Читать книгу Die blinde Nonne: Die venezianische Seherin 2 - Alfred Bekker - Страница 6
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Das nicht gerade alltägliche Ereignis hatte für einigermaßen Tumult in der Spelunke gesorgt. Der allerdings erst auszubrechen wagte, als sich hinter den beiden die Tür geschlossen hatte. Carmaro di Laurentis schien in Zuhälterkreisen jedenfalls kein Unbekannter zu sein, konnte Ricardo dabei erfahren. Und er wurde keineswegs nur von Arrenzio dermaßen gefürchtet.
Er selbst durfte zu seinem eigenen Leidwesen jetzt nicht wagen, den beiden zu folgen. Das hätte die Entdeckungsgefahr zu sehr vergrößert. Also blieb er einfach hier sitzen wo er war, beobachtete und dachte nach.
Jene Tochter aus gutem Hause kam ihm in den Sinn. Sie war ja letztlich der Grund dafür gewesen, vom Dogen auf den Fall überhaupt angesetzt worden zu sein. Irgendwie bekam Ricardo den Gedanken nicht mehr los, dass dies mit jenem di Laurentis zusammenhing.
Wie hatte die Ermordete noch geheißen? Nicht etwa di Laurentis, sondern Viara di Baseggio, weiblicher Spross mithin einer der traditionsreichsten Familien überhaupt von Venedig. Es war allerdings nie die Frage geklärt worden, was eine junge Dame von diesem Stand sozusagen in der Gosse zu suchen hatte. Es sei denn ... sie war nicht allein hierhergekommen, noch nicht einmal aus freiem Willen, hatte vielleicht sogar einen bedeutsamen Begleiter gehabt, der es längst gewöhnt war, hier zu verkehren. Etwa einen, der es sogar wagen konnte, mit einem gefürchteten Zuhälter wie Arrenzio dermaßen umzuspringen, als sei dieser nur sein elender Lakai, auf Gedeih und Verderb seinem Gutdünken ausgeliefert?
Noch gab es dafür keinerlei Beweise und blieb lediglich ein vages Gedankenkonstrukt, doch immerhin ein Konstrukt, das andererseits kaum zu widerlegen war.
Was, wenn Carmaro di Laurentis in Wahrheit ein sexbesessener Unhold war? Dann fand er die ihm hilflos ausgelieferten Opfer seiner unstillbaren Gier nicht nur hier in der Gosse unter den Freudenmädchen, sondern vielleicht auch in wohlbehüteten Verhältnissen? Leichtgläubige junge Damen etwa, die seinem falschen Charme erlagen und ihm dermaßen verfielen, dass sie ihn sogar hierher begleiteten, wo Töchter aus gutem Hause nun wirklich nicht das Geringste verloren hatten?
Und hier war die Unglückliche dann dem Serienmörder zum Opfer gefallen!
Ricardo dachte weiter: Hatte Arrenzio nicht behauptet, schon einige seiner Frauen an den Serienmörder verloren zu haben? Dass er nur deshalb ein besonderes Auge geworfen hätte auf Claudile, um diese dann auch tatsächlich rechtzeitig zu retten?
Offiziell bekannt war ja nur, dass angeblich zwei zufällige Passanten den Serienmörder bei seinem grausigen Werk überrascht hätten, um ihn zu verjagen und somit der unglücklichen Claudile – diese noch nicht einmal namentlich genannt – das Leben zu retten. Diese beiden „zufälligen Passanten“ waren jedoch ebenfalls nicht namentlich erfasst worden. Angeblich hatten sie sich der Befragung rechtzeitig entzogen.
Eigentlich mehr als nur merkwürdig, dachte sich jetzt Ricardo. Und die zuständigen Wachleute hatten sich zudem tatsächlich mit so etwas begnügt und noch nicht einmal darauf bestanden, dass Claudile ihren Namen verriet? Um diese schnurstracks trotzdem ins Hospital der barmherzigen Schwestern zu bringen, damit sie dort versorgt wurde?
Bisher hatte er dies ganz einfach als gegeben hingenommen, ohne sich darüber noch Gedanken zu machen, weil es keinerlei brauchbaren Hinweis gegeben hatte auf irgendeinen Zusammenhang etwa mit dem Fall der Pestlaken. Doch jetzt, nach der Begegnung mit Carmaro di Laurentis an diesem düsteren Ort, und dann auch noch unter solch spektakulären Umständen... bekam dies alles doch noch einen ziemlich bitteren Beigeschmack:
Was, wenn es Arrenzio und Carmaro di Laurentis gemeinsam gewesen waren, die den Mord gerade noch hatten verhindern können? Es wäre nur logisch gewesen, wenn dieser di Laurentis dafür gesorgt hätte, seinen Namen aus alledem herauszuhalten. Und den zuständigen Wachleuten war es sicherlich nicht zu verdenken, wenn sie zu Gunsten eines so mächtigen Mannes die Sache einfach auf sich hatten beruhen lassen.
Ricardo ärgerte sich nur darüber, dass es ihn nicht gleich misstrauisch hatte werden lassen, dass er erst jetzt auf die wahren Hintergründe gekommen war.
Jedenfalls war die Gefahr, die von di Laurentis ausging, wesentlich größer als die Gefahr durch Arrenzio, der augenscheinlich nur ein willfähriger Handlanger des Adligen war.
Gern hätte Ricardo jetzt doch noch Mäuschen gespielt dort draußen, um dem zu lauschen, was die beiden zu bereden hatten, aber er musste sich zurückhalten. Wobei es mehr war als nur eine Ahnung, dass Carmaro di Laurentis eine ziemlich tragende Rolle spielte, zumindest im Fall der gestohlenen Pestlaken. Welcher Art und aus welchem Motiv heraus, musste allerdings erst noch ermittelt werden.
Wahrscheinlich aus schierer Geldgier, die zu seiner Sexgier noch hinzu kam. Obwohl kaum nachvollziehbar erschien, wieso jemand ausgerechnet Geld bezahlen wollte für verseuchte Laken und Kleidungsstücke.
Und dann beherrschte Ricardo nur noch die Frage, wie er all diese kühnen Schlussfolgerungen seinem Dogen hätte beibringen können.
Eigentlich überhaupt nicht. Denn es blieben derzeit reine Spekulationen, die er in keiner Weise hätte beweisen können. Man konnte einen mächtigen Mann wie Carmaro di Laurentis nicht einfach solcher Verbrechen beschuldigen, ohne eben jene eindeutigen Beweise, die er erst noch finden musste. Die Szene, der Ricardo hier, in dieser Spelunke, beigewohnt hatte, war bei Weitem nicht tauglich als ein solcher Beweis.
Soviel jedenfalls stand eindeutig fest.