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Hobo und Tramp in Amerika
ОглавлениеNoch bevor Jack London 1893 als Matrose auf dem Walfänger Sophie Sutherland mit Kurs auf Korea, Japan und Sibirien anheuerte, lernte er eine andere Seite der amerikanischen Realität kennen. Es war die Welt der Armen und Arbeitslosen sowie das Schicksal ihrer Kinder und Familien. Zwar hatte er selbst schon die finanziell angespannte Lage armer Familien während seiner Schulzeit erfahren und die kapitalistische Ausbeutung durch Kinderarbeit, nun aber traf er am Ende seiner Zeit als Austernpirat auf eine neue Dimension der Armut, die sich auf der Straße manifestierte. In dem 1907 publizierten autobiografischen Bericht Abenteurer des Schienenstranges (1926) [The Road]) beschreibt er seine Fahrt von Oakland nach Sacramento, der Hauptstadt Kaliforniens, um von dort ein im Gewahrsam der Polizei befindliches gestohlenes Boot eines befreundeten Austernpiraten zurückzuholen. Diese delikate Aufgabe wurde ihm übertragen, weil er sich in eigenen Worten einen „beachtlichen Ruf in dem ausgesuchten Kreis von Abenteurern erworben“ hatte. „Zu dieser Zeit war es, daß eine zufällige Verkettung von Umständen mich mein erstes Abenteuer am Schienenstrang erleben ließ.“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 132) Bei dieser abenteuerlichen Aktion traf er auf eine Gruppe von Jugendlichen aus verarmten Familien, die er als „Road-Kids“ und „Gay-Cats“ bezeichnete. Von diesen Straßenkindern erfuhr er, wie man sich als blinder Passagier auf Eisenbahnzügen durch das Land bewegen und vom Betteln oder Stehlen leben konnte. Plötzlich erschien ihm die Welt der Austernpiraten in der San Francisco Bay klein und unbedeutend verglichen mit der weiten Welt entlang des Schienenstrangs der Central Pacific Railroad mit Verbindungen zu den anderen Bahnstrecken des nordamerikanischen Kontinents.
Ich blieb im Sand sitzen und spitzte nur die Ohren. Wie weit diese Burschen doch herumkamen! Und was sie alles erlebten! Im Vergleich mit ihrem Leben war meines als Austernpirat ja richtig langweilig! Mit jedem Wort, das ich hörte, eröffnete sich mir eine neue Welt … Und alles zusammen bedeutete: Abenteuer. Na gut. Ich würde mir diese neue Welt erschließen.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 137)
Diese neue Welt voller Abenteuer faszinierte und lockte ihn. Allein blieb er bei den „Road-Kids“ zurück und machte seine ersten Erfahrungen auf der Straße.
Der Mythos der „open road“ gehört zu den Vorstellungen der amerikanischen Nation im 19. Jahrhundert, die aufgrund der Expansion in den Westen von Dynamisierung und Mobilisierung geprägt ist. Exemplarisch hat dies der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman in seinem Gedicht Gesang der offenen Straße (2009) [Song of the Open Road (1856)] zum Ausdruck gebracht. Für Whitman, den Begründer der modernen amerikanischen Lyrik, der in seinem langen, das ganze 19. Jahrhundert umspannenden Leben für Demokratie und ein multiethnisches Amerika eingetreten ist, bedeutet die offene Straße den privilegierten Ort demokratischer Praxis, an dem sich alle Bevölkerungsschichten ohne Ansehen der Person treffen und interagieren. Bei Jack London wird Whitmans romantisch geprägte, idealtypische Vision aus der Mitte des Jahrhunderts den ökonomischen Bedingungen eines geografisch, politisch und demografisch veränderten Amerikas am Ende des Jahrhunderts angepasst. Anstelle einer gleichrangigen Partizipation an den Ressourcen des Landes herrscht eine ungleiche Verteilung. Arme und Arbeitslose bevölkern die Straßen. Es entsteht die Gruppe der obdachlosen Wanderer, der Tramps und Hobos.
