Читать книгу Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx - Alfred Schmidt - Страница 10

III

Оглавление

Betrachten wir jetzt einige Hinweise von Marx und Engels, die in vorliegender Dissertation nicht so akzentuiert werden, wie es – aus heutiger Sicht – ihrer sachlichen Bedeutung entspricht. Sie zeugen nicht nur von Ansätzen ökologisch geschärften Bewußtseins, sondern belegen, daß das Marx-Engelssche Werk, aufs Ganze gesehen, keineswegs im Dienst rücksichtsloser Naturbeherrschung steht. Im Gegenteil. Früh schon kritisiert Marx den negativen Einfluß der kapitalistischen Ökonomie auf das neuzeitlich verbreitete Naturbild. »Das Geld«, heißt es in seiner Schrift Zur Judenfrage, »ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. ... Die Anschauung, welche unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur«24.

Spätere Äußerungen der Autoren betreffen ruinöse Folgen kapitalistischer Agrar­ und Industrieproduktion sowie natürliche Schranken der Ausbeutbarkeit der Natur, mit denen selbst eine sozialistische Gesellschaft zu rechnen hätte. – »Die Produktivität der Arbeit«, schreibt Marx im III. Band des Kapitals, »ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergiebig werden im selben Verhältnis wie die Produktivität – soweit sie von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt – steigt. Daher entgegengesetzte Bewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt dort. Man bedenke z. B. den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, wovon die Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Waldungen, Kohlen und Eisenbergwerken etc.«25 – Im Kapitel »Maschinerie und große Industrie« des I. Bandes seines Hauptwerks hebt Marx die subjektiv wie objektiv verderblichen Folgen industrialisierter Landwirtschaft hervor. Er zeigt, daß die kapitalistische Produktion mit »dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde (stört), d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs­ und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.«26 Marx spricht hier höchst aktuelle Einsichten aus. Klar steht ihm das Problem des »recycling« vor Augen, damit die historische Notwendigkeit, den natürlichen, durch menschlichen Eingriff gestörten Kreislauf bewußt wiederherzustellen, der bisher eher zufällig und unter Belastung der Menschen stattgefunden hat.27 – Am Ende dieses Kapitels faßt Marx seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: »Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den ­Arbeiter.«28 Dieser »Zerstörungsprozeß«, fügt Marx hinzu, vollzieht sich um so schneller, je mehr ein Land wie die Vereinigten Staaten von Großindustrie als dem »Hintergrund seiner Entwicklung«29 ausgeht. – Ähnlich äußert sich Marx hierzu in den Theorien über den Mehrwert: »Es liegt in der Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher entwickelt als die Agrikultur. Es geht dies nicht aus der Natur des Bodens hervor, sondern daraus, daß er andre gesellschaftliche Verhältnisse braucht, um wirklich seiner Natur gemäß exploitiert zu werden. Die kapitalistische Produktion wirft sich erst auf das Land, nachdem ihr Einfluß es erschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat.«30

Als Kritiker der politischen Ökonomie verfolgt Marx die wissenschaftliche Literatur auch auf angrenzenden Gebieten. Hinsichtlich negativer Aspekte des gesellschaftlich determinierten Naturverhältnisses verdankt er Carl Nikolaus Fraas, einem vielseitigen Gelehrten, wertvolle Anregungen, insbesondere seiner Studie Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider (Landshut 1847), die zu lesen er Engels in einem Brief vom Frühjahr 1868 empfiehlt. Fraas, heißt es hier, weist nach, »daß in historischer Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin Darwinist und läßt die Arten selbst in der historischen Zeit entstehn. Aber zugleich Agronom. Er behauptet, daß mit der Kultur – entsprechend ihrem Grad – die von den Bauern sosehr geliebte ›Feuchtigkeit‹ verlorengeht (daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließlich verödend durch Entholzung etc. ... Das Fazit ist, daß die Kultur – wenn naturwüchsig fortschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) – Wüsten hinter sich zurückläßt, Persien, Mesopotamien etc., Griechenland. Also auch wieder sozialistische Tendenz unbewußt!«31

