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ZWEISAM IN SONSBECK

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Krimi von Alfred Bekker

© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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Die Stimmen.

Sie hören nicht auf.

Ich dachte, ich könnte sie zum Schweigen bringen, aber das war wohl ein Irrtum. Eine gewisse Traurigkeit überkommt mich. Ein Gefühl der Vergeblichkeit.

Zu Hause ist es manchmal ziemlich einsam.

Wenn ich niemanden habe, mit dem ich reden kann, höre ich die Stimmen.

Also muss ich immer dafür sorgen, dass ich nicht allein bin.

Es war an einem heißen Juli-Nachmittag, als die St. Gerebernus-Prozession durch Sonsbeck zog.

Letztes Jahr.

Der Musikverein Harmonie 1911 spielte.

Trotz der komischen Uniform, die nicht gerade feminin wirkt, fiel mir eine Trompeterin auf. Ich bin nicht sehr musikalisch, hatte aber das Gefühl, dass es nicht richtig sein kann, wenn man eine Trompete aus dem Bläsersatz dermaßen schrill heraushört. Dem Gesichtsausdruck des Dirigenten nach hatte ich mit dieser Einschätzung Recht.

Damals sah ich Franziska zum allerersten Mal. Allerdings wusste ich noch nicht, dass sie Franziska hieß.

Ich konnte sie einfach nicht vergessen.

Ihr Gesicht, meine ich.

Ich betrete das Sonsbecker Rathaus in der Herrenstraße 2. Es dauert eine Weile, bis ich mich durchgefragt habe und schließlich im Zimmer des Sachbearbeiters sitze, der dafür zuständig ist, einem Bedürftigen wie mir Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.

Der Sachbearbeiter heißt Wolke. So hat er sich mir gegenüber vorgestellt. Seine Kollegin, die während unseres Gesprächs mehrfach hereinschneit und uns mit irgendwelchen ach so dringenden Lappalien unterbricht, nennt ihn HEBBET.

Nicht HERBERT sondern HEBBET.

Vielleicht kommt sie aus dem Hessischen.

Jedenfalls ist sie nicht von hier.

Zugezogen.

Ihre Sprache verrät sie.

Sie ist blond und quirlig.

HEBBET ist genau das Gegenteil.

Dunkelhaarig und ziemlich behäbig. Richtig lahm. So, wie man sich einen Beamten in seiner Amtsstube eben vorstellt.

Wolke lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht mich abschätzig an.

"Sie wollen also Geld von mir haben."

"Nicht von Ihnen persönlich."

"Logisch", knurrt er. "War ein Witz."

"Ach, so."

Er atmet tief durch, beugt sich vor und greift sich anschließend mit schmerzverzerrtem Blick an den Rücken. Irgendetwas zwickt ihn da. Das sind eben die Folgen des Dauersitzens. Kann man in jedem Apothekenblatt nachlesen.

"Sie haben zurzeit keine Arbeit?", fragt er mich.

"Nein."

"Seit wann?"

"Seit ... Schon jahrelang."

"Wovon haben Sie gelebt?"

"Vom Geld meiner Mutter."

"Ist Ihre Mutter berufstätig?"

"Nein, jetzt nicht mehr. Sie steht nicht mehr auf. Jedenfalls nicht ohne Hilfe."

"Heißt das, sie ist ein Pflegefall?"

"Kann man so sagen."

"Zahlen Sie Miete?"

"Nein. Ich lebe im Haus meiner Mutter. Also, eigentlich ist es mein Haus. Sie hat es mir vor ein paar Jahren überschrieben."

"Außer den Zuwendungen Ihrer Mutter haben Sie keinerlei Einkünfte?"

"Ich habe hin und hin und wieder mal ..." Ich stocke.

"Schwarzarbeit?", erlöst er mich davon, mich selbst belasten zu müssen.

"Ja."

Er seufzt. Sieht genervt aus. Ich bereue schon, überhaupt hier her gekommen zu sein.

"Sie müssen mir Ihre Vermögensverhältnisse offen legen, sonst gibt es kein Geld für Sie", erklärt mir Wolke jetzt unmissverständlich. "Wenn Sie Ihre Mutter pflegen, dann hätten Sie auch vielleicht Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse. Haben Sie Ihre Mutter vom medizinischen Dienst begutachten und in eine Pflegestufe einstufen lassen?"

"Nein."

"Das sollten Sie schleunigst veranlassen", sagt Wolke. "Ihren Schilderungen entnehme ich, dass Ihre Mutter bettlägerig ist."