In ihrer Biografie über Jack London (2015) definiert Cecelia Tichi den Begriff „hobo“ als eine Kurzform von „hoe-boy“, die von dem 1899 veröffentlichten Gedicht The Man with the Hoe abgeleitet ist. Zu diesem Gedicht war der kalifornische Schullehrer Edwin Markham durch das gleichnamige Gemälde des französischen Malers Jean-François Millet angeregt worden, das er in einer Ausstellung in San Francisco gesehen hatte. Das Gedicht ist eine sozialkritische Interpretation des Bildes, das einen französischen Bauern gestützt auf seine Hacke auf einem Feld zeigt. Nach dieser Deutung ist der von der Arbeit gezeichnete Bauer ein Sinnbild für die Misere amerikanischer Landarbeiter in der ökonomischen Krise der 1890er-Jahre in den USA. Die Kinder dieses armseligen Landarbeiters mit der Hacke sind die mittelund arbeitslosen Hobos. Die Schar der Hobos wird ergänzt durch das Heer der Tramps, die als Obdachlose und Landstreicher durchs Land ziehen.
Für Jack London wurde der Aufenthalt bei den „Road-Kids“ in Sacramento zu einer Lehrstunde über die Lebensweise gestrandeter Jugendlicher. Unter Anleitung seiner neuen Freunde lernte er Betteln und Stehlen. Für beide Varianten des Broterwerbs, um die Grundbedürfnisse des Lebens wie Hunger und Kleidung zu stillen, gab er entsprechende Episoden wieder. Die schroffe Zurückweisung seiner Bitte um Nahrung bei einer wohlhabenden Familie zwang ihn zu der Erkenntnis, dass Stehlen einfacher, erfolgversprechender und mannhafter sei.
Ich hatte noch nie in meinem Leben gebettelt, und Betteln war für mich in meiner ersten Zeit als Tramp das Schwierigste. Ich hatte meine eigenen Vorstellungen vom Betteln gehabt. Nach meiner Philosophie bis dahin war Stehlen würdevoller als Betteln, und Rauben war noch erhebender als Stehlen, weil das Risiko und die Strafe, falls man gefaßt wurde, höher waren. Als Austernpirat hatte ich mir schon soviel zuschulden kommen lassen, daß die Freiheitsstrafen, mit denen ich bei einer Verhaftung hätte rechnen müssen, insgesamt bestimmt tausend Jahre überschritten hätten. Na ja, jedenfalls hielt ich bis zu jenem Tag Rauben für männlich und Betteln für niedrig und verachtenswert.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 138)
Ausführlich schildert er, wie er nach Anweisung seines neuen Freundes Bob einem Chinesen in Sacramento den Hut vom Kopf stiehlt, weil er seine eigene Kopfbedeckung verloren hat. Seinen Verfolgern, dem bestohlenen Chinesen und der herbeigerufenen Polizei, kann er durch seine Schnelligkeit bald entkommen und bleibt Besitzer des Diebesguts. Gleichzeitig wird ihm aber auch die Illegalität seines Handelns bewusst. Während er in der konkreten Situation sein Handeln existentiell rechtfertigt, zitiert er später bei der Abfassung seines autobiografischen Berichts eine literarische Quelle, die ihn in seiner Auffassung der Strafwürdigkeit seines Tuns bestätigt. Der Verweis auf das christliche Epos Das verlorene Paradies [Paradise Lost] des puritanischen Dichters John Milton aus dem 17. Jahrhundert, mit dem London auch seine Belesenheit und literarische Affiliation dokumentiert, liefert die poetische Rechtfertigung für seine Assoziierung mit dem Bösen: „Damals kannte ich Miltons ‚Das verlorene Paradies‘ noch nicht, und als ich später sein „Lieber Herrscher in der Hölle, denn Sklave im Himmel“ las, war ich fest überzeugt, daß große Geister in den gleichen Bahnen denken.“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 132)
Die nächste Stufe der Einübung in das Leben als Hobo und Tramp war die erste Fahrt als „blinder Passagier“ auf einem Zug der Central Pacific Railroad von Sacramento aus. Das Überqueren der Sierra Nevada wurde zum Qualifikationsnachweis für diese neue Form der Mobilität und die neue Existenz losgelöst von der Familie. Diese Lebensform brachte auch eine neue Identität mit sich. Aus dem „Sailor-Kid“ wurde nun das „Frisco-Kid“, dem London verschiedene Kurzgeschichten im Slang der „Road-Kids“ gewidmet hat. Bei der ersten Probefahrt lernte er, wie man auf langsam anfahrende Frachtzüge aufsprang und auf den Dächern der Waggons ein Versteck suchte, in dem man vor der Entdeckung durch das Zugpersonal sowie durch strategisch an der Strecke postierte Polizisten geschützt war. Auch die Gefahren für Leib und Leben auf diesen Reisen wurden ihm schon gleich zu Beginn drastisch vor Augen geführt. Einer seiner Gefährten, French Kid, rutschte aus, stolperte und geriet unter die Räder des Zugs, wobei er beide Beine verlor. London bezeichnete diese Jungfernfahrt über die Sierra und zurück nach Sacramento als seine „Initiationsreise“ und fühlte sich hierdurch gut ausgebildet für die Fahrten über das ganze Land.
