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Erinnern wir zunächst an die markanten Belege für den Marx-Engelsschen Optimismus hinsichtlich der mit dem Aufstieg des Bürgertums einhergehenden Entfesselung der Produktivkräfte. »Die Bourgeoisie«, heißt es im Kommunistischen Manifest, »hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, das solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummern.«6 Marx und Engels feiern die mit dem Entstehen eines kapitalistischen Weltmarkts verbundene kosmopolitische Tendenz: »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen Produktion, so auch in der geistigen ... Die nationale Einseitigkeit wird mehr und mehr unmöglich und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«7

Dieser so triumphalen geschichtlichen Dynamik entspricht, wie Marx im »Rohentwurf« seines Hauptwerks ausführt, »die universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs ... durch die Glieder der Gesellschaft. Hence the great civilising influence of capital; seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen. Die Natur wird ... rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint ... nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen ... zu unterwerfen.«8 Außer dem »System der allgemeinen Nützlichkeit«, als dessen »Träger« auch die Wissenschaft fungiert, gilt nichts als »An-sich-Höheres, Für-sich-selbst-Berechtigtes«9.

Marx’ Darlegungen nehmen sich einigermaßen befremdlich aus: bald nüchtern-realistisch, bald apologetisch. Er ist wie Hegel davon durchdrungen, daß Geschichte nicht geradlinig, sondern dialektisch verläuft. Dem Widerspruch, daß sich das Wohl des (gattungsmäßigen) Ganzen auf Kosten der Individuen durchsetzt, kann die Menschheit nicht entrinnen. Solange die »assoziierten Produzenten«10 ihre Geschichte nicht bewußt gestalten, ist ein dem einzelnen unmittelbar zugute kommender Fortschritt unmöglich. Wenn Marx die durch die bürgerliche Emanzipation entfesselte Dynamik (nahezu) vorbehaltlos begrüßt, so deshalb, weil sie – davon ist er überzeugt – nicht nur die materielle Unterlage des Übergangs zum Sozialismus liefert, sondern auch gewährleistet, daß dieser die Arbeitsproduktivität der kapitalistischen Welt erheblich überbieten wird.11 Vorerst freilich müssen die Menschen durch härteste Entbehrungen hindurchgehen. Wohl befindet sich die moderne Gesellschaft, verglichen mit Antike und Mittelalter, »in der absoluten Bewegung des Werdens«12. Aber die damit verbundene »Herausarbeitung« der »schöpferischen Anlagen« des Menschen geschieht unter negativem Vorzeichen: die »universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller ... einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck«13. Deshalb erscheint, nostalgisch verklärt, die »kindische alte Welt als das Höhere«; sie steht für »geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung«14, das heißt für eine Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen, die mit dem aufkommenden Weltmarkt verschwindet. Dieser tritt den Individuen immer gebieterischer als ein sachlicher Zusammenhang entgegen, der sich unabhängig von ihrem Wissen und Wollen durchsetzt.15 Gleichwohl, betont Marx, ist die moderne Gesellschaft jenen Gemeinwesen vorzuziehen, die sich auf »bluturenge Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse«16 gründeten. Sosehr die Menschen jetzt genötigt sind, sich einem weltweiten, objektiven Zusammenhang einzugliedern, so unbestreitbar bleibt letzterer ihr eigenes Produkt: »Er gehört einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und Selbständigkeit, worin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind, statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu haben.«17

Marx nimmt an, daß erst die sozialistische Gesellschaft imstande sein wird, jene »Fremdartigkeit« und »Selbständigkeit« der Verhältnisse gegenüber ihren Herstellern aufzuheben. Die bisherige Geschichte, zumal die des Kapitalismus, kennt bloß den naturwüchsigen Zusammenhang »von Individuen innerhalb ... bornierter Produktionsverhältnisse«18. Künftig dagegen werden allseitig entwickelte Individuen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer »eignen gemeinschaftlichen Kontrolle«19 unterwerfen. »Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird«, setzen jedoch Produktion »auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren ... auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.«20

Es gehört zur geschichtsphilosophischen Grundüberzeugung von Marx, daß die Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise hindurchgehen muß. Sie erst schafft die »materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, ... deren Arbeit ... nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist«21. Vorläufig kann jedoch davon keine Rede sein. Die ihr Leben als arm und entleert erfahrenden Menschen trauern »frühren Stufen der Entwicklung« nach, auf denen das Individuum deshalb »voller« erscheint, weil es die »Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte ... sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener ... Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie hinausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten.«22

Selten hat Marx seine Konzeption derart deutlich sowohl gegen die romantische Verklärung vorkapitalistischer Stufen abgesetzt als auch gegen die positivistische Tendenz, das Bestehende zu rechtfertigen. Bildet die »romantische Ansicht« einen immerhin »berechtigten Gegensatz« gegen die verdinglichten Verhältnisse eines entfalteten Kapitalismus, so sperren positivistische Argumente sich gegen die Unabgeschlossenheit der historischen Dialektik, die sich darin ausdrückt, daß die Aufgabe des Kapitals, die gesellschaftlichen Produktivkräfte enorm zu entwickeln, erfüllt ist, sobald die weitere Entwicklung »an dem Kapital selbst eine Schranke findet«23.

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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