"Ja."

"Dann sind Sie auf Grund der übernommenen Pflege auch nicht voll erwerbsfähig." Er seufzt, sieht auf die Uhr. "Wissen Sie was, ich muss heute pünktlich weg. Aber ich habe hier ein Formular für Sie. Füllen Sie das bitte aus und kommen Sie doch danach wieder in mein Büro."

"Wann?", frage ich.

Er zuckt die Achseln. "Die Tage mal."

Ich bekomme das Formular.

Seine quirlige Kollegin schneit noch einmal hinein. "HEBBET, eine Unterschrift!", säuselt sie, legt ihm was auf den Tisch. HEBBET unterschreibt ohne sich das Blatt durchzulesen.

"Alles klar?", fragt HEBBET Wolke.

"Alles paletti. Hast du übrigens schon gehört, dass da eine junge Frau vermisst wird?"

"Wirklich?"

"Ja, hier aus dem Ort."

"Nö, weiß ich nix von."

"Kam gerade im Radio. Den Namen habe ich vergessen, aber morgen ist sicher ein Foto in der Zeitung."

"Vielleicht kennen wir sie."

"Sandra Stahlke oder Stahnke."

"Nee, das ist 'ne Schauspielerin, da vertust du dich, Katharina."

"HEBBET ..."

"Ja, wirklich!"

"HEBBET, die heißt Susan Stahnke und ist auch keine richtige Schauspielerin sondern ... Wat weiß ich!"

Ich habe langsam das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Quirlige Katharina heißt. Sie gefällt mir. Ich hätte sie gerne zu Hause. Nur so zum Reden. Nur zum Reden. Nicht für mehr.

Das Land hier am Niederrhein ist flach. Bäume, Häuser, Alleen, hin und wieder eine Kirche. So sieht es aus hier in Sonsbeck. Idyllisch könnte man dazu sagen. Mein Haus liegt ein Stück die Weseler Straße raus. Man kann es von der Straße aus nur im Winter sehen, wenn die Bäume kein Laub tragen. Mein Wagen, der Wagen, der meinem Vater gehört hat, steht jetzt in der Garage. Ich habe kein Geld für den Sprit mehr. Ich bin ein sparsamer Mensch, aber vielleicht war ich in der Vergangenheit nicht sparsam genug.

Jetzt fahre ich mit dem Fahrrad in die Stadt.

Geht auch.

Muss gehen.

Muss einfach.

Als ich später meine Mutter umbette, damit sie bequem liegt und keine Druckstellen bekommt, sagt sie: "Wir damals, in der schweren Zeit, wir haben ganz andere Sachen ausgehalten. Und du meckerst, wenn du mal in die Pedale treten musst!"

Als ich das Sozialamt verlasse, fällt mir das Plakat der Volkshochschule auf. "Volkshochschulzweckverband Alpen-Rheinberg-Sonsbeck-Xanten" , so nennt sich diese Institution mit vollem Namen. In Zimmer 22 des Rathauses residiert der offizielle Ansprechpartner, ein Herr mit einem holländisch klingenden Namen. Ich sehe mir das Plakat an. Karate für Anfänger, Wirtschaftsenglisch für Fortgeschrittene und Kreatives Schreiben.

MORD FÜR ANFÄNGER UND FORTSCHRITTENE, steht da in großen Buchstaben. Lernen Sie literarisch zu morden.

Klingt interessant, denke ich.

Schreiben befreit, heißt es. Man ordnet dadurch angeblich seine Gedanken.

Die vielen Stimmen im Kopf. Auch andere Dinge. Man ordnet seine Welt. Man erschafft seine Welt neu. Besser vielleicht.

Eine Weile habe ich das geglaubt.

Aber es stimmt nicht.

Gleichgültig, mit welch salbungsvollen Worten unsere Kursleiterin dies auch zu beschwören versucht. Die Stimmen sind immer noch da.

Und manch anderes auch. Aber in so einem Volkshochschulkurs für Kreatives Schreiben lernt man nette Menschen kennen. Frauen überwiegend. Und das ist doch auch etwas.

Es ist eine traurige Sache.

Warum bleiben sie nicht?

Warum erschrecken sie, wenn sie das Haus betreten? Weshalb beklagen sie alle sich über einen bestimmten Geruch, von dem sie nicht sagen können, wodurch er verursacht wird?

Sie wollen nicht bleiben und mit mir reden.

Ich weiß nicht warum.

Ist es zuviel, was ich verlange?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Und doch, es ist immer dasselbe.