Ausgangspunkt und Motivation für diese Lehrjahre auf der Wanderschaft als Hobo und Tramp war die Mobilisierung der an Hunger leidenden Arbeitslosen des Landes, die 1894 einem Aufruf zum Sternmarsch nach Washington, D.C., folgten. Jack London fiel es jedoch schwer, bei seiner ursprünglichen Absicht, an dieser Protestaktion teilzunehmen, zu bleiben. Da er den offiziellen Aufbruch verpasste, musste er auf eigene Faust hinterherreisen. Er startete seine Fahrt am 6. April 1894, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, das später die Notizen für Abenteurer des Schienenstranges lieferte. Obwohl er zu der Protestgruppe später in Reno, Nevada, aufschloss, trennte er sich in Iowa und begann im Vertrauen auf seine erworbene Expertise als „Road-Kid“ seine eigenen Abenteuerfahrten durch das Land. „Romantik und Abenteuer“ notierte er in seinem Tagebuch als verlockende Antriebskräfte, die allerdings später aufgrund der Realität korrigiert werden mussten. Gegenläufig zur historischen Bewegung von Ost nach West war Jack nun von West nach Ost unterwegs. Von Iowa aus reiste er nach Chicago, wo er seine Tante Mary besuchte. Danach gelangte er nach Niagara Falls und Buffalo am Eriesee im Norden des Staates New York, wo er als Vagabund aufgegriffen wurde und ohne gerichtliches Verfahren 30 Tage im Gefängnis von Erie County verbringen musste. Weitere Stationen seiner Reise nach der Entlassung aus dem Gefängnis waren die Städte der Ostküste, die Hauptstadt Washington, D.C., New York und Boston. In New York registrierte er den schroffen Gegensatz zwischen der Welt der Reichen und dem Los der Armen. Die unübersehbaren Zeichen der Armut in den Slums der Großstadt mit ihren vielen Einwanderern, die der aus Dänemark eingewanderte Journalist Jacob Riis schon 1890 in dem Foto-Dokumentationsband How the Other Half Lives: Studies among the Tenements of New York (Wie die andere Hälfte lebt: Studien in den Mietshäusern New Yorks) festgehalten hatte, beeindruckten ihn mehr als die imposante Architektur der Wolkenkratzer. Nach einem kurzen Aufenthalt in Boston trat er dann die Rückreise durch Kanada über Montreal und Ottawa nach Vancouver an und kehrte im Dezember 1894 nach Oakland zurück.
Diese 9 Monate dauernde Tour als Hobo und Tramp quer durchs Land auf der Suche nach „Romantik und Abenteuer“ machte ihn reich an Erfahrungen, die seine politischen und ökonomischen Überzeugungen bestimmten und ihm Material und Stoff für seine literarischen Ambitionen lieferten. Er wurde empfänglich für sozialistische Ideen und sah in Bildung einen Ausweg nicht nur aus seiner eigenen Misere, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Abgrund der Armut. Die Hobo-Erlebnisse bildeten die Basis für sein später veröffentlichtes Bekenntnis Wie ich Sozialist wurde (1983) [How I Became a Socialist (1903)] und die Ausrichtung seiner eigenen Studienziele.
