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Austernpirat in der San Francisco Bay

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Mit 15 Jahren verließ Jack London die Konservenfabrik und erkannte das Hafenmilieu von Oakland als Ausgangspunkt für neue Einnahmequellen. Seine passionierte Lektüre von Abenteuer- und Seeromanen und seine Aufenthalte im Hafenmilieu beim Zeitungsverkauf weckten den unwiderstehlichen Wunsch, auf See sein Geld zu verdienen. Wie so oft sprang Mammy Jennie ein, die nicht nur seinen Hunger als Säugling gestillt hatte, sondern nun auch den Hunger nach Abenteuern und schnellem Geld stillen half. Mit den von ihr geliehenen 300 Dollar konnte sich Jack ein Boot, die Razzle Dazzle, kaufen und eine Tätigkeit als Austernpirat ausüben. Bei dieser nicht ungefährlichen Arbeit ging es um das illegale Ausrauben von Austernbänken in der Bucht von San Francisco und den Verkauf der Ware in Oakland, für die sich ein lukrativer Schwarzmarkt entwickelt hatte. In seinen Erinnerungen schildert Jack London den harten Wettbewerb unter den Austernpiraten und berichtet stolz, wie er als jüngster Kapitän innerhalb eines Jahres zum „Prinzen der Austernpiraten“ aufstieg und allgemeines Ansehen genoss. Die frühere Erfahrung der in seinen Augen kriminellen Ausbeutung als Lohnsklave in Fabriken scheint die kriminelle Tätigkeit als Austernpirat aus seiner Perspektive gerechtfertigt zu haben. Sein neuer Status als selbstständiger Unternehmer brachte ihm auch die Anerkennung der 16-jährigen Freundin eines anderen Piraten ein, die sich in ihn verliebte und ihn auf seinen Beutezügen mit der Razzle Dazzle begleitete. In der 1902 veröffentlichten Kurzgeschichte A Raid on the Oyster Pirates (1902) (Der Angriff auf die Austernpiraten) verarbeitete Jack London seine kurzzeitige Mitarbeit bei der California Fish Patrol auf der anderen Seite dieses Gewerbes.

In der Kurzgeschichte arbeiten Charley Le Grant und der namenlose Ich-Erzähler als Hilfspolizisten zusammen mit dem fest angestellten Wachmann Neil Partington gegen den illegalen Austernhandel in der San Francisco Bay. Die vorübergehende Abwesenheit Neils wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau gibt Charley und dem Erzähler die Möglichkeit, eigene Initiativen im Kampf gegen die aus vielen verschiedenen Ländern eingewanderten Austernpiraten zu entwickeln. An der Oakland City Werft sehen sie die Austernflotte mit ihrer Ware vor Anker gehen und werden Zeuge eines Gesprächs zwischen Mr. Taft und den Besitzern eines Boots mit dem bezeichnenden Namen „Ghost“. Mr. Taft beschuldigt die Purpoise und Centipede genannten Besitzer, seine Austern gestohlen zu haben und sie nun verkaufen zu wollen. Da er diesen Diebstahl nicht beweisen kann, setzt er eine Belohnung von 1000 Dollar für die Verhaftung der Räuber aus und weckt das Interesse der beiden Hilfspolizisten an dieser zusätzlichen Einnahmequelle. Sie folgen ihm und erfahren im Gespräch das wahre Ausmaß der räuberischen Taten:

Sie haben meine Lager ausgeraubt, meine Schilder umgerissen, meine Wachleute terrorisiert, und letztes Jahr einen von ihnen getötet. Konnte es nicht beweisen. Alles geschah im Dunkel der Nacht. Alles, was ich hatte, war ein toter Wachmann und keinen Beweis. Die Detektive konnten nichts tun. Niemand war in der Lage, irgendwas mit diesen Männern zu tun. Wir haben es nie geschafft, einen von ihnen zu verhaften.

(A Raid on the Oyster Pirates, S. 835)

Zusammen mit Nicholas, einem aus Griechenland stammenden Kenner der Austernindustrie und der Austernpiraterie, entwickeln sie einen Plan, wie sie die Räuber auf frischer Tat beim Diebstahl ertappen können. Mit einem für diese Geheimaktion gemieteten Boot und getarnt als Piraten folgen sie den Räubern mitten in der Nacht zu den Austernbänken und können in einem unbeobachteten Moment die Boote mit den gestohlenen Austern ins Schlepp nehmen und trotz heftigen Beschusses sicher in den Hafen bringen. Zudem gelingt es, alle Austernräuber zu verhaften. Die Geschichte endet mit einem Hinweis auf die Methoden des Vorgehens gegen diese illegalen Aktionen. Während Mr. Tafts jahrelanger Kampf der direkten Konfrontation erfolglos bleibt, vertrauen Charley und der Erzähler auf ihre Imagination und werden vorübergehend zu Komplizen der Tat, wodurch sie nicht nur den Raub direkt miterleben, sondern auch die Täter verhaften können.