Sie wollen nicht bleiben. Ich kann von Glück sagen, wenn sie sich wenigstens mit mir an den gedeckten Tisch setzen.

"Hat jemand etwas von Franziska gehört?", fragt die Kursleiterin irgendwann, nachdem Franziska schon das dritte Mal nicht zum Kurs gekommen ist.

Zunächst herrscht Schweigen.

Schließlich sagt eine junge Frau mit mattglänzendem Haar und einem sehr ernsten Gesicht, bei dem man unwillkürlich auf die Idee kommt, dass eine schwere Jugend sehr schwermütige Gedanken zur Folge hat:

"Ich habe bei ihr geklingelt, aber es war wohl niemand da."

"Also wenn ihr jemand zufällig begegnen sollte", so die Kursleiterin,

"dann möge er ihr doch bitte schöne Grüße von mir ausrichten und sie fragen, ob sie nun an unserer Lesung teilnehmen will oder nicht.

Irgendwann muss ich ja auch planen."

Sie wird nicht teilnehmen, denke ich.

Weder an der Lesung, noch an sonst irgendetwas.

Franziska wird gar nichts mehr tun.

Ich zünde die Kerzen an.

Der Schein der Flammen fällt auf ihre ebenmäßigen Züge und taucht sie in ein diffuses Licht.

Ich konnte sie nicht gehen lassen.

Ich konnte einfach nicht.

––––––––


Ich spaziere gerne am Dassendaler Weg zwischen dem Römerturm und der St. Gerebernus-Kapelle. Manchmal sagen mir Stimmen, ich soll hier hin gehen. Vielleicht suche ich instinktiv die Nähe eines sakralen Gebäudes. Betreten habe ich die Kapelle nie. Auch keine andere Kirche.

Seit Jahren nicht.

Es wäre mir irgendwie unangemessen vorgekommen. Du hast dort nichts zu suchen! , sagt eine Stimme.

Aber eine andere widerspricht: Genau hier bist du richtig. Im Angesicht des Kreuzes. Wo sonst willst du Buße tun?

Ich schließe die Augen.

Kneife sie zu.

Drücke die Handflächen auf die Ohren.

Es ist dunkel.

So dunkel.

Der Chor der Stimmen verstummt nicht.

Ich spüre eine leichte Berührung. Sie wirkt wie ein elektrischer Schlag.

"Ist Ihnen nicht gut?", dringt eine weibliche Stimme in mein Bewusstsein. Ich erkenne sie wieder, öffne die Augen und sehe die quirlige Katharina aus dem Sozialamt. Ihr Gesicht wirkt besorgt.

"Alles in Ordnung."

"Wirklich?"

"Wirklich."

"Ich habe ein Handy dabei. Soll ich einen Arzt rufen?"

"Nein, danke."

Sie sieht mich zweifelnd an. "Na, Sie müssen es ja wissen."

"Eben!"

Geh weg.

Sofort.

"Ich meine, es ist halt so, dass Kurse meistens im Laufe der Zeit kleiner werden", sagt die Leiterin einmal. "Aber wenn man keine Lust mehr hat, könnte man sich eigentlich wenigstens abmelden, finde ich."

Hast du eine Ahnung!, denke ich.

Die Leiterin macht ein ernstes Gesicht.

Drei volle Sekunden Schweigen.

Dann wenden wir uns dem Text einer rothaarigen, sehr hageren und sehr unzufrieden wirkenden jungen Frau zu, die aussieht, als hätte sie in ihrem jungen Leben schon viel mitgemacht. "Ich habe das Problem, wie ich historische Fakten in meinen Krimi einbauen soll", sagt sie. "Ich möchte schließlich nicht aufdringlich oder belehrend klingen, andererseits ... Nun, ich habe einen Kompromiss zwischen spannender Handlung und historischer Genauigkeit versucht."

Wir hören ihr zu.

Nachdem sie zwei Seiten lang über die Gründung der Stadt Sonsbeck im Jahre 8 v. Christus durch den römischen Kaiser Tiberius doziert und Bezüge zur Herrschaft der Grafen von Cleve im zwölften Jahrhundert hergestellt hat, die in Sonsbeck eine Bockwindmühle besaßen, denke ich, dass dieser Kompromiss gründlich daneben gegangen ist. Eigentlich geht es ihr nämlich darum, einen Mord zu beschreiben, der in der Turmwindmühle stattfindet, die zu dem daneben liegenden Hotel gehört.

