Читать книгу Jalite: Die Ranenhexe 1 - Alfred Bekker - Страница 7
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„Du wirst unseren Glauben mit deiner ganzen Kraft verteidigen, da bin ich mir sicher, Fürst Jaromar. Es wurde einst prophezeit, dass du, unser geliebter Fürst, das Bollwerk gegen die Christen sein wirst. Die Mauern unserer Burg werden unerschütterlich feststehen, so lange du bei unserem Glauben treu aushältst. So wird auch dieses Mal unser geliebter Gott Svantevit über die Schwächlinge aus dem Westen triumphieren! Wir treten die Feinde in den Staub, und Svantevits Lachen wird den Überlebenden noch lange in den Ohren klingen!“
Orlaw, der Hohepriester des vierköpfigen Gottes Svantevit, hatte seine schmale Gestalt hoch aufgerichtet und seine Arme wie segnend ausgebreitet. Vor ihm stand der Fürst, aber er beugte seine Knie nicht vor dem mächtigen Gott. Nur seinen Blick hatte er auf den Boden gerichtet, als suche er dort die Lösung für die bevorstehende Gefahr. Schweigend hatte er Orlaws Worten gelauscht, aber nur ein einziges Mal scheu den Blick zur vier Meter hohen, hölzernen Statue des Gottes erhoben. Die Figur hielt ein mächtiges Trinkhorn in der rechten Hand, das nach uraltem Brauch jeweils nach der Ernte mit Met gefüllt wurde. Je nach der daraus verschwundenen Menge las Orlaw heraus, wie die kommende Ernte ausfallen würde. Der Fürst blickte auch nachdenklich auf die Gegenstände, die zu besonderen, rituellen Zwecken verwendet wurden. Neben Zaumzeug und Sattel lehnte ein großes, silberbeschlagenes Schwert, das der Fürst gelegentlich bei Ehrungen des Gottes führte. Aber all die vertrauten Dinge, die man hier in der großen Halle bewahrte, spendeten ihm heute keinen Trost.
Jaromar war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann, den die jahrelangen Kämpfe mit den Dänen und Sachsen vorzeitig hatten altern lassen. Aber wer das Muskelspiel seiner Oberarme beobachtete, den elastischen, federnden Gang sah und seinen scharfen Blick auf sich verspürte, der ahnte vielleicht, warum Jaromar noch immer der alleinige und uneingeschränkte Herrscher der Insel war, wenn auch sein Bruder gern bei den Beratungen das große Wort führte. Die Ranen liebten ihren charismatischen Anführer und verließen sich auf seine Entscheidungen.
Orlaw entging das Verhalten des Fürsten nicht, aber er weigerte sich, darin ein Zeichen von Schwäche zu sehen. Fest davon überzeugt, dass sie die Christen zurückschlagen würden, stand der Hohepriester stolz und erhaben vor der Statue seines Gottes, dem er sein Leben geweiht hatte.
Wind und Wetter hatten das Gesicht des Fürsten geformt, die Sonne ihn gebräunt. Erste Silberfäden zogen sich durch die dunklen Haare seines kräftigen Bartes, und auch in den langen, sorgfältig zu einem Zopf gebundenen Haupthaaren waren die Silberfäden nicht mehr zu übersehen.
„Orlaw, du bist über viele Jahre meine Stütze gewesen!“, sagte mit bewegter Stimme Fürst Jaromar. Verwundert blickte der Priester auf und entdeckte etwas im Gesicht seines Fürsten, das ihm nicht gefiel. War es denn möglich, dass der Fürst der Ranen zweifelte? Den Kampf schon verloren gab, bevor auch nur ein einziger Feind in Sichtweite gekommen war?
„Mein Fürst?“, erkundigte er sich mit besorgter Stimme.
„Eine Stütze in meinem Glauben und eine Speerspitze gegen die Christen, die mein Volk nicht in Ruhe lassen können. Was liegt ihnen daran, dass wir nicht ihren Gott anbeten, sondern den vierköpfigen Svantevit, der so viel mächtiger ist als ihr schwacher Gott, verehren?“
Der Fürst sank auf einen der wenigen, niedrigen Sitze im Tempel, stützte seinen Kopf schwer in die Hände und schnaubte nur einmal unwillig. So verharrte er eine längere Zeit, bis er plötzlich aufstand, zu Orlaw schritt und ihm beide Hände auf die Schultern legte.
„Orlaw, mein Freund und Ratgeber! Es kommen schwere Zeiten auf uns zu, sehr schwere, und ich fürchte, dass die Tage von Svantevit auf Rugia gezählt sind.“
„Mein Fürst!“, rief der Hohepriester erschrocken. „Mut! Es zieht nur ein Heer gegen uns, das aus Christen besteht, und keine übermächtigen Dämonen! Svantevit wird uns schützen und nicht zulassen, dass die heidnischen Priester unsere Götter stürzen und dafür ihr Kreuz aufrichten!“
Der Blick des Fürsten glitt von Orlaw hinaus aus der Halle. Die Vorhalle war vom Heiligtum nur durch ein paar kostbare Vorhänge getrennt, die aber der Priester heute aufgezogen hatte. Dann richtete Jaromar seinen Blick erneut auf die Götterstatue. Die vier gewaltigen Köpfe des Gottes blickten starr an ihm vorbei zum Tempeleingang. Fürst Jaromar schien auf ein Zeichen des Gottes zu warten, zögerte noch einen weiteren Moment, dann ging er langsam und kopfschüttelnd aus der großen Halle.
