Читать книгу Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands - Alfred Bekker - Страница 14

3. Kapitel: Im Fadenkreuz

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Du legst den Bolzen ein und spannst jene Waffe, die einst als unritterlich galt und deren Einsatz gegen Christen verpönt war. Doch daran hielt sich schon damals niemand, und in der heutigen Welt spielt der Glaube keine Rolle mehr.

Du justierst das Zielfernrohr, siehst durch das Fadenkreuz. Das ist der Moment, in dem du ganz ruhig wirst, obwohl sich jede Faser deines Körpers in Anspannung und jede Windung deines Gehirns in einem aktiven Zustand befindet.

In einem einzigen Moment ist eine Ewigkeit enthalten. Dein ganzes Leben und vor allem jener Augenblick, mit dem alles anders wurde. Lange hast du gedacht, du könntest einfach alles mit einer Tünche aus bunten Farben und gezwungener Fröhlichkeit überkleistern. Du hast gedacht, dass du Schuld vergessen könntest, denn du hast nicht damit gerechnet, dass sie dich nie verlassen wird, sondern dir wie ein Schatten folgt.

Der Moment höchster Konzentration ist da. Ein Moment, der kühlen Kopf und kaltes Blut erfordert. Du weißt, dass du nun an nichts anderes denken darfst und dass die Waffe es dir nicht verzeihen wird, wenn du dich doch ablenken lässt. In der Ruhe liegt die Kraft.

Die Kraft, die du jetzt brauchst.

Was du nun tun wirst, hättest du schon lange tun müssen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

Vielleicht ...

Nein, du weißt, dass dieser Gedanke dich nicht weiterbringt.

Nur wenn der Pfeil der Rache endlich auf sein Ziel trifft, findest du deinen Frieden.

Dann drückst du ab.

Der Bolzen schlägt ein.

Gut so, denkst du, und siehst dir das Resultat an.

Genau ins Schwarze.

Hundert Punkte.

Aber damit sie dir vom Konto deiner Schuld getilgt werden, wird es nicht reichen, auf Scheiben zu schießen.

Ein Kleinlaster fuhr auf den Hof des Gebäudes, in dem die Agentur EVENT HORIZON untergebracht war. Ein Glaser hatte bereits neue Scheiben eingesetzt, doch es kündigten sich weitere Probleme an, vor allem hinsichtlich der Frage, wer für den Schaden aufkam. Die Gebäudeversicherung machte Zicken, und so hielt sich der Vermieter zunächst einmal an Marwitz.

Dabei war die Sache eigentlich klar. Die Gewalteinwirkung auf die Scheibe war von außen erfolgt, daran ließen auch die Ermittlungsergebnisse der Polizei keinen Zweifel. Und das bedeutete, dass der Vermieter beziehungsweise seine Versicherung dafür haften musste, wenn sich der eigentliche Verursacher nicht feststellen ließ.

Aber bei der Versicherung wollte man das nur für die Scheibe gelten lassen, die der Armbrustbolzen durchschlagen hatte. Doch auch die anderen Fenster waren zu Bruch gegangen, und dafür war die Explosion des Wagens unmittelbar vor dem Büro verantwortlich.

Wahrscheinlich würde es in nächster Zeit noch einiges an Papierkrieg geben.

Marwitz seufzte, war aber erleichtert, als er den Kleinlaster sah. SPEDITION HANDBROICH stand auf der Plane. Das war die ersehnte PA-Anlage, die er für seinen Auftritt auf dem Korschenbroicher Schützenfest brauchte. Die Vermittlung der Anlage gehörte nämlich in diesem Fall – anders als bei der Ü-30-Party am Abend –

zu den vereinbarten und schon bezahlten Dienstleistungen, zu denen er sich verpflichtet hatte.

Ansonsten war er bei der Frage in wessen Mikrofon er hineinsäuselte, nicht wählerisch. Hauptsache, er war laut genug zu hören und musste sich nicht die Seele aus dem Leib schreien. Die war immerhin sein Kapital. Und diesem Kapital gönnte er keine Pause, schließlich sollte es ja arbeiten. Also musste er entsprechend schonend damit umgehen.

Ein paar Tricks, die er sich überwiegend bei Sängern abgeschaut hatte, gab es da schon. Marwitz nahm ein Mentholbonbon aus einer Tüte, die in der Seitentasche seines Jacketts steckte. Die Kehle immer feucht halten, aber nicht mit Alkohol. Das war eine Devise, die sich durchaus bewährt hatte.

Ein dicker Mann stieg aus dem Lastwagen. Dick und riesig. Er war fast zwei Meter groß und sah auf Marwitz herab wie auf einen kleinen Jungen.

„Ist doch noch ein bisschen später geworden. Da war ein Unfall in Rheydt, und zwar genau dort, wo ich herfahren musste. Du kennst die Ecke. Da ...“

„Ist ja nicht weiter tragisch, Harry“, schnitt ihm Marwitz das Wort ab. Nach Harry Handbroichs aufregenden Abenteuern im Straßenverkehr stand ihm im Moment einfach nicht der Sinn.

Harry – eigentlich Harald – Handbroichs Aufmerksamkeit wurde im Augenblick ohnehin abgelenkt. Er sah zur Straße, wo ein Streifenwagen sehr langsam entlangfuhr. Zwei Beamte saßen darin, ein Mann und eine Frau. Der Mann saß am Steuer, die Frau ließ die Seitenscheibe nach unten und nickte Marwitz zu.

Der Event-Manager erwiderte flüchtig den Gruß. Eine Geste, die so viel wie „Alles in Ordnung“ signalisierte. Aber wenn wirklich etwas passierte, dann waren die Uniformträger – da war sich Marwitz sicher – sowieso gerade ganz woanders. Durch die verstärkten Polizeistreifen fühlte er sich jedenfalls keinen Deut sicherer, zumal ihm die nicht im Mindesten helfen konnten, wenn er unterwegs war, und das war bei ihm nun mal sehr häufig der Fall.

„Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?“, fragte Harry Handbroich, während er die Ladeklappe des Lastwagens öffnete.

„Wieso?“

„Na, wegen der Bullen.“ Harry hatte die Zeit zwischen seinem zwanzigsten und dreißigsten Geburtstag in verschiedenen Bauwagen und besetzten Häusern in Berlin-Kreuzberg zugebracht, wohin es ihn auf der Flucht vor dem Wehrdienst verschlagen hatte. Schließlich aber war er dann doch noch bürgerlich geworden und in seine Heimatstadt Mönchengladbach zurückgekehrt, wo er mit Mitte fünfzig die elterliche Spedition übernommen hatte. Aber Polizisten waren für ihn trotzdem immer noch Bullen.

„Lass uns auspacken“, wich Marwitz der Frage aus.

Der Streifenwagen blieb am Straßenrand stehen, der Fahrer stellte sogar den Motor ab. Präsenz zeigen. Darauf lief es wohl hinaus. Die Beifahrerin telefonierte.

Marwitz und Harry wuchteten den ersten der großen PA-Lautsprecher aus dem Lastwagen. Die Stimmung auf dem Korschenbroicher Schützenfest war damit für dieses Jahr gerettet.

„Hast du keine Sackkarre oder so was?“, fragte Harry.

In diesem Moment gab es einen dumpfen Knall. Etwas krachte mit ungeheurer Wucht durch den Lautsprecher hindurch, sprengte noch den Putz von der Gebäudewand und prallte dann einen Meter zurück auf den Asphalt.

Ein Armbrustbolzen!

Die PA-Lautsprecherbox war nicht mehr zu gebrauchen. Ein armdickes Loch klaffte in der Lautsprechermembran.

„Hey, was ist das denn?“, rief Harry Handbroich verdutzt und absolut verwirrt. Seine Zeiten als Streetfighter im Berliner Häuserkampf waren schon zu lange her, als dass er diese Situation hätte gelassen nehmen können.

Marwitz starrte zum Dach der Lagerhalle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo gerade eine Gestalt aufsprang. Sie war nur als Schattenriss zu erkennen, hielt aber etwas in der Hand, das wie eine Armbrust aussah.

Die beiden Polizisten hatten den Schützen offenbar auch gesehen, denn der Beamte am Steuer startete sofort den Motor.

Marwitz rannte über die Straße.

„Bleiben Sie, wo Sie sind, Marwitz!“, rief ihm die Beamtin zu. Sie war noch ziemlich jung, aber in ihrer Stimme lag eine Autorität, die Marwitz tatsächlich stoppte. Nach Atem ringend stand er da, während der Streifenwagen auf das Firmengelände auf der anderen Straßenseite fuhr.

Mit quietschenden Reifen stoppte das Fahrzeug. Die beiden Beamten sprangen heraus, und die Frau zog ihre Waffe. Ihr Kollege rief zuerst über Funk Verstärkung, dann nahm er ebenfalls die Dienstwaffe aus dem Holster.

Sie gingen vorsichtig voran. Jeder nahm sich eine Seite der Lagerhalle vor. Das vordere Tor war verriegelt. Gearbeitet wurde hier zurzeit nicht. Die Firma, der das Lagerhaus gehörte, war ein Zulieferer im Anlagenbau, und wegen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise hatte sie derzeit den Betrieb einstellen müssen.

Auf der anderen Seite des Gebäudes trafen sich die beiden Polizisten wieder. Von der Gestalt auf dem Dach war nirgends etwas zu sehen.

„Glaubst du an Zauberei?“, fragte die Beamtin.

„Seit dem letzten Kindergartenjahr eigentlich nicht mehr“, antwortete ihr Kollege.

„Es gibt hier nirgends eine Leiter oder dergleichen. Von außen kann er nicht auf das Dach geklettert sein.“

„Dann ist er von innen dorthin gelangt.“

Der Polizist ging etwa zehn Meter zu einer Personaltür. Das Schloss war aufgebrochen worden. „Er muss noch da drinnen sein!“

„Sollen wir rein?“

„Warten wir auf Verstärkung. Weg kann er nicht.“

„Auch wieder wahr.“

„Mann, du hast Nerven“, sagte Harry Handbroich, der sich erst mal eine Selbstgedrehte genehmigte.

Marwitz nahm deutlich den süßlichen Marihuana-Geruch wahr. Manche Gewohnheiten ließen sich offenbar nur schwer ablegen, und Harry schien der festen Überzeugung, dass die Polizei im Augenblick Wichtigeres zu tun hatte, als sich um einen einzelnen friedlichen Haschischkonsumenten zu kümmern.

Harry schüttelte den Kopf. „Da macht dich ein Irrer fast alle, und du hast nichts anderes im Kopf als dein Geschäft!“ Harry konnte es kaum fassen, dass Frank Marwitz zum Handy gegriffen hatte, noch während die Polizisten auf dem gegenüberliegenden Grundstück nach dem Armbrustschützen suchten.

Doch Marwitz brauchte einfach eine funktionierende PA-Anlage zum Korschenbroicher Schützenfest. Wenn er das nicht auf die Reihe brachte, war der Auftrag weg und er konnte sich in Korschenbroich und Umgebung nie wieder blicken lassen.

Mit dem kaputten Lautsprecher war die von Harry gelieferte Anlage jedenfalls nicht mehr zu gebrauchen. Er brauchte eine neue oder zumindest einen passenden Ersatzlautsprecher. Also telefonierte er, was das Zeug hielt, um die Sache doch noch zu retten.

