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Karl Marx und der philosophische
Materialismus A) Der nicht-ontologische Charakter des Marxschen Materialismus

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Die Frage nach dem Marxschen Naturbegriff erweitert sich notwendig zu der nach dem Verhältnis der materialistischen Geschichtsauffassung zum philosophischen Materialismus überhaupt. Mit ihr hat sich die Marxinterpretation nur selten und in wenig befriedigender Weise beschäftigt1. Bei Engels konnte das Problem, ob er auch in einem allgemein-philosophischen Sinn Materialist gewesen sei, gar nicht erst aufkommen. Dazu weisen ihn die Feuerbachschrift, wie der »Anti-Dühring« und die »Dialektik der Natur« zu eindeutig aus. Bei Marx liegen die Dinge etwas anders. Der in seiner Geschichts- und Gesellschaftstheorie enthaltene und von ihr stillschweigend vorausgesetzte philosophisch-materialistische Kern tritt nicht so offen zutage und ist nur schwer herauszupräparieren. Indem der weitaus größte Teil der seitherigen Literatur über Marx mit Grund hervorkehrt, was dessen Materialismus als eine primär an Geschichte und Gesellschaft orientierte Theorie qualitativ von allen philosophiehistorisch aufgetretenen Formen des Materialismus unterscheidet, versäumt er zugleich, diejenigen Momente in Marx gebührend zu berücksichtigen, die ihn selbst mit den antiken Materialisten verbinden. Dabei ist die Frage nach dem Zusammenhang von materialistischer Geschichtsauffassung und philosophischem Materialismus keineswegs zweitrangig oder von bloß terminologischem Interesse. Marx selbst ist sich übrigens dessen bewußt, daß die Bezeichnung seiner Lehre als »materialistisch« mehr bedeutet als eine philosophisch unverbindliche Ausdrucksweise pour épater le bourgeois, daß diese Lehre vielmehr in einem genauen Sinn in die Geschichte der materialistischen Philosophie gehört. So wird in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« von 1857 als zu bearbeitender Programmpunkt nicht nur die Notwendigkeit angegeben, die These der Abhängigkeit der Staats- und Bewußtseinsformen von den jeweiligen Produktions- und Verkehrsverhältnissen gegenüber »Vorwürfe(n) über Materialismus dieser Auffassung«2 zu verteidigen, sondern es wird auch ausdrücklich das »Verhältnis zum naturalistischen Materialismus«3 genannt, ohne daß Marx je dazu gekommen wäre, dieses Verhältnis explizit zu erörtern.

Zur wirklichen Klärung der Frage, inwiefern eine Theorie, nach der das in letzter Instanz den geschichtlichen Gang der Gesellschaft bestimmende Moment die Art und Weise der Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens der Menschen ist, einen philosophischen Materialismus voraussetzt, ist es erforderlich, sich einige bisher weniger beachtete Aspekte der theoretischen Entwicklung von Marx vor Augen zu führen. Wichtig ist zunächst einmal seine Beurteilung der französischen Aufklärer und der von ihnen bestimmten Strömungen innerhalb des utopischen Sozialismus, wie sie uns in der »Heiligen Familie« begegnet. Hier wird der Materialismus unumwunden als »die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus«4 bezeichnet. Besonderen Wert legt Marx auf Helvétius, bei dem sich Tendenzen finden, die sensualistische Erkenntnislehre Lockes in eine materialistische Theorie der Gesellschaft zu überführen: »Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt ... Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden ... Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.«5

Neben solchen Gedanken der Aufklärung, in denen die sozialistische Theorie unmittelbar vorweggenommen wird, spielen für die Entwicklung des jungen Marx die Motive der zeitgenössischen Kritik an Hegels System, auch die Schellings, eine nicht unbedeutende Rolle. So bezeichnet die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, mit einem an Schellings Böhmerezeption erinnernden Ausdruck, Familie und bürgerliche Gesellschaft als »dunkle(n) Naturgrund, woraus das Staatslicht sich entzündet«6. Später überwiegt bekanntlich die Terminologie Feuerbachs. Die ersten, von ihr beeinflußten und noch uneinheitlichen Formulierungen des historischen Materialismus in der »Heiligen Familie« sprechen von der Gesellschaft bisweilen ähnlich abstrakt und undifferenziert als von der »Naturbasis«7 des Staates. Die von der Gesellschaft abgeleiteten Gebilde verhalten sich hier noch zu ihr wie der Geist zur Natur bei Feuerbach. Daß für Marx ein naturalistischer Materialismus die geheime Voraussetzung bildet für die richtige Theorie der Gesellschaft, geht mit besonderer Klarheit ebenfalls aus einer Stelle der »Heiligen Familie« hervor, die sich gegen die Linkshegelianer richtet: »Oder glaubt die kritische Kritik, in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theoretische und praktische Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben, ohne z. B. die Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische kritische Kritik kennt nur – kennt wenigstens in ihrer Einbildung – die politischen, literarischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob–materiellen Produktion auf der Erde, sondern in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.«8

Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß Marx den Linkshegelianern nicht einfach eine falsche Interpretation der Geschichte vorwirft, bei der die materielle Produktion und die Wirksamkeit der Naturwissenschaften unbeachtet bleiben, sondern zu zeigen versucht, daß sie als philosophische Idealisten notwendig zu dieser Geschichtsauffassung kommen müssen. Wer das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe trennt, ist auch außerstande, die Beziehung der Kulturgehalte zur Sphäre der materiellen Produktion zu begreifen.

