ Anderson nickte. „Und angeblich soll sein Konkurrent, ein gewisser Eckart Krassow, die Brüder dazu angestiftet haben. Hat er dir also auch diesen Mist erzählt.“

„Wieso ist das Mist?“

„Na ja, das ist vielleicht etwas hart gesagt. Aber dieser Marwitz nervt mich einfach.

Tut so, als würden wir unseren Job nicht machen.“

„Er hat einfach Angst. Und ehrlich gesagt, kann ich das auch verstehen. Wenn dir so ein Bolzen um die Ohren fliegt, würde dich das wahrscheinlich auch nicht kalt lassen.“

Anderson fixierte ihn auf einmal aus blitzenden Augen. „Glaubst du, wir machen unsere Hausaufgaben nicht?“

Berringer wollte keinen Streit, deshalb gab er erst gar keine Antwort, sondern sagte:

„Du hast eine Serie vergleichbarer Taten erwähnt ...“

„Mit Marwitz ein rundes Dutzend Fälle“, bestätigte Anderson. „Wir vermuten Mutproben unter Rockern. Wer aufgenommen werden will, muss vorher etwas möglichst Verrücktes, Gefährliches, Aufsehenerregendes tun. Etwas, das ihn an die Gruppe bindet. Warum also nicht mit einer Armbrust auf jemanden schießen? Aber eben nur knapp daneben. Man zeigt, wozu man in der Lage ist, aber zieht es nicht bis zur letzten tödlichen Konsequenz durch. Dennoch verbreitet das Angst und Schrecken. Und diese Brüder freuen sich dann, wenn sie groß in der Zeitung stehen.“ Anderson deutete auf ein Boulevardblättchen, das gefaltet auf seinem Schreibtisch lag. „Mönchengladbach: der Wilde Westen Deutschlands – Armbrust-Cowboys schlagen wieder zu!“, stand da über einem schwarz umrandeten Artikel, der aus zwei sehr kurzen Spalten und einem Foto samt dazugehöriger Bildunterschrift bestand.

Das Bild zeigte einen Mann in Lederkleidung, der einen Stinkefinger in die Kamera hielt (was Berringer an den Rocker erinnerte, der ihm selbigen auf der Herfahrt gezeigt hatte). Das Gesicht war unkenntlich gemacht, was dem Ganzen wohl einen pseudodokumentarischen Charakter geben sollte. Berringer glaubte eher, dass das Foto gestellt war. Vielleicht sogar eine Montage. Im Hintergrund war jedenfalls das malerisch-biedere Panorama der Innenstadt zu sehen.

„Dann ist ein Zusammenhang mit diesen MEAN DEVVILS doch gar nicht weit hergeholt“, äußerte er.

„Natürlich nicht“, schnaubte Anderson verärgert. „Sie sind sogar unsere Hauptverdächtigen bei den Armbrust-Attentaten. Denn wir wissen, dass einige ihrer Mitglieder in der Vergangenheit Armbrüste besessen haben. Nur glaube ich nicht, dass dieser Krassow etwas damit zu tun.“

„Wieso nicht? Ist er nicht Armbrustschütze im Verein?“

„Das ist er. Wir haben seine Waffen sichergestellt und die verwendeten Projektile verglichen. Der offizielle Bericht vom BKA ist noch nicht da, dennoch hat Krassow nichts mit den Anschlägen zu tun.“

„Was macht euch so sicher?“

„Wir haben natürlich Krassows Alibi überprüft. Er war zu der Zeit, als der Anschlag auf diesen Schwätzer verübt wurde, in Köln. Da gibt es so einen TV-Sender, bei dem man anrufen kann, um sich die Karten legen und die Sterne deuten zu lassen. Hast du bestimmt schon mal gesehen.“

„Nö“, sagte Berringer.

„Egal. Jedenfalls ruft da ein überwiegend weibliches, esoterisch angehauchtes Publikum an und will wissen, ob sie sich scheiden lassen oder den Job aufgeben sollen und so weiter.“

„So was macht dieser Krassow?“, wunderte sich Berringer.