Minuten vergingen, während derer sich Harry Handbroich unter dem Einfluss seines

„Sticks“ wieder etwas beruhigte. Er starrte die ganze Zeit über zum Lagerhaus, aber dort tat sich nichts Auffälliges.

In der Ferne waren Martinshörner zu hören, deren Jaulen immer mehr anschwoll.

Wenig später bogen die ersten Einsatzfahrzeuge um die Ecke.

Die Polizeiwagen fuhren auf das Firmengelände. Ein gutes Dutzend Beamte in kugelsicheren Westen sprang heraus.

„So was gibt’s sonst nur im Kino“, meinte Harry Handbroich und zog an seinem Stick. „Aber wir haben einen schlechten Platz. Wenn ich bei der Borussia so wenig sehen könnte, würde ich mein Geld zurückverlangen.“ Die Polizisten drangen ins Innere der Halle vor, deren Personaltür wenig fachmännisch aufgebrochen worden war. Dreimal war der Armbrustschütze zuvor per Megafon aufgefordert worden, das Gebäude mit erhobenen Händen zu verlassen.

Aber der Kerl – vorausgesetzt, es handelte sich tatsächlich um einen Mann – schien gar nicht daran zu denken, sich zu ergeben.

Licht fiel durch die hohen Fenster der Halle. Die Maschinen waren verhüllt und sahen aus, als hätte Christo sie zum Bestandteil einer seiner Kunstaktionen gemacht.

Es dauerte nicht lange, und die gesamte Halle war bis auf den letzten Winkel durchsucht. Von dem Armbrustschützen gab es keine Spur. Man stieß auf einen Gullydeckel. Am Staub war zu sehen, dass er erst vor Kurzem geöffnet worden war.

Einer der Beamten deutete darauf und fragte: „Kann man auf diesem Weg von hier entkommen?“

„Wenn man nicht allzu geruchsempfindlich ist – sicher!“, meinte ein anderer Ordnungshüter. „Jedenfalls dürfte der Typ über alle Berge sein – oder wie immer man das auch ausdrücken will, wenn sich jemand unterirdisch ... äh, abseilt.“ Ein paar seiner Kollegen schmunzelten über die Wortspielerei. Dann wurde der Gully geöffnet. Eisensprossen führten hinab in die Tiefe.

„Möchte wissen, was die hier produziert haben, dass sie darauf eingerichtet sind, so große Wassermengen in der Halle abfließen zu lassen“, wunderte sich ein Polizist mit grauem Haar.

An einer der Sprossen, die hinabführten, war ein Zettel befestigt. Einer der Beamten kniete sich hin und holte den Zettel heraus.

PECH GEHABT!, stand in großen Fraktur-Buchstaben darauf.

Was auch immer man davon halten mochte – die hastige Arbeit eines Schmierfinks waren diese komplizierten Zeichen nicht. Da hatte sich jemand Mühe gegeben.

Berringer fuhr zum Stadtteil Westend, wo Eckart Krassow seine Geschäftsräume in der Leibnitzstraße unterhielt.

Das Büro war geöffnet, die Einrichtung schlicht und zweckmäßig. An den Wänden hingen Plakate von Veranstaltungen, auf denen Eckart Krassow in irgendeiner Funktion aufgetreten war. Außerdem gab es ein paar vergrößerte Screenshots, die ihn als Astro-Talker im TV zeigten, versehen mit dem Hinweis, dass man seine Sendung auch als Live-Stream über Internet verfolgen konnte, und mit den Zeiten, zu denen Krassow höchstselbst auf der Mattscheibe zu bewundern war.

Offenbar sah er das als professionelle Eigenwerbung an, während es dem Sender wohl gleichgültig war, wer da in den Leben der Anrufer herumpfuschte und mit der Autorität angeblich kosmischer Mächte dafür sorgte, dass Jobs und Partner gewechselt wurden, weil sie nicht für den Anrufer „bestimmt“ waren.

Eine Frau saß hinter einem Schreibtisch mit Computer. Sie war Mitte zwanzig, hatte gelocktes Haar, trug Jeans und T-Shirt und hatte für Frisur und Make-up erkennbar viel Aufwand betrieben. Vielleicht sah sie wegen der dicken Schichten Schminke einfach auch nur älter aus und war in Wahrheit gerade erst mit der Schule fertig. Die Fingernägel waren so lang, dass sie die Bedienung einer Computertastatur erheblich erschwerten – wie vermutlich fast alles andere auch, was in irgendeiner Form mit Arbeit zu tun hatte.

Außer Apfelsinenschälen, dachte Berringer. Wahrscheinlich war sie eine Vierhundert-Euro-Kraft oder eine Ein-Euro-Jobberin oder eine Praktikantin, wobei Berringer Letzteres schon fast ausschloss. Praktikanten präsentierten in der Regel nicht vorsätzlich äußere Hinweise auf ihre Arbeitsunfähigkeit.

EVENT-AGENTUR KRASSOW – WIR MACHEN DIE GRÖSSTEN EVENTS, stand auf einem der Plakate. Die junge Frau, die Berringer mit einem wenig professionellen Nicken begrüßte, bezog den Slogan offenbar in erster Linie auf ihre eigene Erscheinung.

„Ja?“, fragte sie und offenbarte dabei, dass sie ein Kaugummi im Mund hatte.

„Mein Name ist Berringer. Ich hätte gern Herrn Krassow gesprochen.“

„Is weg“, sagte sie, und Berringer dachte: Jetzt fehlt nur noch, dass sie eine Blase macht.