Feuerbachs anthropologischer Materialismus, der es nicht mit der mechanischen Bewegung der Atome, sondern mit der qualitativen Mannigfaltigkeit der Natur und dem Menschen als einem sinnlich-gegenständlichen Wesen zu tun hat, verhilft der Marxschen Geschichtstheorie zu ihrem Begriff der »Basis«. Feuerbach ist es, der durch seine materialistische Umstülpung der Hegelschen Spekulation über die bloß inneridealistische Kritik am Idealismus, wie sie für die Linkshegelianer bezeichnend ist, hinausgeht. Damit verläßt er, mit den Worten von Marx, die »trunkene Spekulation« und geht zur »nüchternen Philosophie«9 über. Die Pariser Manuskripte heben Feuerbachs Bedeutung nachdrücklich hervor: »Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sicherer, tiefer, umfangreicher und nachhaltiger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften seit Hegels Phänomenologie und Logik, worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist.«10

Mit seiner abstrakten Antithese zum Idealismus legt Feuerbach für Marx den Grund zu einem neuen, nicht-idealistischen Denkansatz11, sosehr zeitweilig auch bei Marx später von ihm wieder aufgenommene wichtige dialektische Motive mit über Bord gehen. An manchen Stellen der »Heiligen Familie« etwa sieht es so aus, als identifiziere Marx mit Feuerbach die Dialektik schlechthin mit Idealismus. In der »Deutschen Ideologie«, den »Thesen« und im gesamten späteren Werk kehrt Marx jedoch – vermittelt durch Feuerbachs Hegelkritik – zu Hegelschen Positionen zurück.

Die herkömmlichen Deutungen des Verhältnisses Feuerbach-Marx beschränken sich zumeist darauf, herauszuarbeiten, inwieweit Feuerbachs atheistische Kritik an Religion und spiritualistischer Metaphysik die Marxsche Hegelkritik angeregt oder erst ermöglicht habe. Die naturalistisch-anthropologische Basis der kritischen Motive Feuerbachs tritt dabei weniger hervor, obwohl sie für die Entstehungsgeschichte der materialistischen Dialektik von weitaus größerer Bedeutung ist, als gewöhnlich angenommen wird. Erich Thier12 ist einer der wenigen, die darauf hinweisen, daß Feuerbachs Einfluß auf Marx nicht so sehr auf seinem Atheismus beruhte, der dem Kenner der französischen Aufklärung und der linkshegelianischen Bibelkritik schon vorher geläufig war, als vielmehr auf seinem Natur- und Menschpathos. Wichtiger noch als die von Engels in seiner Monographie hervorgehobene Schrift »Das Wesen des Christentums« aus dem Jahre 1841 sind für das Verständnis des Marx­schen Naturbegriffs die beiden Arbeiten »Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie« und »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« aus den Jahren 1842/43. Feuerbachs Kritik an Hegel setzt an bei der Crux jedes idealistischen Systems, dem Begriff der Natur. Für Hegel ist die Natur gegenüber der Idee ein Abgeleitetes: »Die Natur ist in der Zeit das Erste, aber das absolute prius ist die Idee; dieses absolute prius ist das Letzte, der wahre Anfang, das A ist das Ω.«13

Hegels Naturphilosophie versteht sich als die Wissenschaft von der Idee in ihrem Anderssein. In der Natur tritt uns die Idee in einer noch nicht zum Begriff geläuterten, unmittelbaren Gestalt entgegen. Sie ist der Begriff, gesetzt in seiner Begrifflosigkeit. Die Natur ist für Hegel kein in sich bestimmtes Sein, sondern das Moment der Entäußerung, das die Idee als abstrakt-allgemeine durchläuft, um im Geiste restlos in sich zurückzukehren. Einer der merkwürdigsten und problematischsten Übergänge der Hegelschen Philosophie überhaupt ist der gleichermaßen von Feuerbach und Marx kritisierte von der »Logik«, deren Resultat die reine Idee ist, zur »Naturphilosophie«, das heißt vom Gedanken zum sinnlich­materiellen Sein: »Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie ... sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.«14

Nicht genug damit, daß bei Hegel dunkel bleibt, inwiefern die Idee in ihrem Übergang in die Natur sich gleichsam entdialektisiert, inwiefern sie, das sie als absolute immer schon bei sich selbst ist, dazu kommt, sich zu einer Welt gegenständlich­materiellen Daseins zu entäußern, zu zerstreuen – die einmal von der Idee hervorgebrachte Natur hebt stufenweise alle naturhaften Bestimmtheiten auf, geht in den Geist als ihre höhere Wahrheit über. Nicht umsonst erinnert die Weise, in der Hegel diesen Übergang von der Natur zum Geist darstellt, an das gerade von Marx kritisierte stofflose Ende der in der »Phänomenologie« ausgetragenen Dialektik des Wissens und seines Gegenstandes auf der Stufe des absoluten Wissens: »Wir haben in der Einleitung zur Philosophie des Geistes bemerklich gemacht, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit und Vereinzelung, ihre Materialität als ein Unwahres, dem in ihr wohnenden Begriffe nicht Gemäßes aufhebt, und dadurch zur Immaterialität gelangend in den Geist übergeht.«15

Insofern die Natur fortschreitend ihre Äußerlichkeit ablegt und die Seele hervorbringt, glaubt Hegel, von ihr auf den immateriellen Charakter der Natur überhaupt schließen zu können: »Indem so alles Materielle durch den in der Natur wirkenden an­sich­seyenden Geist aufgehoben wird, und diese Aufhebung in der Substanz der Seele sich vollendet, tritt die Seele als die Idealität alles Materiellen, als alle Immaterialität hervor, so daß Alles, was Materie heißt, – so sehr es der Vorstellung Selbstständigkeit vorspiegelt, – als ein gegen den Geist Unselbstständiges erkannt wird.«16

Diesem naturphilosophischen Idealismus Hegels hält Feuerbach, wie gesagt, abstrakt-antithetisch seinen Naturalismus entgegen. Ist für ihn Hegels Philosophie eine Philosophie auf dem Standpunkt der Philosophie, so versteht sich Feuerbach selbst als einen Philosophen auf dem Standpunkt der Nichtphilosophie. Anstatt mit Philosophie zu beginnen, um wieder mit Philosophie zu endigen, will er mit Nichtphilosophie beginnen, um durch Philosophie hindurch zur Nichtphilosophie zurückzugelangen. In den »Vorläufigen Thesen« umreißt Feuerbach sein Programm einer »Negation aller Schulphilosophie«17 folgendermaßen: »Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen ... Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus.«18