Im Zusammenhang hiermit steht die »Zerstörung der Waldungen«32, auf die Marx, angeregt wohl durch Fraas, im II. Band des Kapitals zu sprechen kommt: »Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Umfang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperioden, macht die Waldzucht zu einem ungünstigen Privat- und daher kapitalistischen Betriebszweig, welcher letztre wesentlich Privatbetrieb ist, auch wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziierte Kapitalist auftritt. Die Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie umgekehrt zu deren Erhaltung und Produktion getan hat, eine vollständig verschwindende Größe ist.«33

Auch Engels’ ökologische Einsichten setzen die Lektüre des Buches von Fraas voraus. Sie betreffen zunächst die mit der fortschreitenden Industrialisierung ländlicher Gebiete entstehenden Probleme. Hierzu heißt es im Anti­Dühring: »Erstes Erfordernis der Dampfmaschine und Haupterfordernis fast aller Betriebszweige der großen Industrie ist verhältnismäßig reines Wasser. Die Fabrikstadt aber verwandelt alles Wasser in stinkende Jauche. Sosehr also die städtische Konzentrierung Grundbedingung der kapitalistischen Produktion ist, sosehr strebt jeder einzelne industrielle Kapitalist stets von den durch sie notwendig erzeugten großen Städten weg und dem ländlichen Betrieb zu. Dieser Prozeß kann in den Bezirken von Lancashire und Yorkshire im einzelnen studiert werden; die kapitalistische Großindustrie erzeugt dort stets neue Großstädte dadurch, daß sie fortwährend aufs Land flieht.«34 Wie schon Marx im I. Band des Kapitals erblickt Engels hierin einen »fehlerhaften Kreislauf«, der nach seiner Überzeugung nur durch »Aufhebung« des »kapitalistischen Charakters«35 der Industrie beseitigt werden könnte. Nur eine planwirtschaftlich organisierte Gesellschaft sei imstande, die industriellen Standorte geographisch so zu verteilen, daß »Elemente der Produktion«36 wie Erde, Wasser und Luft erhalten bleiben. Ihre derzeitige Vergiftung könne allein durch die »Verschmelzung von Stadt und Land«37 beseitigt werden.

In der Dialektik der Natur deckt Engels den inneren Zusammenhang auf zwischen der bürgerlichen Produktionsweise (und ihrem sozialwissenschaftlichen Ausdruck, der klassischen Ökonomie) einerseits und jener imperialen Praxis (und Ideologie) andererseits, für die Natur sich stets schon darin erschöpft, Substrat ausbeuterischen Zugriffs zu sein. »Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft«, unterstreicht Engels, »kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, daß die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind«38. Wo es lediglich um »Erzielung des nächsten, unmittelbarsten Nutzeffekts der Arbeit«39 geht, können – langfristig – Rückschläge nicht ausbleiben. Die Triumphe der Naturbeherrschung erwiesen sich als Pyrrhussiege. Darauf verweist Engels nachdrücklich: »Schmeicheln wir uns ... nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für des größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten.«40

Engels hegt keine Illusionen hinsichtlich der Zeit und Mühe, die es kosten wird, die zivilisatorische Erblast der bisherigen Geschichte abzutragen.41 Aber er nimmt an, daß es wissenschaftlicher Einsicht künftig gelingen werde, die »näheren und ferneren Nachwirkungen unsrer Eingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur«42 nicht nur rechtzeitig zu erkennen, sondern auch zu beherrschen. Freilich, so meint er, können wir uns nur »durch lange, oft harte Erfahrung ... über die mittelbaren, entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit ... verschaffen«43. Erkenntnis allein, dessen ist Engels sicher, wird nicht genügen, ungewollte Nebeneffekte der Naturbeherrschung ihrerseits »zu beherrschen und zu regeln«44. Dazu bedarf es einer »vollständige[n] Umwälzung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetzigen gesamten gesellschaftlichen Ordnung«45.

Wie aus den angeführten Stellungnahmen erhellt, sind Marx und Engels eines Sinnes, was die Schwere der ökologischen Problematik und die praktischen Schritte ihrer Bewältigung anbelangt. Als Materialisten gehen sie davon aus, daß das gesellschaftliche Sein, worin die Menschen leben, eingebettet ist ins universelle Sein der Natur, deren Bestand zu erhalten ihnen bei Strafe eigenen Untergangs auf erlegt ist. »Vom Standpunkt einer hohem ökonomischen Gesellschaftsformation«, erklärt daher Marx, »wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«46

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

Подняться наверх