„Ja, das habe ich mir nach einem kurzen Rundblick durch Ihr Büro auch schon gedacht. Aber ich muss ihn wirklich sehr dringend sprechen. Vielleicht ...“

„Was iss’n?“

„Das muss ich ihm schon selbst sagen. Wann ist er denn wieder hier im Büro?“

„Weiß nich.“ Sie kaute jetzt ganz ungeniert. „Sind Sie der Typ aus Korschenbroich?“

„Wieso?“

„Wieso stellen Sie mir 'ne Frage, wenn ich Sie was frag?“ Berringer atmete tief durch. Kein Wunder, dass Krassows Agentur noch schlechter lief als die von Marwitz, bei so einer Marketing-Granate im Büro.

Die junge Frau verschränke die Arme vor der Brust. Man brauchte kein Experte für Körpersprache zu sein, um zu begreifen, dass sie das Gespräch im Wesentlichen für beendet hielt.

Berringer hatte genug. Seine Augen wurden schmal, und er fixierte sie mit seinem Blick. Dann sagte er: „Hören Sie gut zu! Ich ermittle, weil auf den größten Konkurrenten von Herrn Krassow mit einer Armbrust geschossen wurde – und zufällig ist bekannt, dass Herr Krassow nicht nur liebend gern das Korschenbroicher Schützenfest und internationale Hockey-Turnier moderieren würde, sondern auch noch passionierter Armbrustschütze ist! Ich muss ihm dringend ein paar Fragen stellen, und es wäre auch in seinem Interesse, wenn ich ihn umgehend erreichen könnte!“

Die junge Frau machte große Augen. „Polizei?“

„Wo ist Herr Krassow? Kann ich ihn vielleicht zu Hause erreichen?“

„Moment.“ Sie ging zum Telefon, betätigte eine Kurzwahltaste mit dem Fingergelenk, um ihre Nägel zu schonen, und schmatzte dabei hektisch auf ihrem Kaugummi herum.

„Papa?“, fragte sie dann in den Hörer.

Papa – das erklärte vieles. Zumindest ergab sich daraus ein plausibler Grund, weshalb Krassow sie in seiner Agentur arbeiten ließ. Ob er sich damit einen Gefallen tat, stand auf einem anderen Blatt.

„Papa, hier ist ein Polizist“, sagte sie, und Berringer dachte: Na ja, wenn man ein

»Ex« davor setzt, ist es nicht mal verkehrt. „Der will dich unbedingt sprechen ... Hat er nich gesagt ... Jaaa, Papa! Jaaahaaa, ich weiß, Papa ...“ Es folgten noch zwei lang gezogene »Ja«, deren Modulation den ansteigenden Grad ihrer Genervtheit widerspiegelte. Dann legte sie auf und sagte erst danach: „Tschüss!“ Sie ging wieder zu Berringer hin. „In einer halben Stunde können Sie zu uns nach Hause kommen. Dann ist er dort. Adresse kennen Sie, sagt mein Vater.“

„Gut.“

„War’s das?“

„Vielleicht können Sie mir ja auch etwas über diese Sache sagen, Frau Krassow. Zum Beispiel, wo Ihr Vater war, als ...“

„Ich heiße nicht Krassow, sondern Runge“, sagte sie. „Tanja Runge. Meine Mutter hat meinen Vater damals nicht geheiratet.“

„Ach so ...“

„Und ansonsten ... Als Tochter brauche ich doch nicht auszusagen, oder?“

„Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie Ihren Vater belasten könnten, nein. Aber wenn dessen Alibi in Ordnung ist, dann besteht kein Grund zu schweigen. Im Gegenteil.“

„Also gut: Zur fraglichen Zeit hat mein Vater diese Astro-Sendung moderiert, auf diesem Esoterik-Kanal.“ Sie deutete auf den Bildschirm auf ihrem Schreibtisch. „Ich hab‘s mir im Live-Stream angesehen. Und dass es wirklich live war, ist klar, denn es haben ja Leute angerufen, um sich beraten zu lassen.“

„Trotzdem ist Frank Marwitz felsenfest davon überzeugt, dass Ihr Vater hinter all dem steckt.“

Sie runzelte die Stirn. Durch die dicke Make-up-Schicht zeichneten sich ein paar zusätzliche Linien in ihre Haut, die sonst wohl nicht so deutlich aufgefallen wären.

Nun ja, dafür gibt’s ja heutzutage Botox, dachte Berringer.

„Was meinen Sie denn mit all dem? “

„Er denkt, dass Ihr Vater eine Rockerbande angestiftet hat, ihn fertigzumachen.“

„Ach, der Scheiß. Wieso stellen eigentlich Kriminalbeamte immer dieselben Fragen?

Is das 'n besonderer Trick? Denken Sie, dass ich was anderes sag, wenn Sie zehn Leute vorbeischicken, die mich auf die gleiche Weise anlabern?“

„Sie haben recht, das muss sehr nervig für Sie sein. Aber wir stehen nun mal unter großem Druck, denn wir müssen den Täter finden, ehe noch Schlimmeres passiert.“

„Lochen Sie doch diese Rocker ein, wenn Sie wirklich glauben, dass die so was machen“, sagte sie, und ihre Stimme wurde auf einmal schrill. „Aber lassen Sie meinen Vater und mich in Frieden! So einfach ist das!“

„So einfach ist das leider nicht“, erwiderte Berringer ruhig und schaltete um auf die in seinem Gedächtnis gespeicherte Aufzeichnung mit dem Titel „Verständnisvoller Polizist“. Die war immer noch in voller Länge und perfekter Tonlage abrufbar. Um sie abzuspielen, musste er sich nicht einmal darauf konzentrieren. Selbst wenn sein Gegenüber wusste, dass er gar kein Polizist war, traf er damit oft genug den richtigen Ton, sodass sich sein Gesprächspartner beruhigte und innerlich abkühlte.