Die neue Philosophie beansprucht gegenüber den übrigen Wissenschaften keine Sonderrolle mehr, sondern hat gleich diesen die Natur zur Voraussetzung, ein Gedanke, der sich bei Marx, entsprechend abgewandelt, bis ins »Kapital« verfolgen läßt: »Alle Wissenschaften müssen sich auf die Natur gründen. Eine Lehre ist solange nur eine Hypothese, solange nicht ihre natürliche Basis gefunden ist.«19

Die Natur, ohne welche die Vernunft stofflos wäre, gründet in sich. »Sein ist aus sich und durch sich.«20 Natur ist causa sui. Feuerbach kritisiert vor allem die Hegelsche Ansicht, daß die Natur eine Entäußerung der absoluten Idee sei: »Die Hegelsche Lehre, daß die Natur, die Realität von der Idee gesetzt – ist nur der rationelle Ausdruck von der theologischen Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d. i. abstrakten Wesen geschaffen ist. Am Ende der Logik bringt es die absolute Idee sogar zu einem nebulösen ›Entschluß‹, um eigenhändig ihre Abkunft aus dem theologischen Himmel zu dokumentieren.«21

Aus einem absoluten Subjekt wird für Feuerbach das Denken, der Geist, zu einer Qualität des Menschen neben anderen Naturqualitäten. Alles Bewußtsein ist das Bewußtsein leibhaftiger Menschen. Die Wissenschaft vom Menschen als eines bedürftigen, sinnlichen, physiologischen Wesens ist daher die Voraussetzung aller Theorie der Subjektivität: »Nur der Mensch ist der Grund und Boden des Fichteschen Ichs, der Grund und Boden der Leibnizschen Monade, der Grund und Boden des Absoluten.«22

Beim Ausgang der klassischen deutschen Philosophie erweist sich das überempirische Ich, das »Bewußtsein überhaupt« endgültig als eine Abstraktion von den endlichen Subjekten. Schon in Kants Philosophie ist die Frage nach dem Verhältnis von transzendentalem und empirisch­psychologischem Ich sehr schwierig. Obwohl Kant seinem Programm nach auf der strengen Unterscheidung der beiden Iche bestehen muß, gelingt es ihm bei der konkreten Durchführung der Vernunftkritik nicht zu verhindern, daß ihre Differenz verschwimmt und sie ineinander übergehen. Dadurch bekommt schon sein transzendentales Subjekt eine gewisse anthropologische Tönung. Bei Feuerbach, als dem Endstadium der ganzen Gedankenbewegung, wird der Mensch, gerade als empirisches und natürliches Wesen, zum eigentlichen Thema: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft.«23

Ganz wie Feuerbach in seiner Religionskritik die religiösen Inhalte als eine Entfremdung sinnlich-menschlicher zu begreifen sucht, versteht er auch den absoluten Geist als eine Entfremdung des endlichen Menschengeistes. Dadurch wird Hegels Präexistenz der logischen Kategorien vor der Erschaffung der Welt und eines endlichen Geistes aufgehoben und die logischen Formen werden zu Funktionen vergänglicher Menschen erklärt: »Die Metaphysik oder Logik ist nur dann eine reelle, immanente Wissenschaft, wenn sie nicht vom sogenannten subjektiven Geiste abgetrennt wird. Die Metaphysik ist die esoterische Psychologie.«24

Der Gedanke, daß nicht vom absoluten Geiste, sondern von leibhaftigen Menschen auszugehen sei, ist auch für die Marxsche Theorie der Subjektivität von großer Wichtigkeit. Auch für Marx gilt der Satz: »Die Realität, das Subjekt der Vernunft ist nur der Mensch. Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft.«25

Die unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität, von­Hegel zwar anerkannt, aber zugleich wieder entwertet dadurch, daß sie, als bloße Denkbestimmung, zur Subjektseite hinzugeschlagen wird, ergibt sich zwingend aus der Reduktion des absoluten Geistes auf den menschlichen. Es ist nicht möglich, durch lückenlose Deduktion das »Wirkliche« in den Griff zu bekommen. Feuerbach drückt diesen Gedanken auf eine sehr scharfsinnige Weise aus: »Das Wirkliche ist im Denken nicht in ganzen Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar. Diese Differenz ist eine normale – sie beruht auf der Natur des Denkens, dessen Wesen die Allgemeinheit ist, im Unterschied von der Wirklichkeit, deren Wesen die Individualität ist. Daß aber diese Differenz nicht zu einem förmlichen Widerspruch zwischen dem Gedachten und dem Wirklichen kommt, dies wird nur dadurch verhindert, daß das Denken nicht in gerader Linie, in der Identität mit sich fortläuft, sondern sich durch die sinnliche Anschauung unterbricht. Nur das durch die sinnliche Anschauung sich bestimmende und rektifizierende Denken ist reales, objektives Denken – Denken objektiver Wahrheit.«26

Indem Marx, über Feuerbach hinausgehend, nicht nur die sinnliche Anschauung, sondern die gesamte menschliche Praxis als konstitutives Moment in den Erkenntnisprozeß einführt, wird er zugleich der Feuerbachschen Forderung gerecht, daß sich die neue Philosophie »toto ge­nere von der alten«27 zu unterscheiden habe. Erst indem sich Feuerbachs Autoritäten Mensch und Natur als dialektische Momente der Praxis erweisen, gelangen sie zu ihrer Konkretion. Wie Feuerbach spricht auch Marx von der »Priorität der äußeren Natur«28. Freilich mit dem kritischen Vorbehalt, daß alle Priorität nur eine innerhalb der Vermittlung sein kann.

