Читать книгу Die blinde Nonne: Die venezianische Seherin 2 - Alfred Bekker - Страница 7
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Nachdem Catrina di San Marco alles geregelt hatte zum persönlichen Schutz Claudiles, blieb sie immer noch dermaßen unruhig, dass sie sich unmöglich schon zur Bettruhe entschließen konnte. Ganz im Gegenteil: Die Vorkommnisse bewiesen ihr überdeutlich, dass sie viel zu wenig wusste über das Leben außerhalb der Klostermauern, was ihr vorher gar nicht so sehr bewusst gewesen war. Obwohl sie tagtäglich mit den Sorgen und Nöten der Ärmsten der Armen konfrontiert wurde als barmherzige Schwester und Nonne auf Zeit. Dadurch kannte sie allerdings die Sorgen und Nöte all derer natürlich nur vom Hörensagen und wurde niemals persönlich damit konfrontiert.
Das musste sie dringend ändern. Hier und jetzt. Es trieb sie regelrecht nach außerhalb. Hinein in die Dunkelheit der Nacht, die Venedig längst heimgesucht hatte. Für jemanden wie Catrina, so vollkommen erblindet, spielte das allerdings keine Rolle. Möchte man eigentlich meinen. Wäre sie nicht auf die Augen anderer angewiesen, und wenn andere kaum noch etwas sehen konnten, war auch sie zusätzlich eingeschränkt.
Sie wagte es dennoch. Denn sie wollte einfach mehr erfahren über die Welt, in der eine junge Frau wie Claudile gezwungen war, ihren Körper zu verkaufen, um des bloßen Überlebens willen. Trotz aller Gefahren und Risiken, die das zwangsläufig barg.
Außerdem hoffte sie, vielleicht mehr zu erfahren, wovor Claudile dermaßen Angst hatte, mehr als sogar noch vor ihrem ehemaligen Zuhälter Arrenzio. Also, wieso sagte sie nicht, wer die zweite Person war, die Arrenzio gewissermaßen geholfen hatte, den Serienmörder rechtzeitig genug zu vertreiben, ehe es für Claudile zu spät gewesen war?
Und Catrina konnte davon ausgehen, dass Claudile den Namen desjenigen durchaus wusste. Aber ihre Aussage, dass die Gefahr für sie bei Nennung dieses Namens so groß werden würde, dass nicht einmal die Klostermauern sie dann noch beschützen könnten, hatte Catrina doch alarmiert, was letztlich zu jener Unruhe in ihrem Innern zusätzlich beigetragen hatte. Und diese wiederum war zu jener ungezügelten Ungeduld geworden, so dass sie nicht erst darauf mehr warten konnte, bis Ricardo wieder einmal bei ihr auftauchte, um ihm dabei dann von diesem ominösen zweiten Zeugen zu berichten.
Zwar hatte sie nicht die leiseste Ahnung, ob sie überhaupt etwas in Erfahrung bringen konnte, wenn sie recht planlos in die Nacht hinausging, auch noch in Richtung jenes Bereiches von Venedig, in den sich sogenannte ordentliche Bürger Venedigs möglichst niemals verirren sollten, aber sie ging das Wagnis dennoch ein. Zumal sie nicht ganz so schutzlos war, wie man es bei ihrer Blindheit hätte vermuten können.
Genauer betrachtet war sie sogar noch besser dran als jemand, der sehen konnte. Denn sie konnte im Umkreis bis zwanzig Meter durch die Augen anderer sehen, wenn sie sich darauf ausreichend konzentrierte. Sie musste nur ständig mit ihren Gedanken intensiv danach suchen. Falls ihr jemand auflauern sollte, würde sie es wissen und rechtzeitig einen Bogen um die Gefahrenquelle machen können. Ein besonderer Vorteil durch ihre Gabe eben, die Augen anderer benutzen zu können, ohne dass diese das überhaupt bemerken konnten.
Noch immer wusste kein Mensch, dass sie diese Gabe überhaupt besaß. Es hätte ihr sowieso niemand geglaubt. Und selbst wenn, wäre das möglicherweise für sie gefährlich geworden, denn was die Menschen nicht verstanden, erfüllte sie mit Angst und Misstrauen, und das war ein sehr schlechter Ratgeber. Womöglich würde man sie noch für eine gefährliche Hexe halten? Und was dann mit ihr geschehen würde, das mochte sie sich lieber gar nicht erst ausmalen.