Verwundert blickte er auf, als er dort Jalite sah, die schöne, rothaarige Tochter seines Priesters. Sie hatte sich schon häufig bei Wettbewerben mit den jungen Männern gemessen, galt als ausgezeichnete Bogenschützin und verstand zudem, das Schwert wie einer seiner Kriegsknechte zu führen.
Sie verneigte sich rasch vor Jaromar und eilte dann an ihm vorüber, um ihren Vater zu sprechen.
Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Seit wann ist es den Frauen erlaubt, am hellen Tag in den Tempel zu gehen, ohne dass ein Fest bevorsteht?, fragte sich Jaromar. Er sah sich kurz nach der jungen Frau um, deren helles Gewand noch immer im Dämmerlicht des Tempels zu erkennen war. Doch dann schritt Jaromar weiter. Er hatte einen Entschluss gefasst und musste sich über die Folgen klarwerden, die dieser Entschluss für sein Volk haben könnte. Dazu wollte er sich mit Hildegard besprechen, seiner aus Dänemark stammenden Frau und Vertrauten, auf deren kluges Urteil er sich verlassen konnte. Der Fürst ging mit langsamen Schritten aus dem Tempelbereich hinüber zu seinem Haus, ohne auf die anderen Häuser zu achten, vor denen einige Bewohner saßen und sich mit handwerklichen Dingen beschäftigten. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er noch nicht einmal auf ihre zugerufenen Aufmunterungen achtete. Hier lebten zwischen den anderen auch zahlreiche seiner Priester mit ihren Familien.
Die riesige Anlage war vollständig aus Holz errichtet, der Tempel ebenso wie alle weiteren Bauten. Geschützt wurde die Burg durch einen doppelten, etwa drei Meter hohen Palisadenzaun und bildete seinen Regierungssitz auf der Insel Rugia. Mächtige, hölzerne Türme mit jeweils einer Plattform für die Bogenschützen waren über den Toren errichtet worden. Neben dem Tor zur Landseite gab es ein weiteres zum Wasser und einen direkten Weg hinunter ans Meer. Hier lagen zwei oder drei kleinere Snekken immer bereit.
Fürst Jaromar hatte Hildegard von Dänemark vor gut zehn Jahren geheiratet und damit die Hoffnung verbunden, Frieden für sein Volk zu finden. Sie war die Tochter des dänischen Königs Knut V., aber auch der Däne konnte nicht ungehindert regieren. Es kam zu Streitigkeiten mit seinem Vetter Sven. Während Knut zunächst den Schutz Heinrich des Löwen hatte und Kaiser Barbarossa schlichtete, wurde Knut bei einem Fest von Sven ermordet. Das führte zu Svens Verbannung, und Waldemar wurde der König, mit dem die Ranen es jetzt zu tun hatten.
Jaromar spürte, wie schwer sein Herz war, als über den Burghof betrat und hinüber zu seinem Sitz schritt. Der Blick über die mächtige Anlage an der Küste konnte ihn nicht beruhigen. Er war davon überzeugt, dass die einzige Burg der Insel auf die Dauer nicht einem starken, feindlichen Heer standhalten konnte.
Liebevoll lächelnd empfing Hildegard ihren Mann, dessen sorgenumwölkter Stirn sie sofort anmerkte, dass sein Besuch im Tempel keine Lösung der Probleme gebracht hatte.
Die beiden Eheleute verließen die Tempelburg und wanderten ein Stück entlang der Küste. Hier, wo der Wind ungehindert über das Land strich und der Blick weit hinaus auf das noch immer unruhige Wasser des Baltischen Meeres ging, fühlte sich der Fürst wohl und unbeschwert.
„Ich denke, dass ich den Feinden diesmal nachgeben muss!“, sagte Jaromar plötzlich in die Stille hinein, und Hildegard zuckte bei diesem lauten Ausspruch förmlich zusammen. „Ja, ich weiß, dass du mich so nicht kennst, Hildegard. Aber wenn ich an mein Volk denke und an das riesige Heer, das Waldemar und der Welfe aufgestellt haben, dann fürchte ich, dass die Zeit der alten Götter vorüber ist.“
„Jaromar, warum bist du so mutlos geworden? Aber selbst, wenn du den Göttern nicht mehr vertraust – hast du mit deinem Bruder Tezlaw gesprochen?“
„Nein, er ist noch nicht zurückgekehrt. Ich setze derzeit alle Hoffnungen auf ihn. Sollte er jedoch auch schlechte Nachrichten überbringen, wird es nur eine Frage der Zeit sein, wie lange wir unsere Burg verteidigen können.“