Wenn Marx die Natur – das Material menschlicher Tätigkeit – als dasjenige bestimmt, was nicht subjekteigen ist, was in den Weisen menschlicher Aneignung nicht aufgeht, was mit den Menschen schlechthin unidentisch ist, so versteht er diese außermenschliche Wirklichkeit doch nicht im Sinne eines unvermittelten Objektivismus, also ontologisch. Bei Feuerbach steht das mit bloßen Naturqualitäten ausgestattete Gattungswesen Mensch als leerbleibende Subjektivität29 der Natur als toter Objektivität passiv-anschauend, nicht praktisch-tätig gegenüber. Was Feuerbach als Einheit von Mensch und Natur bezeichnet, bezieht sich nur auf das von ihm romantisch verklärte Faktum der Naturentsprungenheit des Menschen, nicht aber auf seine geschichtlich-gesellschaftlich vermittelte Einheit mit der Natur in der Industrie, eine Einheit, die auf allen Stufen ebenso Verschiedenheit, Aneignung eines Fremden, Auseinandersetzung ist. Feuerbachs Mensch tritt nicht als eigenständige Produktivkraft auf, sondern bleibt an vormenschliche Natur gefesselt. Zwar setzt körperliches Tun diese Naturbasis als einen bewußtseinstranszendenten Gegenblock voraus. Alle Arbeit ist Arbeit an einem festen Sein, das sich jedoch gegenüber den Subjekten ebensosehr als ein Nichtiges, Durchdringbares erweist. Feuerbachs anthropologische Hervorhebung des Menschen gegenüber der sonstigen Natur bleibt abstrakt. Natur insgesamt ist für ihn ein geschichtsfremdes, homogenes Substrat, dessen Auflösung in eine Dialektik von Subjekt und Objekt den Kern der Marxschen Kritik bildet. Natur ist für Marx Moment menschlicher Praxis wie zugleich die Totalität dessen, was ist. Indem Feuerbach unreflektiert bloß auf der Totalität beharrt, verfällt er naiv-realistisch in den Mythos einer »reinen Natur«30 und identifiziert in ideologischer Weise31 das unmittelbare Sein der Menschen mit ihrem Wesen. Es kommt Marx nicht in den Sinn, Hegels Weltgeist durch ein ebenso metaphysisches Prinzip, wie eine materielle Weltsubstanz es wäre, einfach zu ersetzen. Er verwirft den Hegelschen Idealismus nicht abstrakt wie Feuerbach, sondern sieht in ihm die Wahrheit in einer noch unwahren Gestalt ausgedrückt. Daß die Welt eine durchs Subjekt vermittelte ist, sieht der Idealismus richtig. Marx meint jedoch, diesen Gedanken erst dadurch in seiner vollen Tragweite nach Hause bringen zu können, daß er nachweist, was es mit dem eigentümlichen Pathos des »Erzeugens« von Kant bis Hegel auf sich hat: der Erzeuger einer gegenständlichen Welt ist der gesellschaftlich-historische Lebensprozeß der Menschen. Daß mit der beginnenden Neuzeit das außermenschliche Natursein immer mehr zum Moment gesellschaftlicher Veranstaltungen herabgesetzt wird, reflektiert sich philosophisch darin, daß die Bestimmungen der Objektivität in immer höherem Maße ins Subjekt einwandern, bis sie schließlich in der vollendeten nachkantischen Spekulation ohne Rest in ihm aufgehen. Der Produktionsprozeß bleibt demzufolge auch bei Hegel, trotz großartiger empirischer Einsichten im einzelnen, im ganzen doch ein geistiger. In Hegels Logik, sagt Feuerbach, ist das Denken »in ununterbrochener Einheit mit sich selbst; die Gegenstände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe«32. Der Widerspruch von Subjekt und Objekt wird bei Hegel innerhalb des Subjekts als des Absoluten aufgehoben. Sosehr auf den einzelnen Stufen des dialektischen Prozesses Nichtidentität das weitertreibende Moment ist, so sehr triumphiert doch am Ende des Systems idealistische Identität. Umgekehrt setzt sich in der Marxschen Dialektik in letzter Instanz das Nichtidentische durch, und zwar gerade, weil Marx im Gegensatz zu Feuerbach die Bedeutung der Hegelschen Dialektik voll anerkennt: »Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form ...«33

Unter der »mystischen Form« der Hegelschen Dialektik versteht Marx die idealistische Fassung des Gedankens der Vermitteltheit alles Unmittelbaren. An Feuerbachs Naturmonismus hält er insofern fest, als auch für ihn Subjekt und Objekt »Natur« sind. Zugleich überwindet er dessen abstrakt-ontologischen Charakter dadurch, daß er Natur und alles Naturbewußtsein auf den Lebensprozeß der Gesellschaft bezieht. Da die vermittelnden Subjekte, endliche, raumzeitlich bestimmte Menschen, selber ein Stück der durch sie vermittelten dinglichen Wirklichkeit sind, führt der Gedanke der Vermitteltheit des Unmittelbaren in seiner Marxschen Version nicht zum Idealismus. Bei Marx erweist sich die Unmittelbarkeit der Natur, sofern er sie Feuerbach gegenüber als gesellschaftlich geprägt herausstellt, nicht als verschwindender Schein, sondern ihre genetische Priorität gegenüber den Menschen und ihrem Bewußtsein bleibt bestehen.

Die außermenschliche Wirklichkeit, von den Menschen zugleich unabhängig wie mit ihnen vermittelt oder doch vermittelbar, beschreibt Marx mit den von ihm synonym gebrauchten Termini »Materie«, »Natur«, »Naturstoff«, »Naturding«, »Erde«, »gegeständliche Daseinsmomente der Arbeit«, »gegenständliche« oder »sachliche Arbeitsbedingungen«. Insofern auch die Menschen einen Bestandteil dieser Wirklichkeit bilden, ist der Marxsche Naturbegriff identisch mit der Gesamtwirklichkeit34. Der Begriff der Natur als der Gesamtwirklichkeit läuft jedoch auf keine abschlußhafte »Weltanschauung« oder dogmatische Metaphysik hinaus, sondern umschreibt lediglich den Denkhorizont, in dem der neue Materialismus sich bewegt, der nach einem Wort von Engels in der Erklärung der Welt aus sich selbst besteht35. Dieser Begriff von Natur ist »dogmatisch« genug, um alles, was bei Marx Mystizismus oder Ideologie heißt, aus der theoretischen Konstruktion auszuschließen; er ist zugleich undogmatisch und weitherzig genug gefaßt, um zu vermeiden, daß Natur nun ihrerseits eine metaphysische Weihe erhält oder gar zu einem letzten ontologischen Prinzip erstarrt.