Berringer bewegte also nahezu automatisch die Lippen, während er überlegte, ob die Shows des Astro-Senders tatsächlich immer live ausgestrahlt wurden. Das würde man noch genauer überprüfen müssen. Ob ihn die Krassow-Spur wirklich weiterbrachte, bezweifelte er allerdings inzwischen.

Dennoch sagte ihm irgendetwas, dass da noch mehr war. Etwas, das alles in einem anderen Licht erscheinen lassen würde. Ein Puzzlestück, das noch fehlte und irgendwie mit Krassow zu tun hatte. Er konnte es nicht erklären. Es war einfach Instinkt, ein Bauchgefühl, das aus der Erfahrung kam und dem Berringer immer mehr zu vertrauen gelernt hatte.

„Eine Bitte hätte ich noch“, sagte er schließlich. „Ihr Vater hat doch sicher so etwas wie eine Visitenkarte.“

Sie schien einen Augenblick nachzudenken, und Berringer fragte sich, warum ihr die Antwort so schwerfiel. Was für ein Gedanke ging ihr dabei im Kopf herum?

Drei Möglichkeiten standen zur Auswahl: Will er damit etwas Bestimmtes sagen? Wo sind die Karten? Soll ich ihm überhaupt eine geben?

Schließlich ging sie zum Schreibtisch, nahm eine Karte heraus und reichte sie Berringer wortlos.

„Danke.“

„Ich hab ganz vergessen, Sie nach Ihrem Dienstausweis zu fragen“, sagte sie plötzlich.

„Das holen wir ein andermal nach. Wiedersehen.“

„Sie sind doch Polizist, oder?“

„Bis dann.“

Berringer war schon halb zur Tür hinaus, deshalb konnte er das, was die junge Frau noch sagte, nicht mehr verstehen.

Er sah auf die Karte. Alles drauf: Firmenadresse, Privatadresse, Handynummer ...

Immer und überall erreichbar zu sein, gehörte zweifellos zu dem Job, den Leute wie Krassow ausübten.

Ich hätte sie gleich nach der Karte fragen sollen, dann hätte ich mir den Rest sparen können, dachte er grimmig.

Berringer besorgte sich in einer Bäckerei einen Coffee-to-go und ein Käsebrötchen, vertilgte das Brötchen im Stehen, schlürfte dabei den Kaffee, fuhr dann weiter nach Gerkerath im Stadtteil Rheindahlen, wo Eckart Krassow einen Bungalow bewohnte.

Er steuerte seinen Opel an den Straßenrand und stieg aus. Das Garagentor war geschlossen, man konnte also nicht sehen, ob der Herr des Hauses ausgefahren war.

Berringer klingelte an der Tür, doch es öffnete niemand.

Der Detektiv sah auf die Uhr. Insgesamt war sogar bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit Tanja Runge mit ihrem Vater gesprochen hatte. Vielleicht bin ich zu spät dran, und Krassow ist schon wieder gefahren, befürchtete Berringer. Doch er beschloss, zumindest ein paar Minuten zu warten, und lief vor der Haustür auf und ab.

Schließlich bog ein BMW um die Ecke und fuhr in die Einfahrt. Ein Mann von Anfang fünfzig stieg aus. Er trug Jeans, Jackett und ein schwarzes Hemd, dessen erste drei Knöpfe offen standen, sodass darunter ein Goldkreuz zu sehen war. Die Haare waren pechschwarz, aber diese Schwärze konnte nicht echt sein. Die Haare waren es vielleicht auch nicht. Die Falten, die sein höhensonnengebräuntes Gesicht durchzogen, dagegen schon. Der starre Blick, das aufgedunsene Gesicht und die großporige Haut sprachen dafür, dass Eckart Krassow in der Vergangenheit nicht nur Feiern aller Art moderiert, sondern sich auch selbst gern am Frohsinn beteiligt hatte, wenn Hochprozentiges ausgeschenkt worden war.

„Polizei?“, fragte er.

„Herr Krassow?“

„Ja. Erkennen Sie mich nicht von Ihren Fahndungsfotos, die wahrscheinlich inzwischen schon auf jeder Polizeiwache hängen?“, fragte er gallig. „Wahrscheinlich haben Sie die auch schon ins Internet gestellt, damit mein Ruf auch gründlich ruiniert wird.“

„Seien Sie versichert, dass ich auf keinen Fall Ihren Ruf ruinieren will, Herr Krassow.

Ich habe einfach nur ein paar Fragen.“

Krassow kam zur Tür. „Was denn für Fragen, verflucht noch mal? Ich hab zu tun!

Aber das versteht einer wie Sie ja nicht. Ich bin selbstständig, das heißt, ich arbeite selbst und ständig, anstatt nur auf die dicke Pension zu warten wie gewisse andere Berufsgruppen, die sich einen feuchten Dreck darum scheren, wessen Steuergelder sie verschwenden.“

„Vielleicht ...“

Krassow ließ Berringer gar nicht zu Wort kommen. Da hatte sich offenbar einiges an Wut bei ihm angestaut. „Ich habe mich vor Ihren Kollegen wirklich ausgezogen! Ich habe sogar zugestimmt, dass sie meine Kontobewegungen überprüfen, damit dieser Vorwurf, ich würde irgendwelche Gelder an irgendwelche Rocker zahlen, schnellstmöglich aus der Welt geschafft wird. So etwas ist für mein Geschäft nämlich das reinste Gift. Ich habe mich also kooperativ gezeigt, anstatt die Ermittlungen zu erschweren. Hätte ich auch tun können. Mir einen Anwalt nehmen, auf einer richterlichen Verfügung bestehen, gegen alles Widerspruch einlegen und so weiter und so fort. Aber das war ja gar nicht in meinem Interesse ...“

„Herr Krassow ...“

„Und wie bekommt man es gedankt? Dadurch, dass diese Beamtenseelen einfach jemand Neuen schicken, dem man dann alles noch mal erklären darf!“

„Vielleicht gehen wir besser ins Haus“, schlug Berringer vor. „Ich weiß nicht, ob unser Gespräch wirklich dafür geeignet ist, dass die ganze Nachbarschaft mithört.“ Krassow atmete tief durch, und seine Solariumsbräune bekam einen noch etwas dunkleren Ton, was wohl seine ganz individuelle Art des zornigen Errötens war.