Das Leben auf der Straße und illegale Fahrten auf Zügen waren um die Jahrhundertwende – wie man zeitgenössischen Erlebnisberichten etwa von Josiah Flynt, Tramping with Tramps (1899) (Trampen mit den Tramps) – entnehmen kann, kein Einzelschicksal, sondern weit verbreitet in den USA. Für Jack London war dieses Trampleben eine Art Training im physischen Kampf ums Überleben im Wettbewerb mit anderen Tramps um das tägliche Essen und um den Platz auf den Zügen. In Abenteurer des Schienenstranges schildert Jack London die Konkurrenz der Tramps als harten Ausleseprozess:
Als wir an der nächsten Haltestelle vorausliefen, zählte ich nur noch fünfzehn von uns. Fünf waren demnach abgeworfen worden oder hatten aufgegeben. Die Auslichtung hatte recht ordentlich begonnen und ging von Haltestelle zu Haltestelle weiter. Jetzt waren wir vierzehn, jetzt zwölf, jetzt elf, jetzt neun, jetzt acht. Es erinnerte mich an die zehn kleinen Negerlein aus meinem Kinderbuch. Ich war fest entschlossen, das letzte kleine Negerlein zu sein. Warum auch nicht? War ich nicht mit Kraft, Gewandtheit und Jugend gesegnet? (Ich war achtzehn und tipptopp in Form.) Mangelte es mir vielleicht an Mut? Und war ich nicht außerdem ein Spitzentramp? Verglichen mit mir waren die anderen Dummköpfe, blutige Anfänger, Amateure. Wenn ich nicht zum letzten kleinen Negerlein wurde, konnte ich das Trampen gleich aufgeben und mir einen Job auf einer Baumwollfarm suchen.
Als wir auf vier geschrumpft waren, galt uns bereits das Interesse des gesamten Zugpersonals. Von da an wurde es ein Wettkampf der Geschicklichkeit und des Köpfchens, bei dem die Eisenbahner natürlich im Vorteil waren. Einer nach dem anderen meiner drei Mitübriggebliebenen blieb schließlich auf der Strecke, bis tatsächlich nur noch ich da war. O war ich stolz darauf! Kein Krösus hätte stolzer auf seine erste Million sein können. Ich hielt mich, trotz der zwei Bremser, eines Schaffners, eines Heizers und des Lokomotivführers.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 30f.)
In der Wortwahl dieser Beschreibung wird das Erleben des „Frisco-Kid“ und dessen Interpretation durch den im Publikationsjahr schon erfolgreichen Autor Jack London deutlich. Er begreift sich in diesem Wettbewerb als Führungsfigur unter den Tramps und beansprucht aufgrund seiner geistigen und physischen Stärke den ersten Platz. Seinen Sieg als Überlebender im Ausleseprozess bezeichnet er als „Auslichtung“, ein Begriff, der an Charles Darwins Evolutionsbiologie erinnert. 1859 schon hatte der britische Biologe in seinem Standardwerk Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn auf eine naturgegebene Auswahl und den Erhalt der so favorisierten Rassen im Überlebenskampf hingewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang Londons Analogie seiner Situation mit der Situation der im Kinderreim so bezeichneten „zehn kleinen Negerlein“. Im historischen Kontext Amerikas setzt er seine Stellung in der Gesellschaft mit derjenigen der emanzipierten, aber immer noch diskriminierten Afroamerikaner auf der untersten Stufe der Skala gleich. Sein Sieg als einzig Überlebender bedeutet darüber hinaus einen kommerziellen Erfolg und einen Millionengewinn. Der nächste Schritt der Übertragung des evolutionsbiologischen Konzepts auf die Gesellschaft im Sozialdarwinismus, der von England aus zur politisch sanktionierten Ideologie in den USA wurde, ist nicht mehr weit. In der Retrospektive wird der Kampf des jungen London über die technische Maschinerie der Eisenbahn und ihrer Ingenieure auf den Kampf gegen die mächtige Eisenbahngesellschaft übertragen.