Natur in diesem umfassenden Sinne ist der einzige Gegenstand der Erkenntnis. Sie schließt die Formen der menschlichen Gesellschaft so in sich ein, wie sie umgekehrt nur vermöge dieser Formen gedanklich und wirklich erscheint. Darin dem Feuerbachschen Sensualismus verhaftet, geht Marx von der Sinnlichkeit als »Basis aller Wissenschaft«36 aus. Materialistische Theorie ist ihm mit wissenschaftlicher Haltung schlechthin identisch: »Nur wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt, sowohl des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht – also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht – ist sie wirkliche Wissenschaft.«37

Die sinnliche Welt und die endlichen Menschen in ihrer jeweiligen sozialen Verflechtung – Wesen und Erscheinung zugleich – sind die einzigen Größen, mit denen die Marxsche Theorie rechnet. Es gibt für Marx im Grunde nur »den Menschen und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der anderen Seite«38. Aus der objektiven Logik der menschlichen Arbeitssituation versucht er, die Struktur auch der anderen Lebensbereiche zu begreifen: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.«39

Am Bilde ihres jeweiligen Kampfes mit der Natur orientiert, deuten die Menschen in den verschiedenen Sphären ihrer Kultur die Welt, wobei für Marx wie für Feuerbach alle sich auf supranaturale Seinsregionen beziehenden Vorstellungen Ausdruck einer negativen Organisation des Lebens sind. Die geschichtliche Bewegung40 ist eine wechselseitige Beziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur. Zwar umschließt das Weltmaterial Subjekt wie Objekt, wesentlich bleibt aber, daß sich historisch gegenüber der Einheit des Menschen mit der Natur ihre Unversöhntheit, letztlich die Notwendigkeit der Arbeit, durchsetzt.

Natur interessiert Marx in erster Linie als Moment menschlicher Praxis. So heben schon die Pariser Manuskripte mit aller Entschiedenheit hervor: »... die Natur, abstrakt genommen, für sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts.«41

Solange die Natur nicht bearbeitet ist, ist sie ökonomisch wertlos, genauer gesprochen, bloßes Wertpotential, das seiner Verwirklichung harrt: »Das bloße Naturmaterial, soweit keine menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht ist, soweit es daher bloße Materie ist, unabhängig von der menschlichen Arbeit existiert, hat keinen Wert, da Wert nur vergegenständlichte Arbeit ist ...«42

Einige sonst bei Marx nicht explizit ausgesprochene philosophische Motive lassen sich auch seinen Hinweisen zur Geschichte der Philosophie in der »Heiligen Familie« entnehmen. Dafür, daß der Marxsche Materialismus nicht ontologisch zu verstehen ist, spricht insbesondere die allgemeine Charakteristik des Hegelschen Systems, die uns hier begegnet. »In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche Selbstbewußtsein, die Hegelsche notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist. Das erste Element ist die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung.«43

Die Marxsche Frontstellung ist hier eine dreifache. Im spinozistischen Substanzbegriff bekämpft er die Vorstellung eines menschlich unvermittelten An-sich der Natur, im Fichteschen Selbstbewußtsein, das heißt hier im Subjektbegriff des deutschen Idealismus insgesamt, kritisiert er die Verselbständigung des Bewußtseins und seiner Funktionen gegenüber der Natur. Das vermittelnde Subjekt ist nicht einfach »Geist«, sondern der Mensch als Produktivkraft. In Hegels Absolutem schließlich, der Einheit von Substanz und Subjekt, sieht er die nicht konkret-historisch hergestellte, sondern »metaphysisch travestierte« Einheit der Momente. Wie die Natur nicht vom Menschen, so ist umgekehrt auch der Mensch und seine geistigen Leistungen nicht von der Natur ablösbar. Die menschliche Denkfunktion ist ein naturhistorisches Produkt. Marx bezeichnet den Denkprozeß als Naturprozeß: »Da der Denkprozeß selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozeß ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein, und nur graduell, nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden.«44

Von vornherein auf falschem Wege befindet sich, wer im Materialismus eine einheitliche Idee, in seiner Geschichte eine rein immanente gedankliche Entwicklung erblickt45. Sieht man von gewissen formalen Zügen ab, die aller materialistischen Philosophie eigentümlich sind, so zeigt es sich, daß der Materialismus in seiner Methode, seinem spezifischen Interesse, überhaupt in seinen inhaltlichen Merkmalen gesellschaftlich-historisch wandelbar ist. Was in einem Jahrhundert von höchster Wichtigkeit für ihn ist, kann sich im darauffolgenden als nebensächlich erweisen. Stets aber ist er, wie alle Philosophie, ein gedanklicher Aspekt des Lebensprozesses der Menschen: »Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere menschliche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der ›Kopf‹ von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.«46

Steht für den Materialismus der bürgerlichen Aufklärung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Materie in ihrer physikalischen oder physiologischen Bestimmtheit im Mittelpunkt, so muß sie bei einer Gestalt des Materialismus, dessen wesentlicher Inhalt in der Kritik der politischen Ökonomie besteht, im weitesten Sinne als gesellschaftliche Kategorie auftreten. Die metaphysischen und naturwissenschaftlichen Sätze, namentlich die der Mechanik, auf denen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der gesamte vormarxsche Materialismus fußt, beruhen gar nicht auf ursprünglichen Fragestellungen, sondern sind etwas durchaus Abgeleitetes. Schon in seinem philosophiehistorischen Exkurs in der »Heiligen Familie« zeigt Marx, wie sehr der physikalische Materialismus in der Richtung seines Interesses wie in seinen dogmatischen Aussagen über die Wirklichkeit an historisch begrenzte Probleme der gesellschaftlichen Emanzipation des Bürgertums gebunden ist. Dementsprechend treten bei Marx die traditionellen Gegenstände des Materialismus in dem Maße zurück, in dem er sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion wie Genesis begreift. Was zu den ABC-Thesen eines jeden Materialismus gehört, hat auch bei ihm seinen Ort, freilich nicht als isolierte Behauptung, sondern wesentlich als etwas in der dialektischen Theorie der Gesellschaft Aufgehobenes und erst von ihr aus ganz zu Verstehendes. Das »Kapital« kritisiert am seitherigen Materialismus ausdrücklich den Umstand, daß ihm die Beziehung seiner Formulierungen zum geschichtlichen Prozeß entgeht: »Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.«47

