Читать книгу Die blinde Nonne: Die venezianische Seherin 2 - Alfred Bekker - Страница 8
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Es kam der Moment, da ihr nichts anderes übrig blieb als stehenzubleiben, hochkonzentriert, als würde sie in die Finsternis hineinlauschen. Dabei allerdings auf der Suche nach sehenden Augen.
Sie hatte in den vergangenen Jahren nicht nur gelernt, durch die Augen von Menschen zu sehen, die sich sogar hinter dicken Wänden befanden, also eigentlich von ihr getrennt, sondern auch, auf irgendeine geheimnisvolle Weise die Besitzer jener Augen zu erkennen, die sie sich auslieh. Falls sie diejenigen bereits kannte. Und es trug sich zu, dass es hier einige gab, die irgendwann einmal in dem kleinen Hospiz hatten behandelt werden müssen und dadurch im Gedächtnis Catrinas haften geblieben waren. Und von denen sie jetzt erst erfuhr, dass sie ihren Lebensunterhalt als Dirnen bestreiten mussten.
Bisher hatte es sie eigentlich nie sonderlich interessiert, wie die Patienten ihren Lebensunterhalt bestritten. Nicht wenige waren in einem mehr oder weniger erbärmlichen Zustand, ehe sie barmherzige Hilfe bei den Schwester bekamen. Und es war die Regel, dass sie niemals zugeben wollten, woher beispielsweise ihre mehr oder weniger schweren Verletzungen stammten. Wenn beispielsweise ihr eigener Zuhälter sie so zugerichtet hatte, waren Nachfragen sinnlos, und deshalb ließ man es von vornherein schon sein. Denn selbst wenn die Betroffenen ausgesagt hätten: Keine Stadtwache hatte Interesse an einer Verfolgung der betroffenen Zuhälter. Obwohl Prostitution eindeutig ungesetzlich war. Aber die Zuhälter hätten es einfach nur leugnen müssen, und sie unterstützten sich dabei gegenseitig als Zeugen.
Also worauf hätten sich die Dirnen dann berufen können? Etwa auf ein Gesetz, das sie selbst aufs Schärfste verurteilte? Sie, als die eigentlichen Opfer, hätten sich quasi selbst anzeigen müssen – und wären abermals zum Opfer geworden. Diesmal nämlich Opfer der Justiz ...
Ein Elend, mit dem Catrina nun schon seit Jahren immer wieder indirekt konfrontiert wurde, und das sie jetzt zum ersten Mal gewissermaßen an den Wurzeln sah. Dabei spürte sie deutlich die eigene Ohnmacht darüber, dies in keiner Weise ändern zu können. Keine Macht der Welt konnte das in jener Zeit. In einer Zeit, in der die Obrigkeit ganz andere Probleme zu bewältigen hatte. Beispielsweise all die Probleme, die allein schon durch die immer wieder grassierende Pest entstanden.
Catrina selbst war ja ebenfalls Opfer davon geworden, und sie sah jetzt durch die Augen all derer in ihrer Reichweite, was ihr geblüht hätte, wäre sie nicht von den barmherzigen Schwestern so gut aufgenommen worden. Selbst wenn sie rund um die Uhr im Hospital schuftete, blieb dies immer noch ein gnädiges Schicksal im Vergleich zum Schicksal jener in diesem Bereich hier.
Erst nachdem sie sich ausreichend orientiert hatte, wagte sie es, ihre Deckung zu verlassen. Sie ging gewissermaßen mitten hinein in das Nachtleben von Venedig, wie es verruchter gar nicht mehr hätte sein können. Das wagte sie, weil sie eben einige jener, die hier verkehrten, ob freiwillig oder unfreiwillig, persönlich kannte, von ihrer Arbeit im Hospital für die Ärmsten der Armen her.
Obwohl sie noch niemals zuvor persönlich hier gewesen war, gab ihr das jetzt ein Gefühl, als sei sie schon immer Teil davon gewesen, und sie sah durch die Augen von Menschen, die sie ebenfalls wiedererkannten.
Falls sie hier tatsächlich gefährdet sein sollte, würde man ihr beistehen. Nur deshalb durfte sie jetzt so mutig erscheinen.