Als die Rothaarige anschließend noch ellenlange und detailreiche Beschreibungen des fast völlig von Efeu überwuchterten Mauerwerks zum besten gibt, denke ich: Man sollte die Todesstrafe wieder einführen.

Für Langweilerinnen.

Etwas fasziniert mich doch an ihr.

Ihr Gesicht.

Sie ist nicht mein Typ, das hatte ich innerhalb der ersten zwei Sekunden entschieden, in denen ich sie sah.

Trotzdem...

Ihr Gesicht - nein, ihr Gesichtsausdruck! - dieses fleischgewordene Monument aus Qual und Entsagung, muskulös durch das Kauen von Grünkernen und Müsli, gezeichnet durch den Ausdruck permanenter Unzufriedenheit, der sich bereits in Form von charakteristischen Falten verewigt hat, erinnert mich an Mutter.

Sie sah auch so drein.

Wenn sie von der schweren Zeit sprach.

Sie sprach oft davon.

Kein Wunder, dass sie früh Falten bekam.

Das mit den Stimmen fing an, als ich etwa fünf Jahre alt war.

"Dafür brauchen wir keinen Arzt", hatte Mutter damals gesagt. "Das wächst sich aus, wenn du größer wirst."

Es hat nie wieder richtig aufgehört. Sie sind immer da. Das Einzige, was sie vorübergehend übertönen kann, sind die Stimmen anderer.

Die Stimmen meiner Besucherinnen zum Beispiel.

Mutter hat keine von ihnen gemocht - und das, obwohl ich ihr nur das Beste über sie berichtet habe. Keiner von ihnen ist sie persönlich begegnet.

"Was ich gehört habe, reicht mir für ein Urteil", pflegte sie zu sagen.

Ein Urteil.

Das war es.

Ein Urteil ohne Berufung. Ohne Verteidiger. Nur eine einsame Richterin.

"Reg dich nicht so auf", sagte ich.

"Wieso soll ich mich nicht aufregen, wenn du dich mit den falschen Frauen triffst? Welche Mutter würde sich da nicht aufregen?"

"Weißt du nicht, dass so etwas einen zweiten Schlaganfall auslösen kann?"

"Ach, Junge!"

Gegenüber vom Sonsbecker Rathaus befindet sich ein Parkplatz.

Dahinter ragt die Silhouette der evangelischen Kirche hervor. Zwei Einsatzwagen der Polizei stehen auf dem Parkplatz. Als ich mit dem Fahrrad in die Herrenstraße einbiege, fallen sie mir wegen der eingeschalteten Blinklichter gleich auf. Irgendetwas muss passiert sein.

Ich fahre auf den Parkplatz. Um die Polizisten hat sich ein Pulk von schaulustigen Passanten gebildet. Uniformierte Beamte teilen Handzettel aus. Das Bild einer jungen Frau ist darauf zu sehen. Darunter die Frage, ob jemand ihr in den letzten Tagen begegnet sei. Ein Beamter kommt auf mich zu, drückt mir auch so einen Zettel in die Hand.

"Was ist passiert?", frage ich.

"Versuchen wir gerade herauszufinden."

"Sie ist doch nicht tot?"

Meine Stimme vibriert.

Warum eigentlich?

Der Beamte sieht mich an. Seine Augen sind dunkelgrau. Genau wie sein Schnauzbart, der so dick ist, dass man von den Lippen nichts sehen kann. Er mustert mich. Ich fange an zu schwitzen. Ich fange immer an zu schwitzen, wenn mich jemand so ansieht. Genau auf diese Weise.

Unmöglich zu sagen, woran das liegt. Ich weiß nur, dass sich dann meistens die Stimmen melden.

Geh weg.

Sofort.

Flieh!

"Sehen Sie sich das Bild genau an", sagt der Polizist. "Vielleicht kennen Sie die junge Frau ja ..."

Ich nicke.

Senke zögernd den Blick.

Bislang habe ich es vermieden, mir das Gesicht anzusehen.

Tu es nicht!

Sieh nicht hin!

"Schreckliche Sache", sage ich.

"Naja, wir wissen ja noch nicht sicher, was wirklich passiert ist", erwidert der Uniformierte.

"Ich glaube, dann würden Sie nicht so eine große Aktion starten."

"Also, was ist? Kennen Sie die Frau?"

"Nein."

Ich muss schlucken.

Er sieht dir deine Lüge an, denke ich. Er sieht dir an, dass du jeden Tag mit ihr sprichst, dass sie an deinem Tisch sitzt, dass ihr zusammenlebt wie ein altes Paar.