In geradezu klassischer Weise zeigt die Marxsche Polemik gegen Feuerbach in der »Deutschen Ideologie«, wie die Naturwissenschaften, eine Hauptquelle materialistischer Aussagen, gar kein unmittelbares Bewußtsein der natürlichen Wirklichkeit liefern, weil das menschliche Verhältnis zu dieser nicht primär ein theoretisches, sondern ein praktisch­umgestaltendes ist. Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt dessen nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaften gesellschaftlich determiniert. Die erwähnte Polemik gegen Feuerbach, die im Zusammenhang mit den zur gleichen Zeit verfaßten »Thesen« verstanden werden muß, steht ganz im Zeichen des bereits behandelten Marxschen Übergangs vom »anschauenden« zum »neuen«, das heißt dialektischen Materialismus. Marx zeigt, daß die Feuerbachschen Aussagen über Natur keine letzten Befunde darstellen, sondern so hochgradig vermittelt sind wie die Natur selbst: »Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? ... Selbst die Gegenstände der einfachsten sinnlichen Gewißheit« sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben ... Selbst diese ›reine‹ Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheuere Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine eigne Existenz sehr bald vermissen würde.«48

Zwar ist für Marx die sinnliche Welt nicht »ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes«49, aber diese gesellschaftlich vermittelte Welt bleibt zugleich eine natürliche, die geschichtlich jeder menschlichen Gesellschaft vorausliegt. Bei aller Anerkennung des gesellschaftlichen Moments »bleibt ... die Priorität der äußeren Natur bestehen und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch generatio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung (von vorgesellschaftlicher und gesellschaftlich vermittelter Natur, A. S.) hat nur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden betrachtet. Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert.«50 Daß hier Marx gegenüber dem gesellschaftlichen Vermittlungsfaktor die Priorität der äußeren Natur und damit ihrer Gesetze festhält, ist erkenntnistheoretisch sehr wichtig und an späterer Stelle ausführlich zu diskutieren.

Nicht nur weil die arbeitenden Subjekte das Naturmaterial mit sich vermitteln, läßt sich von diesem nicht als von einem obersten Seinsprinzip sprechen. Die Menschen haben es ja nie mit Materie »als solcher« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkreten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinsweisen. Ihr Allgemeines, die Unabhängigkeit vom Bewußtsein, existiert nur im Besonderen. Es gibt keine Urmaterie, keinen Urgrund des Seienden. Nicht nur wegen ihrer Relativität auf Menschen, in ihrem »Sein für anderes«, sondern ebensowenig in ihrem »Sein an sich« taugt die materielle Wirklichkeit zu einem ontologischen Prinzip. Der dialektische Materialismus kann mit noch geringerem Recht als der dialektische Idealismus Hegels eine »Ursprungsphilosophie« genannt werden. Es gibt keine selbständige Substanz, die unabhängig von ihren konkreten Bestimmtheiten existieren könnte. Engels spricht sich über den Materiebegriff in den »Noten zum Anti-Dühring« folgendermaßen aus: »NB Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes.«51

Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik der Natur« ein: »Die Materie und Bewegung kann ... gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die Materie und Bewegung als solche.«52

Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklärungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialismus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem ›letzten‹, unveränderlichen Wesen der Dinge‹, von einer ›absoluten Grundsubstanz‹, auf deren ›endgültige‹ Eigenschaften und Erscheinungen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53

Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engels und die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten, sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entstehung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer Materie zur umfassend-metaphysischen Welterklärung herangezogen wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von einem allgemeinen Prinzip aus, nicht aber von einer ihrer konkreten Daseinsweisen. Auch darauf weist Engels in einem Fragment seiner »Dialektik der Natur« hin: »Causa finalis – die Materie und ihre inhärente Bewegung. Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als solche verschwimmend, nur als Materie, nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften wirkend.«54

Nur, wo mit Marx die materielle Realität als je schon gesellschaftlich vermittelt anerkannt wird, läßt sich Ontologie vermeiden und kommt die Engelssche Formulierung wirklich zu ihrem Recht, daß Materie als solche eine Abstraktion ist, daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie existieren.

Sehr wesentlich für das Verständnis des Zusammenhangs des Marx­schen mit dem philosophischen Materialismus überhaupt ist auch die traditionelle Frage nach dem Sinn von Geschichte und Welt. Die materialistische Dialektik ist nicht-teleologisch, so merkwürdig das zunächst klingen mag. Weder ist ihr die Geschichte eine chaotische Faktensammlung wie für Schopenhauer noch ein einheitlich-geistiger Sinnzusammenhang wie für Hegel. Marx verselbständigt die Geschichte nicht pantheistisch. Am ehesten noch nimmt sein Denken eine rechtfertigend-idealistische Färbung an, wo er mit Hegel auf die unumgängliche Notwendigkeit von Herrschaft und Grauen in der »Vorgeschichte« verweist. Zwar kommt durch die einander gesetzmäßig ablösenden Gesellschaftsformationen so etwas wie eine übergreifende Struktur in die menschliche Geschichte, keineswegs aber im Sinne einer durchgehenden »Teleologie«. Die Welt als Ganzes sieht Marx keiner einheitlichen sinnverleihenden Idee unterworfen. Es gibt bei ihm einzig, was Hegel den »endlich-teleologischen Standpunkt«55 nennt: endliche Ziele endlicher, raumzeitlich bedingter Menschen gegenüber begrenzten Bereichen der natürlichen und gesellschaftlichen Welt. Der Tod als das antiutopische Faktum par excellence »erweist ... die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und jeder Theodizee«56. Alle in der Wirklichkeit auftretenden Ziele und Zwecke gehen zurück auf Menschen, die ihren sich wandelnden Situationen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn. Nur wo das Subjekt wie Hegels Geist welthaft zu einem unendlichen ausgeweitet wird, können seine Zwecke zugleich die der Welt selber sein. Hegel gilt der »endlich­teleologische Standpunkt« als etwas Beschränktes, in die Theorie des absoluten Geistes Aufzuhebendes. Marx dagegen weiß von keinen anderen Zwecken in der Welt als denen, die von Menschen gesetzt sind. Sie kann daher nie mehr Sinn enthalten, als es den Menschen gelungen ist, durch die Einrichtung ihrer Lebensverhältnisse zu realisieren. Auch wenn eine bessere Gesellschaft herbeigeführt wird, wird damit der leiderfüllte Weg der Menschheit zu ihr hin nicht gerechtfertigt: »Daß die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammenhängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.«57

