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4.


Osram von Hauenfels, der Ritter in dänischen Diensten, schlich sich ungesehen bis in die vorderen Baumreihen, die an der äußersten Bruchkante zum Meer hoch aufgewachsen waren, sich aber im Verlaufe vieler Jahre zum Land neigten, weil die Stürme über der Ostsee sie geformt hatten. Geschickt hatte Osram die schlechten Lichtverhältnisse für sich genutzt, denn zu dieser späten Nachmittagsstunde waren wieder einmal schwere, dunkle Wolken aufgezogen, die Regen bedeuteten, und hatten den letzten Sonnenschein verdrängt.

Jeder Baumstamm wurde von ihm zur Deckung genutzt, obwohl er eine vorzeitige Entdeckung kaum fürchtete. Die beiden Späher hatten sich auf das Meer konzentriert und waren eben dabei, die Karfe zu beobachten, die dort draußen ankerte. Ihre Ankunft hatten sie längst weiter gemeldet, und Admir, der erfahrenere Krieger, hatte den Läufer sehr früh losgeschickt. Jetzt war Lewian zurückgekehrt und brachte keine neuen Anweisungen.

Obwohl sie sich in ihrem Baumversteck sicher fühlten, sprachen sie nur mit gedämpften Stimmen.

„Und du hast den Fürsten selbst gesprochen, Lewian?“

„Ja, wenn ich es dir doch sage! Jaromar nickte nur, als ich ihm von der Karfe berichtete. Als ich dann wissen wollte, was ich jetzt machen sollte, bevor ich zu dir zurückkehrte, wies er mich nur an den jungen Bohdan, der eben von der anderen Inselseite gekommen war und dort Boote gesehen hatte, die auf die Küste zuhielten.“

„Weißt du, was das für uns bedeutet, Lewian? Der Fürst ist wie gelähmt in der Burg, er wird den Angriff abwarten und sich von unseren Feinden überrennen lassen!“

„Aber warum unternimmt er nichts?“

„Das wissen die Götter!“, antwortete Admir finster und starrte erneut zu dem Schiff hinaus, das offenbar seinen Standpunkt vor Einbruch der Nacht nicht mehr verändern wollte.

Seine letzten Worte hatte er in der Erregung etwas lauter gesprochen, und Osram verstand sie. Er hatte einiges von der Sprache der Wenden erlernt und konnte sich verständigen. Bei diesem Ausspruch wusste er, dass die beiden Kundschafter vollkommen ahnungslos waren.

Der Ritter hatte mehrere Bewaffnete neben sich, gab ihnen aber nun ein Zeichen, auf ihn zu warten, und nahm den Bogen von der Schulter.

„Die Götter haben entschieden!“, sagte er plötzlich laut und trat mit gespanntem Bogen unter den Baum.

Ein erschrockener Laut antwortete, aber keiner der beiden Männer rührte sich.

„Kommt herunter, aber schnell, sonst macht euch mein Pfeil Beine!“

„Das kann mich nicht abhalten, Lewian!“, flüsterte Admir.

„Er scheint allein zu sein, wir schnappen uns diesen übermütigen Kerl!“

Im gleichen Augenblick richteten sich die beiden Ranen auf und sprangen vom Baum auf Osram zu, aber der hatte blitzschnell reagiert. Ein Pfeil sirrte von der Sehne und traf Lewian noch im Sprung in den Oberschenkel, wo der Pfeil steckenblieb.

Admir landete dagegen auf seinen Füßen und hob das kurze Schwert zum Schlag gegen den Feind, aber da wurde ihm der Schwertarm nach hinten gerissen, und fast gleichzeitig traf ihn ein schwerer Schlag auf den Kopf, der ihn bewusstlos in das Gras fallen ließ.

„Fesselt sie, aber achtet darauf, dass mir der Bursche hier nicht verblutet. Erst müssen wir erfahren, wie es mit der Burg bestellt ist!“, befahl Osram.

Nur kurze Zeit später waren sie auf dem Rückweg zu ihrer Lagerstätte, wo man die beiden Gefesselten einfach auf den Boden warf.

*


Ein scharfer Schmerz durchzuckte Admir und brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Er versuchte, seinen Oberkörper aufzurichten und sich umzusehen, aber die ihn umstehenden Krieger ließen keine Orientierung zu. In diesem Augenblick stieß der verwundete Lewian einen fürchterlichen Schrei aus.

„Rede, Kerl, oder ich schneide dich in Stücke!“, sagte jemand in ihrer Sprache, wenn auch mit schwerer Zunge. Admir drehte den Kopf in die Richtung und erkannte den Ritter, der seinen Gefährten angeschossen hatte.

Der zweite Schrei, der sich aus Lewians Kehle rang, endete in einem Gurgeln, und Admir riss und zerrte vergeblich an seinen Fesseln.

„Das war nur ein kleiner Vorgeschmack. Wenn du jetzt noch immer nicht sprichst, werde ich den Pfeilschaft in deiner Wunde nicht mehr einfach nur herumdrehen. Ich werde ihn Stück für Stück durch dein Bein treiben, bis ich ihn auf der anderen Seite wieder fassen kann. Dann gebe ich ihn dir, damit du dein Blut schmecken kannst.“

Der dritte Schrei des Gefolterten brach jäh ab, und der Ritter stieß einen Fluch aus.

„Gut, dann wollen wir einmal sehen, wie sich dein Freund hier verhält!“

Die Männer traten beiseite, und jetzt stand Osram direkt vor Admir, stieß ihn mit dem Fuß an und deutete auf ein Messer in seiner Hand. „Ich möchte von dir erfahren, wie viele Verteidiger in der Burg vorhanden sind, und wie viele eurer Krieger mit Bögen ausgestattet sind.“

Admir blickte den Ritter verächtlich an und schwieg.