Ich laufe an der Lokomotive vorbei ins schützende Dunkel. Es ist wieder wie vielmals zuvor. Ich warte auf den Zug, der an mir vorbei muß. … Ich sprinte. Schon gut die Hälfte des Zuges ist an mir vorbei, und er fährt ganz schön schnell, als ich aufspringe. Ich weiß, daß die beiden Bremser und der Schaffner in zwei Minuten wie geifernde Wölfe hier sein werden. Ich springe auf das Rad der Handbremse, klammere mich an die gewölbten Dachenden und stemme mich auf „Deck“, während meine bitter enttäuschten Verfolger sich auf der Plattform versammeln wie Hunde, die eine Katze den Baum hochgehetzt haben. Sie fluchen wild und lassen sich nicht gerade schmeichelnd über meine Vorfahren aus.
Aber damit können sie mir nichts anhaben und ihnen hilft es auch nichts, außer eben, daß sie Dampf ablassen. Mit dem Lokomotivführer und dem Heizer – von der ganzen Maschinerie des Gesetzes und einer mächtigen Gesellschaft hinter ihnen ganz zu schweigen – sind sie fünf gegen einen, und ich führe sie an der Nase herum.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 38f.)
Londons Sieg in diesem Überlebenskampf wird herangezogen als Rechtfertigung für sein letztlich illegales Verhalten. Für ihn ist die Position des Hobo und Tramp als Außenseiter der Gesellschaft vergleichbar mit dem rücksichtslosen Wettbewerb der großen kapitalistischen Korporationen, die ein Monopol anstreben und dabei die Konkurrenten ausschalten. Bewusst wählt er für die brutale Auseinandersetzung den Vergleich mit der Tierwelt, in der die wilden Wölfe und Hunde eine unterlegene Katze bedrohen. Außenseiter müssen deshalb die gleichen Methoden anwenden wie die übermächtigen Industriegesellschaften. Während seiner Gefangenschaft im Erie-County-Gefängnis praktizierte Jack London diese Methoden in einer Art Mini-Betrieb zum ersten Mal erfolgreich. Kurz nach seiner Verhaftung erhielt er in Abstimmung mit Mitgefangenen einen besonderen Status als „Hall-man“. Als „Hall-man“ gehörte er zu einer Gruppe privilegierter Gefangener, die bei der Essensausgabe und der Organisation des Gefängnisalltags mithalfen. Es dauerte nicht lange, bis diese Gruppe korrupte Praktiken bei der Verteilung der Brotrationen einführte, Brot gegen andere Wertgegenstände tauschte oder einfach zurückhielt. Skrupellos sahen sie zu, wie die Mitgefangenen hungerten.