Dadurch, daß Marx nicht von der Vorstellung eines den Menschen vorgegebenen Gesamtsinnes ausgeht, wird Geschichte zu einer Abfolge immer wieder neu einsetzender Einzelprozesse, begreifbar nur von einer Philosophie der Weltbrüche, die bewußt auf den Anspruch lückenloser Deduktion aus einem Prinzip verzichtet. Wer die seitherige menschliche Geschichte begreift, hat damit keineswegs einen Sinn der Welt überhaupt begriffen. Eine Formulierung wie die folgende aus Hegels »Vernunft in der Geschichte« wäre für Marx völlig undenkbar: »Wir müssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt, nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gemüts, ihn müssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten.«58

Das in mancher Hinsicht allzu metaphysische Marxverständnis Ernst Blochs ist unter anderem gekennzeichnet durch die in seinen Schriften immer wieder auftretende These, auch in der Marxschen Philosophie gebe es so etwas wie einen Endzweck der Welt. Er spricht in einer seiner ­Arbeiten59, ganz wie Hegel, von dem »wohlfundierten Realproblem eines ›Sinns‹ der Geschichte, in Verbindung mit einem ›Sinn‹ der Welt«, das dem dialektischen Materialismus aufgegeben sei. Es wird bei der Darstellung der Marx­schen Utopie des Verhältnisses von Mensch und Natur zu erörtern sein, welche Konsequenzen aus Blochs Annahme eines Weltsinnes bei Marx sich für seinen Utopiebegriff ergeben. Hier ist im Zusammenhang mit dem Problem des Weltsinnes noch auf einen anderen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Marx verteidigt seinen unerbittlichen Atheismus nicht nur unter Hinweis auf die Resultate der modernen Naturwissenschaften60 oder ideologiekritisch. Ähnlich wie für Sartre ist für Marx die Möglichkeit der Freiheit des Menschen nur durch die Nichtexistenz eines »sinnstiftenden« Gottes verbürgt. Der Mensch ist essentiell nicht festgelegt. Noch ist sein Wesen nicht total erschienen. Konträr, in der seitherigen Geschichte, die sich ja als »Vorgeschichte« dadurch auszeichnet, daß die Menschen ihrer eigenen Kräfte gegenüber der Natur nicht mächtig sind, wurde das menschliche Wesen brutal unter die materiellen Bedingungen der Erhaltung ihrer Existenz subsumiert. Zu einer realen Versöhnung von Wesen und Existenz gelangt die menschliche Gattung nur, sofern sie sich zunächst theoretisch als die Ursache ihrer selbst begreift. Hierauf gehen besonders die Pariser Manuskripte ein: »Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine Schöpfung ist.«61

Marx weist die ontologisch gestellte Frage nach dem Schöpfer des ersten Menschen und der Natur als ein »Produkt der Abstraktion«62 zurück: »Frage dich, wie du auf jene Frage kömmst; frage dich, ob deine Frage nicht von einem Gesichtspunkt aus geschieht, den ich nicht beantworten kann, weil er ein verkehrter ist? ... Wenn du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend, und willst doch, daß ich sie als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als nichtseiend denkend, denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn.«63

Diese merkwürdig emphatische und für das Marxsche Verhältnis zu aller prima philosophia typische Stelle macht noch einmal deutlich, worum es bei Marx geht. Die auf das vormenschliche und vorgesellschaftliche Sein, der Natur gerichteten Fragen lassen sich nicht »abstrakt« stellen; sie setzen jeweils schon eine bestimmte Stufe theoretischer und praktischer Aneignung der Natur voraus. Alle vermeintlich absolut ersten Substrate sind immer schon behaftet mit dem, was aus ihrer Wirksamkeit erst hervorgehen soll, und eben deshalb keine absolut ersten. Die Frage nach dem »Entstehungsakt«64 von Mensch und Natur ist für Marx deshalb auch weniger eine metaphysische als eine historisch-gesellschaftliche: »Indem ... für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur, und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und den Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden.«65

Der Marxsche Atheismus – ein im Grunde bereits »postatheistisches« Bewußtsein – wendet sich gegen jede Abwertung von Mensch und Natur66. Für den Idealismus ist Gott, für den mit dem Humanismus identischen Materialismus der Mensch das höchste Wesen. Im Gottesbegriff sieht Marx den abstraktesten Ausdruck von Herrschaft, stets verbunden mit einem dogmatisch vorgegebenen einheitlich-geistigen Gesamtsinn der Welt. Ist Gott, so kommt der revolutionäre Mensch als Hersteller zwar nicht eines Weltsinnes, aber doch eines sinnvollen gesellschaftlichen Ganzen, in dem jeder Einzelne sich aufgehoben und geehrt weiß, nicht mehr in Betracht. Prometheus ist für Marx nicht umsonst der vornehmste Heilige im philosophischen Kalender. Das menschliche Selbstbewußtsein, sagt er in seiner Dissertation, muß als »oberste Gottheit«67 anerkannt werden. Geht die Theorie von vornherein von dem historischen Vermittlungszusammenhang von Mensch und Natur in der gesellschaftlichen Produktion aus, so ist auch der Atheismus nicht länger eine bloß »weltanschauliche« Behauptung: »Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit (von Natur und Mensch, A. S.) hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation Gottes, und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens.«68

Als wie problematisch auch immer der Materialismus in der Geschichte der Philosophie sich erwiesen haben mag, sofern er als umfassende Welterklärung auftrat, sein eigentliches Interesse besteht gerade bei seinen bedeutendsten Vertretern nicht primär in einer dogmatischen Sammlung metaphysischer Thesen. Wo er sich auf solche einläßt, haben sie eine ganz andere Akzentuierung als die ihnen entgegengesetzten idealistischer Herkunft. Aus der Ansicht, daß alles Materielle wirklich und alles Wirkliche materiell sei, gehen für den Materialisten unmittelbar keinerlei ethische Maximen hervor.