Die Nähe zwischen Straftat und Strafverfolgung beruht – wie die Geschichte zeigt – jeweils auf dem seemännischen Können, das Jack London in seiner frühen Jugend in der San Francisco Bay erworben hatte. In dem 1912 publizierten Aufsatz Small-Boat Sailing (1912) (Segeln auf kleinen Booten) unterstreicht er die für das Segeln auf einem kleinen Boot notwendigen anspruchsvollen Kenntnisse gegenüber Schifffahrten auf hoher See. Schon mit 12 Jahren erlernte er das Segeln und hatte eine lebenslange Faszination für die See.

Seit ich zwölf war, hörte ich auf die Lockrufe der See. Als ich fünfzehn war, war ich Kapitän einer Austernpiraten-Schaluppe. Mit sechzehn segelte ich in Prahm-Schonern, fischte mit den Griechen zusammen Lachs den Sacramento River rauf, und half als Matrose auf den Fischpatrouillen aus.

Und wenn ein Mann ein geborener Matrose ist und auf die Schule der See gegangen ist, kann er niemals in seinem ganzen Leben von der See wieder fortkommen. Ihr Salz ist sowohl in seinen Knochen als auch in seiner Nase, und die See wird ihn rufen, bis er stirbt.

(Small-Boat Sailing, S. 1f.)

Jack war sich bewusst, dass das Leben auf See mit Risiken und Gefahren verbunden ist, hielt es aber für eine bessere Ausbildung als konventionelle Aktivitäten für Jugendliche: „… mehr Jungens wurden durch das Segeln zu starken und verlässlichen Männern als durch Krocket und Tanzschulen“ (Small-Boat Sailing, S. 6). Kurz vor seinem Tod erinnerte er sich in seiner Autobiografie König Alkohol (1925) [John Barleycorn (1913)] an diese sein Leben als Abenteuer bestimmende Leidenschaft für die See:

Ich wollte da hin, wo die Winde des Abenteuers wehten. Und die Winde des Abenteuers bliesen die Boote der Austernpiraten auf der Bucht hin und her. In der Nacht wurden die Austernbänke geplündert, auf den Salzwiesen und Sandbänken wurde gekämpft und am Morgen kamen die Straßenhändler und Restaurantbesitzer zum Markt auf dem Kai, um zu kaufen. … Jeder Raubzug auf einer Austernbank war eine Straftat. Darauf standen Zuchthaus, Sträflingskleidung und Fußfesseln. Na und? Die Männer in den gestreiften Sachen hatten einen kürzeren Arbeitstag als ich an meiner Maschine. Und es war viel romantischer, ein Austernpirat oder Sträfling zu sein als der Sklave einer Maschine. Und hinter all dem, hinter all meiner überschäumenden Jugend, lockten Romantik und Abenteuer.

(König Alkohol, S. 47)

Frank Atherton, der Jack nach dem Abschluss der Schulzeit in Oakland besuchte, konstatierte die mit Londons Piratentätigkeit verbundene Veränderung seiner Lebenseinstellung als die auch vom Autor später notierte Absage an die Tretmühle der physischen Lohnarbeit und Hinwendung zum Abenteuer.

Abenteuer – das wilde Abenteuer; merkwürdige, übermäßige Träume von großen Eroberungen und unmöglichen Taten schienen Besitz von seiner Seele ergriffen zu haben und führten ihn zu den waghalsigsten Streichen, die seine junge Vorstellungskraft überhaupt sich auszumalen vermochte. Er sprach und handelte wie ein ganz anderer Bursche; wie einer, der alle großen Ideale seiner Jugendträume aufgegeben und sich dem verzweifelten Leben eines Gesetzlosen hingegeben hatte.

(Atherton, Jack London in Boyhood Adventure, S. 128)

Zu Romantik und Abenteuer gehörten für Jack London auch Alkohol und regelmäßige Saloon-Besuche. Besonders seine Stammkneipe „Heinold’s First and Last Chance Saloon“ wurde zu einer Art Zufluchtsort und Heimat. In der seine Alkoholerfahrungen beschreibenden Autobiografie König Alkohol erinnerte sich Jack London später an die ersten ungewollten Alkoholexzesse in seiner Kindheit. Als 5-Jähriger wurde er von seinem Vater zum Bierholen geschickt. Auf dem Rückweg trank er so viel aus dem Krug, dass er eine Alkoholvergiftung erlitt. Eine zweite Alkoholvergiftung erlebte er mit 7 Jahren, als er von italienischen Einwanderern gegen seinen Willen zum Weintrinken gezwungen wurde. Den Umschlag des mit übermäßigem Alkoholkonsum verbundenen Glückgefühls in Todesangst erlebte er als Austernpirat, als er sturzbetrunken in die San Francisco Bay fiel und stundenlang im Wasser treibend Selbstmordgedanken hegte, bevor er nach mehreren Stunden von einem griechischen Fischer gerettet wurde.

Die grundlegenden Facetten seines Lebens als Abenteurer waren nun angelegt und der Wunsch nach Selbstverwirklichung verlangte nach einer neuen Herausforderung. Jack London wollte die weite Welt erkunden, wofür sich einerseits der amerikanische Kontinent und andererseits das Meer anboten.

Jack London

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