„Kommen Sie“, sagte er, nachdem er ein paar Sekunden lang nervös an dem BMW-Anhänger seines Schlüsselbundes herumgespielt hatte. Er schloss die Tür auf und führte Berringer durch einen großzügig angelegten Eingangsbereich in ein ebenfalls sehr geräumiges Wohnzimmer, das allein wohl schon hundert Quadratmeter in Anspruch nahm. Dadurch, dass es nur mit einigen wenigen, aber dafür erlesenen Möbeln bestückt war, wirkte es noch größer.

„Setzen Sie sich, Herr ...?“

„Berringer.“

„Der Kollege, mit dem ich zuerst zu tun hatte, war ziemlich unsympathisch. So ein Rothaariger. Kommt hier rein, behandelt einen gleich wie einen Schwerverbrecher und quatscht einen so von oben herab an. Also ganz ehrlich, an ihrem Außenauftritt sollte Ihre Firma noch arbeiten.“

„Ich werde es ihm ausrichten“, versprach Berringer.

„Meine Tochter hat mich übrigens noch mal angerufen, als ich unterwegs war. Sie hatten wohl versäumt, ihr den Ausweis zu zeigen.“ Berringer griff in die Tasche und zeigte Krassow die ID-Card, die er sich als Privatdetektiv hatte anfertigen lassen. Genau genommen war das ein Fantasieausweis ohne irgendeine rechtliche Relevanz. Manche Detektive verwendeten Ausweise ihrer Berufsorganisationen, aber Berringer verzichtete darauf.

Krassow runzelt die Stirn. „Sie sind gar kein Polizist?“

„Hab ich auch nie behauptet. Übrigens auch nicht gegenüber Ihrer Tochter.“

„Aber ...“

„Ich bin privater Ermittler. Und wenn Sie Kriminalhauptkommissar Anderson nicht mögen – oder er Sie nicht, ganz wie man das drehen will –, dann sollten Sie mich unterstützen.“

„Hat Marwitz Sie engagiert?“

„Ja.“

„Dieser Spinner!“, brauste Krassow erneut auf. „Es reicht ihm nicht, mir die Jobs mit unlauteren Mitteln wegzuschnappen. Nein, er muss mir auch noch die Polizei auf den Hals hetzen und mich anschwärzen. Und jetzt auch noch Sie! Am besten, Sie verlassen gleich wieder mein Haus. Ich hätte Sie gar nicht eingelassen, hätte ich geahnt, wer Sie wirklich sind.“

„Hören Sie, auf Herrn Marwitz wurde ein Attentat verübt und ...“

„Attentat – das ist wohl etwas übertrieben. Er lebt ja noch!“

„Die Polizei findet diese Bezeichnung nicht übertrieben und ich ehrlich gesagt auch nicht. Sie sind Armbrustschütze und ...“

„Und? Ist bei der Untersuchung meiner Waffen, die Ihre Polizeikollegen mitgenommen haben, vielleicht irgendetwas herausgekommen? Es kann nichts Belastendes gewesen sein – weil ich nichts Unrechtes getan habe!“

„Und was ist mit den Aktionen dieser Rockerbande mit dem wohlklingenden Namen MEAN DEVVILS?“

„Als ob ich so etwas nötig hätte! Oder mir leisten könnte! Die arbeiten doch für Rotlichtgrößen und Drogenhändler, soweit man hört. Hier und da spielen die auch den Ordnungsdienst bei einschlägigen Rockkonzerten – insbesondere bei Gruppen aus der rechten Szene. Ich habe mit so einem Pack nichts zu schaffen! Fragen Sie Ihre unsympathische Konkurrenz von der Kripo; die haben meine Konten überprüft!“

„Ach, Herr Krassow.“ Berringer winkte ab. „Die MEAN DEVVILS könnten mit einer ordentlichen Überweisung doch gar nichts anfangen, das wissen wir beide.“

„Tja, so was nennt sich Rechtsstaat – ich muss jetzt meine Unschuld beweisen, obwohl ich ein wasserdichtes Alibi habe.“

„Ihre Sendung in Köln.“

„Genau. Aber allein schon der Verdacht, der da geäußert wurde, reicht aus, um meinen Ruf zu schädigen. Sie glauben ja gar nicht, wie sensibel unsere Branche ist. Da ist man schnell weg vom Fenster, das sag ich Ihnen.“ Ja, dachte Berringer. Oder wenn ein Konkurrent einfach zehn bis fünfzehn Jahre jünger ist und das Party-Publikum etwas zeitgemäßer anzusprechen versteht als man selbst.

Aber diesen Gedanken behielt Berringer diplomatischerweise für sich. „Sehen Sie, Herr Krassow“, sagte er stattdessen in versöhnlichem Tonfall. „Wie Sie eben selbst anmerkten, haben Sie doch ein besonderes Interesse daran, dass alles aufgeklärt wird.“ Oft machte der Ton die Musik, und das galt für Gespräche dieser Art ganz besonders. Das waren Situationen, in denen es wichtiger war, wie etwas gesagt wurde, als der Inhalt selbst. „Wir haben sozusagen dasselbe Ziel, Herr Krassow ...“ Bevor er weitersprechen konnte, meldete sich Krassows Handy mit einer abgespeckten Version der charakteristischen ersten drei Akkorde von „Smoke On The Water“.