Von solchermaßen düsteren Gedanken beseelt, schritt sie durch die Dunkelheit, tastete sich durch enge Gassen, ging Menschen möglichst aus dem Weg, die nächstens unterwegs waren, aus welchen Gründen auch immer, und näherte sich so immer mehr ihrem eigentlichen Ziel.
Nur die Kanalbrücken bargen ein gewisses Risiko für sie, denn während sie sich auf einer dieser Brücken befand, war sie mitunter weiter als zwanzig Meter sichtbar für Menschen mit entsprechend guten Augen. Also noch bevor sie diese noch entdecken konnte. Wenn ihr danach wirklich jemand auflauerte, würde sie über genau jene Brücke zu fliehen versuchen müssen, und dabei bestand eben die Möglichkeit, von jemandem, der es böse mit ihr meinte, eingeholt zu werden.
Ihr Herz klopfte schier bis zu ihrem Hals, wenn sie also eine dieser Brücken überquerte, und auf ihrem Weg gab es davon einige.
Schließlich war sie an ihrem Ziel angelangt, und sie ahnte mehr als dass sie es wusste: Von hier aus wäre es nicht mehr so weit gewesen bis zu jenem Haus, in dem sie aufgewachsen war und das längst einem anderen gehörte, falls man es nicht als sogenanntes Pesthaus sogar hatte niederbrennen müssen. Das wusste sie nicht, weil sie sich bewusst darüber nicht informiert hatte. Es hätte sie zu sehr geschmerzt.
Und hier ganz in der Nähe war sie ja auch zum ersten Mal in ihrem Leben auf Ricardo getroffen. Er noch als der ausgemergelte verlauste Straßenjunge – und sie als die wohlerzogene Tochter aus einigermaßen gutem Hause. Immerhin als Tochter eines Wollhändlers, somit der Kaste der sogenannten Populani.
Vergangenheit, und es war nicht gut für sie, sich daran überhaupt noch erinnern zu wollen. Außer wenn es um jene erste Begegnung mit Ricardo ging. Sie musste nur daran denken und spürte dabei einen leisen Stich in der Herzgegend. Das untrügliche Zeichen dafür, dass Ricardo weit mehr für sie bedeutete, als sie sich einzugestehen wagte.
Wo war Ricardo zu dieser Zeit? Ebenfalls hier irgendwo unterwegs als Ermittler des Dogen? Um mehr zu erfahren über diesen schrecklichen Serienmörder?
Der Gedanke an den Serienmörder ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Sie wusste, dass sie sich jetzt in einem Bereich befand, in dem dieser immer wieder zuschlug. Ihres Wissens nach niemals außerhalb dieses Bereiches. Also ausschließlich dort, wo er seine Opfer unter den Dirnen, Bettlerinnen und Diebinnen fand. In erster Linie wohl unter den Dirnen, weil diese noch leichtere Opfer für ihn waren.
Mit einer Ausnahme bislang für jedes seiner Opfer tödlich, und diese Ausnahme hieß Claudile.
Catrina konzentrierte sich auf die Umgebung, so sehr, dass ihr ganz bestimmt niemand entgehen konnte. Niemand zumindest, der sehen konnte und wachen Auges war. Die Schlafenden erfasste sie auf diese Weise nicht, sondern nur die Sehenden. Aber wer schlief, konnte ja wohl kaum zu einer Gefahr für sie werden.
Es gab tatsächlich genügend Menschen im Umkreis von zwanzig Metern, damit sie sich einigermaßen gut zurecht finden konnte. Die mehr als dürftige Beleuchtung erlaubte ihnen kein großes Sehen, doch für Catrina genügte es zur Orientierung.
Sie korrigierte die Richtung und ging weiter. Wenn sie sich nicht täuschte, begann dort vorn der Bereich, in der verstärkt Straßendirnen ihrem Geschäft nachgingen.
In Catrina krampfte sich alles zusammen, wenn sie nur daran dachte, doch sie ging tapfer weiter, unmittelbar nur von der ewigen Finsternis umgeben, immer wieder umher tastend, um sich an den Häuserwänden zu orientieren. So nah war ihr niemand, dass sie durch dessen Augen sich selbst sehen konnte. Nähe galt es ja tunlichst zu vermeiden, seit sie das Kloster verlassen hatte.