Читать книгу Sie wollte leben, einfach nur leben... - Alfred Kachelmann - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDie Monate vergingen. Sie hatte zwischenzeitlich Arbeit gefunden. In der kleinen Bäckerei am Ende ihrer Gasse stand sie jeden Tag am Verkaufsthresen und tütete kleine Brötchen ein, oder reichte den Kunden, für die sie immer ein freundliches Wort fand, frisches Brot.
Es war nicht einfach für sie gewesen diese Stelle zu finden. Es waren schlechte Zeiten Anfang der 60er, Arbeit fand nur wer gute Beziehungen hatte. Viel verdiente sie nicht, aber sie war zufrieden, schließlich konnte sie mit ihrem Geld etwas zum kärglichem Gehalt ihres Vaters, das er in einer ansässigen Fabrik als Galvaniseur arbeitete, dazu geben. Für sie selbst blieb nur selten etwas übrig. Aber es reichte ihr, große Wünsche hatte sie keine, Ausgehen und wie andere junge Leute Spaß haben lag ihr nicht. Lieber ging sie nach ihrer Arbeit in ihr Zimmer und verkroch sich stundenlang in ihren Büchern. Sie genoss diese Momente, in denen sie sich in ihre Träume flüchten konnte. Träume von fremden Welten und fremden Völkern nach denen sie sich so sehnte.
Es war kurz vor Heilig Abend. Vor einigen Stunden hatte es endlich angefangen zu Schneien. Mutter, die sich etwas besser fühlte, versuchte die Wohnung weihnachtlich zu schmücken. Sie durfte ihr dabei nicht helfen. Aber sie blieb trotzdem ständig an ihrer Seite um zu beobachten wie sie die Figuren aus der alten Holzkiste, die sie ihr am frühen Nachmittag vom Dachboden holen musste, auspackte, oder Tannenzweige, die Vater frisch im Wald geschnitten hatte, überall im Haus verteilte. Es war schwer für ihre Mutter, schließlich konnte sie nach ihrem Schlaganfall die linke Hand nicht mehr richtig gebrauchen. Auch zog sie beim Laufen noch immer ihr Bein hinter sich her. Ihr unsicherer Gang und ihre Unbeholfenheit jagten ihr immer wieder neue Schrecken ein. Sie hatte Angst, dass ihre Mutter stürzen oder sich gar verletzen könnte. Sie wusste jedoch, dass sie ihr diese Freude nicht nehmen durfte. Für ihre Mutter war es ein Schritt zur Normalität. Sie wollte nicht zum Krüppel abgestempelt sein. Wollte ihr und Vater zeigen, dass sie durchaus in der Lage war sich um sich selbst zu kümmern.
Als es an der Tür klopfte, dachte sie zunächst die Nachbarin, die sich für den Abend zu Besuch angemeldet hatte, würde etwas zu früh kommen. Sie lief die Treppe hinab und öffnete die alte Haustüre während sie bereits das Plappern anfing um ihren Gast willkommen zu heißen.
Vater war gegen die Heirat gewesen. Seither war er nicht mehr der Selbe. Er zog sich von ihr zurück, kaum dass er sie bei ihren seltenen Besuchen begrüßte. Sie wusste dass sie ihm damit das Herz gebrochen hatte. Es tat ihr weh wenn sie seine traurigen Augen sah.
Mutter hatte nie gesagt wie sie zu dieser Hochzeit stand. Aber wenn sie sich von ihr verabschiedete konnte sie ihre feste Umklammerung kaum lösen. Sie sagte ihr jedes Mal dass sie sich viel zu selten sehen würden, dass sich das ändern müsse wenn sie wieder ganz gesund sei. Vater drehte sich dabei immer um und verließ wortlos den Raum um die kleine steile Treppe hoch zu gehen damit er sich in sein Zimmer zurückziehen konnte. Bei diesem Anblick spürte sie wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Warum konnte er sie nicht verstehen. Sie hätte es sich so sehr gewünscht dass er ihre Entscheidung endlich akzeptieren würde.
Während der alte Mann langsam die Treppe, die unter jedem Schritt ächzte, hinaufstieg, rief sie ihm nach dass sie ihn liebte und dass sie bald wieder kommen würde. So lief es jedes Mal aufs Neue ab, immer und immer wieder.
Plötzlich stand er vor ihr. Bei seinem Anblick verschlug es ihr regelrecht die Sprache. Sie wollte, aber sie konnte kein Wort über ihre Lippen bringen. Mit großen Augen sah sie ihn an. Es waren nur Sekunden, aber ihr kam er wie eine kleine Ewigkeit vor, dieser Moment des Erschreckens, der Überraschung und der übergroßen Freude. Wortlos fielen sich beide in die Arme. Endlich war er da schoss es ihr durch den Kopf, endlich.