Und nicht nur einmal, während all diese Männer hungrig auf ihren Pritschen lagen, sah ich hundert Brotrationen und mehr in den Zellen der Hallenmänner versteckt. Es mag vielleicht absurd erscheinen, dieses Brot zu horten – aber es war unser Geschäftskapital. Wir waren Wirtschaftsbosse in unserer Halle, und unsere Methoden im kleinen unterschieden sich nicht allzu sehr von denen im großen der hohen Herren an der Spitze. Wir kontrollierten die Versorgung der Bevölkerung, und genau wie die Gauner größeren Formats außerhalb unserer Mauern nahmen wir die Leute aus.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 90)
Das unmenschliche Verhalten wird mit dem Vergleich der Verhaltensweisen der Wirtschaftsbosse in der freien Wirtschaft gerechtfertigt. Entgegen seinen eigenen politischen Ansichten wenden er und die privilegierten Gefangenen die gleichen Prinzipien an, Initiative und Unternehmergeist. Korruption und Missbrauch erscheinen als öffentlich sanktionierte Praktiken eines gegebenen Wirtschaftssystems, das menschliches Leiden ignoriert bzw. davon profitiert. Schließlich benennt der Autor konkret die dieses System tragenden Gruppen und Organisationen: „Zudem folgten wir ja nur dem Beispiel der größeren draußen, die unter ihrer Tünche der Respektabilität als Kaufleute, Bankiers und Wirtschaftskapitäne genau das gleiche wie wir taten. … Oh ja, wir waren Wölfe – genau wie die Geldmänner der Wallstreet.“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 90, S. 92)
Es ist nicht überraschend, dass diese Analogie der Profitmaximierung zwischen den Insassen des Gefängnisses und den Industriekapitänen sowie Bankern auch andere Bereiche ergreift, ohne Rücksicht auf menschliches Leiden und Verluste. Das System der Brotrationierung wird auf die Verteilung von Tabak, Streichhölzern, Kleidern etc. übertragen, bis es schließlich auch geistige Werte berührt. Dabei handelt es sich um das Schreiben von Liebesbriefen und deren Transport zwischen dem Männerund Frauentrakt im Gefängnis. Der sich dabei ergebende Kontrollverlust ist Teil des Systems. Ebenso wie die Schienen der Eisenbahn ein mechanisches Netzwerk von Verbindungen etablieren, so kreieren Geschäftsbeziehungen und Kommunikationssysteme ihre eigene Gesetzmäßigkeit unabhängig von menschlicher Intervention oder Aufsicht.
Briefe besorgten wir sehr häufig, und der Weg, den sie nahmen, war gewöhnlich so verzwickt, daß wir weder den Absender noch den Empfänger kannten. … Das ganze Zuchthaus war mit einem Netzwerk von Mittelsmännern durchzogen. Und wir, die wir dieses Verbindungssystem kontrollierten, erhoben selbstverständlich hohe Gebühren von unseren Kunden – genau, wie es im freien Leben üblich ist. Es war eine Dienstleistung gegen beträchtliche Entschädigung – hin und wieder geschahen diese Leistungen aber auch aus reiner Freundschaft.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 99)
Jack Londons kritische Einstellung zu den letztlich nicht mehr kontrollierbaren Ablaufmechanismen eines ständig expandierenden Systems macht die schwindende Bedeutung des Individuums in diesem Wirtschaftsprozess deutlich. Sie verweist auf die Subsumption des einzelnen Menschen unter eine anonyme Gruppe von Bossen. In der amerikanischen Gesellschaft entspricht dies der zeitgleich sich vollziehenden Etablierung von anonymen Trusts, die an die Stelle einzelner Geschäftsleute treten. Für Londons eigene Entwicklung zeigt sich in diesem Zusammenhang die Gefahr der Selbstdestruktion, die mit dem Drang nach expansiver Selbstverwirklichung einherzugehen scheint. In dem in der Schreibphase von Abenteurer des Schienenstranges zeitgleich konzipierten, 1909 publizierten autobiografischen Roman Martin Eden (1927) [Martin Eden] beendet der lange von der Kritik ignorierte, nun aber erfolgreiche Schriftstellerprotagonist sein Leben in der See. Das Trampleben in den 1890er-Jahren bot jedoch noch andere Alternativen.
Das Überleben im Konkurrenzverhältnis des existentiellen Wettbewerbs erfüllte Jack London mit einem gewissen Stolz und er empfand es als Erfolgserlebnis. Es erlaubte ihm eine Art Selbstglorifizierung durch eine in der Gesellschaft geächtete Lebensweise, für die er allgemein geschätzte Modelle benutzte. Als anerkannter Vertreter der Hobos besaß er einen Ehrennamen, den sog. „monica“, eine bei den Hobos übliche Aussprache für das französische Original „nom-de-rails“, das weithin sichtbar als Kennzeichen in die Wassertanks auf den Bahnhöfen eingraviert war. Im Sinne der damit vorgenommenen Adelung dieser Lebensform fand London später seine Lebensphilosophie und bezeichnete sich und seine Hobo-Freunde als „die Aristokratie des Schienenstranges“, „die Herren und Meister, der Uradel, Nietzsches Übermensch.“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 150) An diesen auch philosophisch geadelten Formulierungen zeichnet sich der allmähliche Übergang in Jack Londons Leben von der Welt der Abenteuer in die Welt der selbst geschaffenen Abenteuerliteratur ab.