Anderson zuckte mit den Schultern. „Offenbar erhofft er sich davon die große TV-Karriere.“

Immerhin das hatten Marwitz und Krassow wohl gemeinsam, ging es Berringer durch den Kopf, auch wenn sie als Wettbewerber auf einem eng umkämpften Markt wie Feuer und Wasser waren: Beide Männer trieb der Gedanke, zu etwas Besonderem geboren zu sein, beide hielten sich für Publikumsmagneten. Die Hoffnung stirbt eben zuletzt, dachte Berringer.

„Jedenfalls hat der Sender bestätigt, dass Krassow während der fraglichen Zeit im Sender war“, fuhr Anderson fort. „Seine Armbrüste habe wir trotzdem erst mal konfisziert. Die dazugehörigen Bolzen natürlich auch.“ Anderson schüttelte den Kopf. „Das ganze Zeug ist noch im Labor.“

„Armbrüste?“, wiederholte Berringer. „Er hat gleich mehrere?“

„Er scheint diesem Sport sehr zugetan.“

„Und wieso schließt ihr gleich aus, dass er die MEAN DEVVILS beauftragt hat?“

„Weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt. Es ist auch nicht richtig, dass wir das ausschließen, wir halten es nur für sehr unwahrscheinlich. Die Kontobewegungen sind überprüft worden, und auch da deutet nichts darauf hin, dass Marwitz‘ Theorie stimmt.“

„Angeheuerte Schlägertrupps werden ja auch für gewöhnlich bar bezahlt“, meinte Berringer.

„Weiß ich, Berry“, sagte Anderson. „Ich mach den Job auch nicht erst seit gestern.

Das entscheidende Argument ist, dass die MEAN DEVVILS nachweislich auch eine Veranstaltung gesprengt haben, auf der Krassow den großen Zampano gegeben hat.

Ist zwar schon ein paar Jahre her, aber in diesem Fall haben wir das sogar amtlich, denn mehrere Mitglieder der Bande sind damals angeklagt und sogar verurteilt worden.“

„Was wisst ihr über die MEAN DEVVILS?“

„Die kommen aus der Türsteher-Szene. Ihr Geld verdienen sie mutmaßlich mit Drogenhandel, Schutzgelderpressung und ähnlichem. Leider kommt es nur selten vor, dass es gegen einen von ihnen zu einem Verfahren kommt. Und jetzt muss ich los.

Tut mir leid, Berry.“

„Hör mal, ich brauche eine Liste der bisherigen Opfer. Und außerdem ...“

„Berry!“

„Bitte!“

Anderson seufzte. Dann legte er die Mappe, die er unter dem Arm trug, noch einmal auf den Tisch, öffnete sie und nahm einen Computerausdruck heraus, den er offenbar für sein Treffen in der Drachenhöhle vorbereitetet hatte. „Ich kopier dir das. Und wenn dir irgendeine Gemeinsamkeit zwischen den bisherigen Opfern auffallen sollte, dann wäre es sehr nett, du würdest mich das wissen lassen.“

„Na klar.“

Anderson ging zum Kopierer. Berringer warf einen Blick in die Mappe und sah ein Foto, das unverkennbar bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung aufgenommen worden war: ein Mann im Muskelshirt, am Oberarm ein Tattoo, das ein Hakenkreuz zeigte und irgendwie verwischt wirkte. Offenbar war mal versucht worden, es zu entfernen, aber ein Tattoo war eben letztlich nichts anderes als eine Narbe, und die blieb.

Vor allem aber fiel Berringer der tätowierte Fraktur-Schriftzug am Hals des Burschen auf: DEVVILISH – wie damals.

Plötzlich glaubte er auch, sich wieder an das Gesicht auf dem Foto zu erinnern.

Das ist er!, durchfuhr es ihn. Der Typ aus dem BLUE LIGHT in Düsseldorf!