Ich höre die Leute reden. Von härteren Strafen und perversen Schweinen, von schlampigen Gutachtern und zu milden Urteilen wegen einer schweren Kindheit. Das ganze Stammtischgequatsche eben. Der Polizist geht weiter.

Geh weg.

Sofort.

Ich steige auf das Fahrrad, zittere dabei.

"Sie wollen wirklich schon gehen?"

Ihr Gesicht wirkt verlegen.

"Ja."

"Aber ..."

Woran liegt es nur? Mutter kann nichts damit zu tun haben. Sie liegt seit ihrem Schlaganfall starr da und wenn ich sie nicht alle paar Stunden umbetten würde, bekäme sie Druckstellen, die sich nach einiger Zeit dunkel verfärben. Manchmal ruft sie nach mir, das hat sie jetzt nicht getan. Der Hass, den sie meinen Besucherinnen entgegenbringt, kann doch nicht durch die Wände ihres Zimmers gedrungen sein wie eine schwarze Giftwolke!

Ich höre Stimmen.

Einen dumpfen, choatischen Chor, der lauter wird, anschwillt.

"Ich muss mich auf den Weg machen. Verstehen Sie mich doch, es ist höchste Zeit ..."

"Ich habe den Tisch gedeckt!"

"Hören Sie, ich will Sie nicht kränken, aber ..."

"Aber?"

"Ich weiß nicht, ob es richtig war, Ihre Einladung anzunehmen ... Was ich sagen will ist ..."

"Sie können mir das nicht antun! Ich habe für Sie gekocht!"

"Das ist sehr nett, aber - "

"Alles ist vorbereitet ... "

Sie runzelt genau in diesem Moment die Stirn.

"Vorbereitet?"

Viele von ihnen haben genau in diesem Moment die Stirn gerunzelt.

Ich kann es unmöglich erklären, aber es ist so.

Ich habe kein gutes Gefühl.

"Es gibt Lachs in Kräuterbutter. Dazu einen guten Wein. Es wird Ihnen schmecken ..."

Ich habe etwas Scheußliches getan.

Naja, das haben die meisten vielleicht irgendwann schon mal in ihrem Leben. Aber das, was ich getan habe, ist von besonderer Scheußlichkeit.

Ich weiß es, aber ich kann es nicht ändern.

Ich empfinde auch keine Schuld.

Es ist so gekommen.

Aus.

Fertig.

Reden wir über etwas anderes.

––––––––


Ich sehe ihr in die Augen, diese leuchtend blauen Augen, die mich ganz friedlich anblicken.

Sie sitzt mir gegenüber, mit diesen Augen, mit ihrem schmalen Mund, mit ihrem feingeschnittenen Gesicht. Ihr Mund lächelt nicht mehr. Er ist vielmehr unbeweglich, etwas starr, ich weiß auch nicht.

Ich hebe mein Glas und proste ihr zu.

Sie schweigt.

Ich rede mit ihr. Oder besser: Ich erzähle ihr alles Mögliche. Über mich. Über meine Ansichten. Über Gott. Und die Welt.

Nein, vielleicht doch nicht über Gott. Was ich damit sagen will ist Folgendes: Gott hat in dieser Geschichte eigentlich nicht allzu viel verloren.

Ich sollte ihn aus dem Spiel lassen.

Um seinetwillen.

Mein Mund produziert Worte. Eins nach dem anderen, ohne Unterlass. Eigentlich bin ich ein schweigsamer Mensch, vielleicht sogar schüchtern. Ich lebe zurückgezogen mit meinen drei Katzen. Wie schon gesagt: Das Haus, in dem ich wohne, liegt etwas abseits.

Ich habe es für mich allein und das ist gut so.

Ein Tag vergeht. Und ein weiterer.

Ich lasse sie am Tisch sitzen. Sie blickt mich starr an, wenn wir uns unterhalten.

Hätte ich sie doch gehen lassen sollen?

Vielleicht.

Ich konnte es nicht.

Es war einfach unmöglich.

Ich brauchte sie.

Und ich hoffe nur, dass ich ihr nicht allzu sehr wehgetan habe.

Jedenfalls hat sie nicht geschrien. Sie war wohl sofort tot. Ganz bestimmt.

Ich bette Mutter um. Von links nach rechts. Ihre Gliedmaßen sind starr. Ich packe Kissen zwischen die Gelenke.

Sie redet nicht mit mir. Sie ist beleidigt.

"Ist deine Besucherin noch da?", fragt sie plötzlich.