Du warst also auch mal Rocker, dachte Berringer.

„Ja, hier Krassow ... Ja, ja, natürlich kann ich einspringen, das ist überhaupt kein Problem ... Nein, Sie können sich darauf verlassen ... Eine PA-Anlage? Besorg ich auch ... Okay, alles weitere bespreche wir dann morgen früh.“ Krassow beendete das Gespräch.

„Ein neuer Auftrag für Ihre Agentur?“, fragte Berringer.

„Ich mach mir 'nen Kaffee. Wenn Sie auch einen wollen, schütt’ ich Ihnen 'ne Tasse ein. So viel Zeit habe ich für Sie. Aber das muss es dann auch gewesen sein.“

„Gern.“

Berringer tat endlich, wozu ihn Krassow anfangs schon aufgefordert hatte: Er nahm Platz.

Krassow ging in die Küche. „Es ist löslicher Kaffee!“, rief er.

„Das macht nichts.“

„Ich wollte Sie nur warnen.“

„Ist schon in Ordnung.“

„Zu mehr als löslichem Kaffee hab ich einfach keine Zeit. Es dauert sonst einfach zu lange ...“

Berringer hörte Krassow kaum noch zu, zumal die Bedeutung dessen, was er von der Küche her rief, zum Teil nur noch zu erahnen, aber nicht mehr zu verstehen war.

Stattdessen konzentrierte sich sein Blick auf eine Wand des Wohnzimmers, an der lauter Fotos hingen, alle gerahmt und so vergrößert, dass sie in keinem Album Platz gefunden hätten. Berringer stand wieder auf und näherte sich den Bildern, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, während Krassow noch in der Küche beschäftigt war. Auf den meisten Fotos war der Herr des Hauses selbst zu sehen.

Dazwischen hingen auch eine Reihe Urkunden, die alle auf die eine oder andere Weise etwas mit Bogen- oder Armbrustschießen zu tun hatten. Urkunden, die Eckart Krassow entweder als Gewinner von Vereinswettbewerben oder als Absolvent von Prüfungen auswiesen.

Ein Familienfoto fiel Berringer auf. Es zeigte Krassow zusammen mit einer Frau, die die Mutter seiner Tochter sein musste. Jedenfalls war sie Tanja Runge wie aus dem Gesicht geschnitten.

Seine Tochter war ebenfalls auf dem Bild zu sehen, erst zehn oder zwölf Jahre alt und ebenfalls mit einer Armbrust in der Hand.

Berringer entdeckte sie auch noch auf anderen Fotos, auf denen sie allerdings manchmal weniger gut zu erkennen war, vor allem bei den Schnappschüssen, die sie bei der Ausübung ihres Sports zeigten; der Schaft der Armbrust verdeckte bei diesen Fotos häufig die Kinnpartie.

Krassow kehrte mit zwei Bechern Kaffee zurück, aus denen leichter Dampf aufstieg.

Er trat mit gerunzelter Stirn auf Berringer zu und reichte ihm einen der Becher.

„Suchen Sie was Bestimmtes?“

„Eigentlich nicht. Aber Familienfotos lösen immer ein ganz besonderes Interesse bei mir aus.“

„Haben Sie auch Familie?“

„Ich hatte“, sagte Berringer.

„Tja, heutzutage wird jede dritte Ehe geschieden, und oft genug verhindern die Frauen dann den Kontakt zischen dem Vater und den Kindern. Dann bricht natürlich alles auseinander.“

„Nein, bei mir war das simpler“, sagte Berringer. „Ein Killer, der eigentlich mich töten wollte, hat meine Frau und meinen Sohn mit einer Autobombe in die Luft gesprengt.“

„Oh ...“, sagte Krassow. „Das ... das tut mir leid.“

„Tanja sieht ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich.“

„Ja, vor allem auf den alten Bildern. Wenn man Frederike heute sieht ...“

„Stell ich mir in Ihrem Job gar nicht so leicht vor. Als alleinerziehender Vater, meine ich.“

Krassow sah ihn erstaunt an. „Wie kommen Sie darauf? Ich hatte nicht erwähnt, dass Frederike und ich nicht mehr zusammen sind.“

„Entschuldigen Sie, ich hab laut gedacht. Mir ist einfach nur aufgefallen, dass die jüngsten Aufnahmen, auf denen sie zu sehen ist, sieben bis acht Jahre alt sein müssen

– grob geschätzt aufgrund des Alters, das Ihre Tochter auf den Fotos hat.“ Krassow seufzte. „Sie beobachten sehr genau. Und Sie haben recht. Frederike hat uns verlassen.“

„Eine ganze Familie von Armbrustschützen – Vater, Mutter, Tochter. Das hat man selten.“

„Man wird ruhig dabei“, erklärte Krassow. „Sehen Sie, in meinem Job stehe ich immer unter Strom. Ständig muss ich hundertfünfzig Prozent geben, um irgendwelche Säle zum Kochen zu bringen, und selbst in dieser Astro-Show muss ich mich sehr konzentrieren ...“

Auf Ihre seherische Gabe, dachte Berringer ironisch, behielt den Kommentar aber für sich. Wahrscheinlich bestand die Kunst, die man Krassow abverlangte, eher darin, die Anrufer lange genug an der Strippe zu halten, damit man möglichst viele Gebühren abbuchen konnte.

„Ich kann Sie gut verstehen“, sagte Berringer stattdessen – ganz im Sinn eines positiven Feedbacks, wie in Lehrgängen zur Gesprächsführung immer empfohlen wurde.