Anderson kehrte zurück und gab Berringer die Kopie der Liste. „Die Nummern in der letzten Spalte bezeichnen den jeweils verwendeten Bolzentyp.“

„Danke.“

Anderson bemerkte Berringers stieren Blick. „Das ist der Boss der MEAN

DEVVILS. Artur König – nennt sich selbst gern King Arthur.“

„Den kenne ich. Der war Türsteher im BLUE LIGHT in Düsseldorf. Warst du nicht damals bei der Razzia dabei?“

„Ich kann mich weiß Gott nicht an jede Razzia erinnern, an der ich mal teilgenommen hab.“ Dann aber nickte Anderson und meinte: „Aber was du sagst, könnte stimmen. Artur König hat tatsächlich bis vor ein paar Jahren in Düsseldorf gewohnt. Nachdem er dann eine Haftstrafe wegen Körperverletzung absitzen musste, ist er nach Mönchengladbach gezogen und hat seinen eigenen Laden aufgemacht.“

„Ach, wärst du doch in Düsseldorf geblieben“, murmelte Berringer in sich gekehrt.

„Wie?“

„Nur so ein Schlager.“

Die Mappe klappte zu, Anderson klemmte sie sich unter den Arm und schob Berringer freundschaftlich, aber bestimmt aus dem Raum. „Los, raus hier. Ich darf dich nicht allein in meinem Büro lassen.“

„Damit ich nicht in euren wertvollen Fahndungsunterlagen herumschnüffle?“

„Nein, damit mich nachher niemand anscheißt, weil ich die Vorschriften nicht eingehalten hab.“

„Ach so.“

„Mach‘s gut, Berry. Und wehe, ich hör nichts von dir. Eine Hand wäscht die andere, hast du am Telefon gesagt. Nun, das ist eine wechselseitige Beziehung und kein ...“ Er stockte.

„Und kein was? “

„Vampirismus. Einer saugt den anderen aus.“

„Das musst du mir als lebendem Toten schon nachsehen“, brummte Berringer so düster, dass Anderson es vorzog, darauf nichts zu erwidern.

Wenig später fand sich Berringer im Freien wieder und schlenderte zurück zum Besucherparkplatz. Ein blauer Polizeiwagen kam ihm entgegen. Einer der ersten blauen Einsatzwagen in ganz NRW, wo bisher immer noch die grünen Polizeifahrzeuge über die Straßen rollten.

Berringer hatte darüber gelesen. Er bekam nämlich immer noch das Mitteilungsblatt der Polizeigewerkschaft, und manchmal konnte er es einfach nicht lassen, es durchzublättern, auch wenn er sich hinterher meist elend fühlte.

Er erreichte seinen Opel, setzte sich hinters Steuer und warf einen Blick auf die Liste, die Anderson ihm kopiert hatte. Es handelte sich eigentlich mehr um eine Tabelle.

Darin waren jeweils der Name des Opfers, die Adresse sowie Datum und Uhrzeit des Vorfalls verzeichnet. Außerdem gab es zwei Spalten, eine für Sach- und eine für Personenschäden sowie eine Spalte mit den verwendeten Bolzen. Es fiel gleich ins Auge, dass die bisherigen Anschläge mit zwei verschiedenen Bolzentypen durchgeführt worden waren. Insgesamt neunmal war jener Geschosstyp benutzt worden, der auch bei Marwitz verwendet worden war, bei den übrigen drei Fällen stand in der letzten Spalte eine andere Kombination aus Buchstaben und Zahlen als Typbezeichnung des Projektils.

Ich werde mich wohl mal darüber schlau machen müssen, was genau das bedeutet, ging es Berringer durch den Kopf. Die Namen sagten ihm – außer der von Marwitz –

nichts. Aber auch das musste ja nicht so bleiben.

Berringer sah auf die Uhr.

Mal sehen, ob so ein Tausendsassa wie Krassow im Moment vielleicht zu Hause ist, überlegte er.

Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands

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