Gemeinsamer Ansporn für das Bestehen der Abenteuer auf der Straße und die Beschreibung der Abenteuer in der Literatur war der Kampf ums Überleben. So wie das Straßenleben durch Betteln bzw. vorzugsweise Stehlen den Hunger stillte, so auch der Verdienst durch Publikationen von Abenteuern. Schon am Anfang von Abenteurer des Schienenstranges verweist der Autor auf die Verbindung dieser beiden Bereiche. Denn der Erfolg beim Betteln für Essen hängt von einer gut erzählten Story ab.
Ja, der erfolgreiche Tramp muß ein Künstler sein. Er muß sofort spontan erfinden, aber er kann nicht von etwas aus seiner blühenden Phantasie ausgehen, sondern muß sich nach dem richten, was er in dem Gesicht der Person liest, die ihm die Tür öffnet, ob er nun Mann, Frau oder Kind ist, ob freundlich oder mürrisch, freigebig oder geizig, gutmütig oder boshaft, Jude oder Christ, schwarz oder weiß, rassistisch oder tolerant, kleinbürgerlich oder kosmopolitisch, oder was sonst auch immer. Ich habe mir oft gedacht, daß ich dieser Schulung während meiner Trampzeit viel meines Erfolges als Schriftsteller verdanke.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 11f.)
Frühzeitig erkannte der spätere Erfolgsautor, dass nicht die erfundenen, sondern die selbst erlebten Geschichten das Leserinteresse wecken. Jedes Erlebnis und jede Erfahrung enthält für alle Menschen – gleich welchen Stand und Rang sie in der Welt einnehmen – bereits eine Geschichte, die nur noch erzählt und erlesen werden muss. Nach seiner ersten Seefahrt als 17-Jähriger nahm er – ermuntert von seiner Mutter – an einem Schreibwettbewerb der Zeitung San Francisco Call teil und gewann den ersten Preis. Seine Schilderung der selbst erlebten Seeabenteuer wurde im November 1893 unter dem Titel Ein Taifun vor der japanischen Küste (1929 [Story of the Typhoon off the Coast of Japan (1893)] veröffentlicht. Vor dem Hintergrund dieses auch kommerziellen Erfolgs verwundert es nicht, dass er seine Abenteuer als Folien für seine Geschichten und Geldeinnahmen begriff. Unterwegs auf den Straßen und Zügen Amerikas übersetzte er seine individuellen Erlebnisse jeweils in eine „Seite aus dem Buch des Lebens“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 60).
Sie stand auf einer Seite, die inzwischen umgeblättert war, und ich war bereits allzusehr mit der neuen Seite beschäftigt. Wenn die Lokomotive sich pfeifend den Hang heraufplagte, würde auch diese Seite beschrieben sein und eine neue konnte begonnen werden. Und so füllte sich Seite um Seite im Buch des Lebens, das zusehends dicker wird – wenn man jung ist.
(Abenteurer des Schienenstranges, S. 64)
Die Korrelation von Erleben und Erzählen war passgenau: „Aber der Zug pfiff. Die Seite konnte umgeblättert werden“ (Abenteurer des Schienenstranges, S. 84). Dennoch bestand im Dezember 1894, als Jack London nach Oakland zurückkehrte, ein Ungleichgewicht zwischen der Intensität und Qualität der erlebten Abenteuer und der Fähigkeit des professionellen Erzählens von Abenteuern. Die geschickte Vermittlung zwischen beiden Bereichen und die durch Wissen angereicherte Reflexion mussten erst noch erlernt werden. Nach der Faszination der Abenteuer auf den Straßen Amerikas ergriff London nun der Wissensdurst. Mit gleicher Leidenschaft wie zuvor den Abenteuern widmete er sich nun seiner Ausbildung und ging zurück zur Schule, um die verpassten Lektionen nachzuholen.