„Noch so ein wendischer Sturkopf!“, sagte Osram, bückte sich zu dem Gefangenen und setzte ihm die Messerspitze an den Hals.

„Nun – wie fühlt sich das an, mein Freund?“

Die verschiedensten Gedanken jagten in diesem Augenblick durch Admirs Kopf. Er dachte an seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, warf einen verzweifelten Blick zu Lewian, dessen reglosen Körper er zwischen den Beinen der umstehenden Krieger jetzt erkennen konnte.

Er spürte, wie der Fremde den Druck auf die Klinge verstärkte.

Für einen kurzen Moment hatte Admir eine Vision.

Er hörte einen Kuckuck rufen und wusste sofort, dass da Morena war und nach ihm rief. Die Göttin der Kälte und des Todes. Und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Dann begann er zu sprechen. Erst langsam, dann schneller, und schließlich hatte er alles über die Anlage, ihre Besatzung und die Bogenschützen erzählt, was er wusste.

Admir war sich nicht sicher, ob sie ihn am Leben lassen würden.

Sie hatten ihn einfach liegen gelassen und sich nicht mehr um ihn gekümmert.

Seine Haltung war aufgrund der Fesseln sehr unangenehm geworden, und Admir versuchte immer wieder, sie zu lockern und sich zu befreien.

Niemand schien sich um ihn zu kümmern.

Die fremden Krieger lachten unbekümmert, unterhielten sich laut und zündeten ein Feuer an. Nach und nach wurde es leiser im Lager, als man sich zur Ruhe begab. Admir litt Hunger und Durst, wagte aber nicht, sich mit Rufen bemerkbar zu machen. Vielmehr arbeitete er verbissen an seinen Fesseln und konnte endlich eine Hand befreien. Er hatte das Gefühl, dass er sich dabei die gesamte Haut an seinen Handgelenken herunterriss, aber es war ein Anfang. Dann kamen die Fußfesseln an die Reihe, und Admir schaute immer wieder in halb aufgerichteter Haltung hinüber zu dem langsam in sich zusammensinkenden Feuer.

Es blieb still, aber als er sich endlich erheben konnte und seine schmerzenden Gelenke massierte, zeigte sich am Horizont schon ein grauer Streifen.

Ein grimmiges Lächeln umspielte kurz seine Lippen.

Höchste Zeit, aus dieser Gegend zu verschwinden.

Admir kannte die gesamte Insel, jede Ecke, jedes Waldstück. Einer der Gründe, weshalb er als Kundschafter ausgeschickt wurde. Jetzt, wo seine Blutzirkulation langsam wieder in Gang kam, konnte er auch den schnellen Lauf wagen. Es kribbelte und zwickte zwar zunächst in den Fußgelenken, die abgeschürften Stellen an den Handgelenken schmerzten, aber er war frei!

Und er wollte diese neu gewonnene Freiheit auskosten.

Ein lautes „Stoj!“ bremste ihn schließlich abrupt, und wie aus dem Boden gewachsen standen mehrere dunkle Gestalten vor ihm. Dass sie kurze Speere in den Händen hielten, erkannte er sofort, und an der Art der Bekleidung wusste Admir, dass es die Wachen waren, die man bei diesem Dorf aufgestellt hatte.

„Ich bin es, Admir, der Kundschafter!“, stieß er atemlos heraus.

„Admir? Wieso bist du hier unterwegs? Wo ist Lewian?“

„In Nav, der Unterwelt!“, lautete seine lakonische Antwort.

Er senkte den Kopf ein wenig.

„In Nav? Wie ist das möglich? Lewian ist doch jung und kräftig!“

Admir wartete noch einen Moment mit der Antwort.

„Getötet von den christlichen Kriegern. Sie sind längst gelandet!“

Jetzt war es raus.

„Was sagst du da?“, antwortete der andere. Die Männer hatten ihn umringt, aber die Waffen gesenkt. Es waren fünf Bewaffnete, und zwei von ihnen kannten ihn.

„Ich bin ihnen gerade so eben entkommen, ihr Lager befindet sich in der Bucht mit den großen Eichen. Sie haben Lewian über den brennenden Fluss Smorodina direkt nach Nav geschickt. Aber den Drachen hat er noch vorher sehen müssen. Diese Christen haben ihn grausam gefoltert.“ Er verstummte und erwartete, dass die Männer ihn nun fragen würden, weshalb er noch lebte, aber das geschah nicht.

Sie hingen ihren Gedanken nach, einige malten sich sicher die brutale Szene aus ...

Die Krieger redeten rasch durcheinander, und Admir unterbrach sie: „Lasst uns in euer Dorf gehen, Freunde. Dann muss ein Läufer sofort zu Fürst Jaromar! Noch ist es vielleicht nicht zu spät, aber wenn weitere Schiffe eintreffen, ist unsere Sache verloren!“

Die Krieger berieten sich kurz, dann kehrten zwei von ihnen mit dem Flüchtling in ihr Dorf zurück, wo sofort ein Läufer bestimmt wurde, die Schreckensnachricht in die Tempelburg zu bringen. Admir erhielt Essen und Trinken und machte sich darüber her, denn seit dem vergangenen Morgen, als er zusammen mit Lewian seinen Posten bezog, hatte er nichts mehr zu sich genommen.

Damit hatte sein Magen etwas zu tun bekommen, aber Admir fühlte sich elend und als Verräter.

Jalite: Die Ranenhexe 1

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