„In dem Augenblick, in dem man schießt, denkt man an nichts mehr, dann ist das Gehirn wie leergefegt“, fuhr Krassow fort. „Sonst geht der Schuss daneben.“

„Man schaltet also völlig ab, meinen Sie das?“

„Genau. Ich kann das wirklich nur jedem empfehlen.“ Berringer nippte an dem Kaffee. Er war etwas bitter. So hatte der Kaffee früher geschmeckt, wenn man die Bohnen in sogenannten Dritte-Welt-Läden gekauft hatte.

Fair gehandelt, stark geröstet. Krassow trank seinen Becher in wenigen Zügen leer.

Berringers Handy meldete sich. Er ging ran, und kaum hatte er seinen Namen genannt, hörte er den Anrufer hastig sagen:

„Hier Marwitz. Bei mir ist der Teufel los. Es wäre nett, Sie würden sofort herkommen!“

Als sich Berringer kurze Zeit später hinter das Steuer seines Wagens setzte, meldete sein Handy eine SMS. Die sah er sich schnell noch an, bevor er losfuhr. Frank Marwitz befand sich erst einmal in Sicherheit. Zumindest hatte der Event-Manager behauptet, dass sich rund zwanzig Beamte, wenn nicht mehr, in der Nähe seines Büros aufhielten.

Der Text der SMS lautete: Warum hast du dich nicht gemeldet? W.

W. – das war Dr. Wiebke Brönstrup, Gerichtsmedizinerin und Berringers alte Flamme. Das war lange vor seiner Ehe gewesen, und Berringer hatte nicht gedacht, dass sie beide ihre alte Affäre noch einmal wiederaufleben lassen würden. Doch das Schicksal oder vielleicht auch nur Wiebkes beruflicher Weg hatte sie vor einiger Zeit wieder zusammengeführt, auch wenn Berringer noch nicht so ganz klar war, wohin das Ganze laufen sollte. Schließlich war es zwischen ihnen schon einmal schiefgegangen – und das zu einer Zeit, als seine Seele noch gesund gewesen war.

Auf der anderen Seite konnte ihm Wiebke vielleicht dabei helfen, die Vergangenheit endlich ein Stück weit hinter sich zu lassen. Die Betonung lag dabei allerdings auf ein Stück weit.

Berringer seufzte und überlegte, was er antworten sollte. Sein Kopf war auf einmal völlig leer. Alle Wörter, die auch nur im Entferntesten hätten passen können, schienen sich plötzlich aus seinen Gehirnwindungen verabschiedet zu haben. Eine Minute verging, dann eine zweite. Schließlich schrieb er: Wir telefonieren.

Erst als er die Nachricht abgeschickt hatte, erinnerte er sich daran, dass er ihr die gleichen zwei Worte erst vor Kurzem geschrieben hatte. Mist, dachte er, das wird sie als unsensibel interpretieren.

Aber es war zu spät. Die Nachricht war weg. Unwiederbringlich im Äther des Mobilfunknetzes.

Doch schon im nächsten Moment fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.

Er sah, wie Krassow ziemlich eilig zum Kofferraum seines Wagens stiefelte. Er holte ein paar schlammverschmierte Turnschuhe daraus hervor und steckte sie in einen Müllsack, dann überquerte er die Straße und warf den Beutel in einen Mülleimer, den jemand anderes rausgestellt hatte. Erst da bemerkte er, dass ihn Berringer von seinem Wagen aus beobachtete, und er erstarrte mitten in der Bewegung und mitten auf der Straße.

Ganz kurz präsentierte er sein Gesicht ohne das so kontrollierte, geschäftsmäßige Event-Manager-Lächeln. Aber dieser rare Moment, in dem er einen tieferen Einblick unter seine glatte Moderatorenfassade gewährte, war sogleich wieder vorbei.

Krassow ging auf Berringers Wagen zu, und der Detektiv ließ die Scheibe nach unten.

„Sie beschatten mich doch nicht etwa?“, fragte Krassow mit gezwungen wirkendem Lächeln.

„Dann hätten Sie mich nicht bemerkt“, erwiderte Berringer. „Ganz bestimmt.“

„Ja, ja ...“

„Glauben Sie mir.“

„Ich wette, Sie haben auch schon mal was in einen fremden Mülleimer geworfen, der halb leer ist.“

„Sicher.“

„Es kostet heutzutage ja fast so viel, all das Zeug wieder loszuwerden, das man sich gekauft hat, wie man ursprünglich dafür ausgegeben hat, um es zu bekommen.“

„Dennoch putze ich meine Schuhe lieber, statt sie wegzuschmeißen“, entgegnete Berringer.

„Ich bin in Scheiße getreten, um es deutlich zu sagen. Den Geruch kriegen Sie nie wieder richtig weg, und in meinem Job muss man immer einen guten Eindruck machen.“

„Wo tritt man denn hier in Scheiße?“, fragte Berringer.

„Überall. Mir ist es beim Joggen passiert, aber Sie können hier gehen, wo Sie wollen

– überall Leute mit großen Hunden, die große Haufen machen, und niemand, der dafür sorgt, dass Straßen und Wege wieder sauber werden!“

„Ich muss los“, sagte Berringer.

„Wiedersehen.“

„Bestimmt.“

Berringer ließ das Seitenfenster hochgleiten und startete den Motor. Im Rückspiegel sah er noch, wie Krassow ihm hinterher blickte. Als hätte ich ihn dabei erwischt, wie er eine Leiche beseitigt, dachte der Detektiv.

Dabei waren es doch nur Schuhe ...

Bei der nächsten Ampel piepte sein Handy erneut und kündigte damit Wiebkes Antwort-SMS an.

Die Nachricht bestand nur aus einem einzigen Wort.

wann

Klein geschrieben und ohne Satzzeichen.

Berringer schrieb: Später.

Mehr ging nicht, dann war die Ampel wieder grün.

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