Der erste Satz - seit Tagen.

"Ja."

"Sie ist nicht gut für dich."

"Mutter!"

"Bring sie weg."

"Nein, noch nicht!"

"Ich mag sie nicht. Sie ist ..."

"Ja?"

"... wie die anderen."

Im Innersten meines Herzen weiß ich, dass Mutter Recht hat.

Bedauerlicherweise.

Ein Kursteilnehmer trägt eine Geschichte vor, die von einem Raubmord handelt. Er stottert beim Lesen. Der Text bricht plötzlich ab.

"Mir fällt kein Ende ein", meint der Schreiber, der sich mit der flachen Hand bei jeder Gelegenheit über das schüttere Haar streicht. Dadurch lädt es sich statisch auf, steht in der Gegend herum. Wie bei jemandem, der auf dem elektrischen Stuhl sitzt.

"Ich habe jetzt eine richtige Schreibhemmung, weil ich einfach nicht weiterkomme!", stöhnt er noch mal auf.

Er kann noch nicht richtig dichten, aber so gequält dreinschauen wie ein richtiger Dichter kann er schon.

Immerhin etwas.

Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, heißt es.

"Vielleicht kann ich mich einfach nicht so richtig in einen Mörder hineinversetzen", meint der Wie-ein-gequälter-Dichter-Dreinschauende dann.

Er wendet sich an mich.

Ausgerechnet.

"Wie schaffst du das denn?"

"Ich?"

"Du hast doch letzte Woche auch eine Mörder-Story geschrieben."

"Ja."

"Na?"

"Ich weiß nicht."

Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich höre die Stimmen. Ich versuche zu verstehen, was sie sagen ...

"Ist Ihnen nicht gut?", dringen die Worte der Kursleiterin plötzlich in mein Bewusstsein.

"Mir? Wieso?"

"Sie sehen so blass aus!"

Am vierten oder fünften Tag nahm ich meine Besucherin über die Schulter und setzte sie in einen der großen Ohrensessel, die bei mir im Wohnzimmer stehen. Wir saßen beieinander. Es war schön. Jedenfalls besser, als wenn man alleine dasitzt.

Von Tag zu Tag gab es mehr Fliegen im Haus und mir war klar, woher das kam.

Ich betrachtete wehmütig ihr Gesicht.

Schade, aber ich würde mich von ihr verabschieden müssen.

Ich schob es noch ein paar Tage vor mir her. Schließlich hatte ich mich an ihre Gesellschaft gewöhnt.

Dennoch, es war unvermeidlich.

Ich löste ein paar Fußbodenbretter, unter denen ich eine Grube angelegt hatte und legte sie zu den anderen.

Später gehe ich zu Mutter.

Sie hat schon nach mir gerufen. Ziemlich ungeduldig. Die Stimmen in meinem Kopf haben die ihre übertönt. Das ist manchmal ganz angenehm. Gegen den großen Chor kommt sie eben doch nicht immer an. Ich lächele. Trotz der Sache mit meiner Besucherin.

"Willst du, dass ich Druckstellen bekomme?"

"Nein."

"Willst du, dass mir irgend ein Quacksalber das tote Fleisch herausschneiden muss?"

"Nein, natürlich nicht."

"Du weißt, dass ich Ärzte hasse und um keinen Preis einen dieser Pfuscher an mir herummachen lasse!"

Das hatte sie auch nach dem Schlaganfall gesagt, als ich sie fand. Mit starren Gliedmaßen, verkrampften Fäusten, einem hängendem rechten Augenlid.

Ich hatte sie damals kaum verstehen können, so undeutlich sprach sie.

Immerhin - das ist von allein besser geworden. Oder ich habe mich mehr daran gewöhnt. Ich bin mir nicht ganz sicher.

"Warum hast du mich dann solange warten lassen, Junge?"

"Ich habe sie weggebracht."

"Deine Besucherin?"

"Ja."

"Gott sei Dank."

Ich bette sie um.

Diesmal von rechts nach links. Sie liegt zusammengekrümmt wie ein Fötus da.

Ich schiebe Kissen unter die Gelenke.

Routine.

Jedesmal dieselbe Prozedur.

Ich muss sie genau einhalten - sonst bekommt Mutter Druckstellen, hat Schmerzen und wird sauer.

Außerdem bekomme ich die Klappe der großen Kühltruhe nicht zu, wenn ich sie falsch lagere.

ENDE

Mord Mord West: Drei Krimis mit Tatorten im Westen Deutschlands

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