Äußerlich zwar an theologisch-metaphysische Fragestellungen, wie sie der Hegelschen Philosophie eigentümlich sind, gebunden, versteht sich auch der Marxsche Materialismus nicht in erster Linie als Antwort auf die bewegenden Fragen, die traditionellerweise der Metaphysik zugeschrieben werden. Darin den großen Enzyklopädisten verwandt, ist er in den letzten Fragen der Metaphysik so großzügig, wie er unerbittlich ist in bezug auf die Nöte, die aus der unmittelbaren Praxis der Menschen hervorgehen. In der »Deutschen Ideologie« gibt es einen Abschnitt von Moses Heß, in dem auf drastisch-aufklärerische Weise die Idealisten gekennzeichnet werden: »Alle Idealisten, die philosophischen wie die religiösen, die alten wie die modernen, glauben an Inspirationen, an Offenbarungen, an Heilande, an Wundermänner, und es hängt nur von der Stufe ihrer Bildung ab, ob dieser Glaube eine rohe, religiöse oder eine gebildete, philosophische Gestalt annimmt ...«69

Befaßte sich der Marxsche Materialismus mit abstrakten weltanschaulichen Bekundungen, wie sie heute vielfach in den östlichen Ländern noch üblich sind, so unterschiede er sich in nichts von jenem oben glossierten schlechten Idealismus. Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand und Ausgangspunkt materialistischer Theorie. Demgemäß erklärt Marx in seiner achten Feuerbachthese: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.«70

Statt um die Frage nach der spirituellen oder materiellen Natur der Seele, die selbst in ihrer materialistischen Beantwortung zu Zeiten eine idealistische, nämlich ablenkende Funktion in der Gesellschaft haben kann, kümmert sich der Marxsche Materialismus vorab um die Möglichkeit, Hunger und Elend auf der Welt abzuschaffen. Mit den ethischen Materialisten der Antike, deren Ansichten über die Lust selbst der Idealist Hegel nicht fernsteht, hat Marx ein eudämonistisches Moment gemeinsam. Sosehr zwar der Materialismus zunächst keine sittliche Haltung ist, nicht in der blinden Vergötzung grobsinnlicher Freuden besteht, sowenig reduziert er sich freilich auf der anderen Seite bloß auf eine Theorie oder Methode. »Es geht dem Materialisten nicht um die absolute Vernunft, sondern um das Glück – auch in seiner verpönten Gestalt: der Lust – und nicht so sehr um das sogenannte innere Glück, das sich gar zu oft mit dem äußeren Elend zufriedengibt, sondern um einen objektiven Zustand, in dem auch die verkümmerte Subjektivität zu ihrem Recht kommt.«71 Wenn daher Engels in seiner Feuerbachschrift72 über das angebliche »Philistervorurteil« höhnt, das den Materialismus nicht nur als Theorie versteht, sondern auch mit sinnlichen Genüssen in Verbindung bringt, so fragt es sich, was die ungeheueren und nicht nur theoretischen Anstrengungen der Menschen, über den Kapitalismus hinauszugelangen, für einen Wert haben sollen, wenn es nicht auch um die Lust, um die Herbeiführung sinnlichen Glücks dabei gehen soll. In der Engelsschen Formulierung steckt etwas von jenem asketischen Zug, den Heine schon früh an der sozialistischen Bewegung wahrnahm und der später zu einer der Ursachen menschenfeindlicher Praxis werden sollte. Wer schon nichts Rechtes zu beißen hat, soll wenigstens nicht ohne »wissenschaftliche Weltanschauung« sein.

Die theoretische Anstrengung, die darauf abzielt, daß kein Mensch auf der Welt mehr materielle und intellektuelle Not leidet, bedarf keiner metaphysischen »Letztbegründung«. Der kritische Materialismus verschmäht es, darin die Tradition bloßen Philosophierens fortzusetzen, daß er »Welträtseln« nachspürt oder sich im Stil neuerer Ontologie unentwegt radikal in Frage stellt. Seine gedankliche Konstruktion ist die endlicher Menschen und erwächst aus bestimmten geschichtlichen Aufgaben der Gesellschaft. Er will den Menschen aus dem selbstgeschmiedeten Käfig undurchschauter ökonomischer Determination heraushelfen. Wenn die materialistische Theorie die gesellschaftlichen Voraussetzungen noch der zartesten Kulturgebilde herausarbeitet, so ist sie nichts weniger als die positive »Weltanschauung«, die heute im Osten aus ihr gemacht wird. Im Grunde ist sie ein einziges kritisches Urteil über die seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind mechanisch ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen lassen. Ernst Bloch sagt daher mit Recht, »daß es bisher noch kein menschliches Leben gegeben hat, sondern immer nur ein wirtschaftliches, das die Menschen umtrieb und falsch machte, zu Sklaven, aber auch zu Ausbeutern«73. Ökonomie wird von der Theorie so scharf pointiert wie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit selber. Sie ist jedoch sowenig wie das Proletariat ein metaphysisches Erklärungsprinzip für Marx. Von ihrer alles beherrschenden soll sie wieder zur dienenden Rolle zurückgebracht werden. Das »Materialistische« der Marxschen Theorie ist gerade kein Bekenntnis zum heillosen Primat der Ökonomie, dieser menschenfeindlichen, von der Wirklichkeit vollzogenen Abstraktion. Jene ist vielmehr der Versuch, endlich das Augenmerk der Menschen auf die gespenstische Eigenlogik ihrer Verhältnisse zu richten, auf diese Pseudophysis, die sie zu Waren macht und zugleich die Ideologie mitliefert, sie seien bereits mündige Subjekte.

Horkheimer kennzeichnet die Anarchie der kapitalistischen Produktion folgendermaßen: »Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und Staaten.«74

Indem die kapitalistische Gesellschaft von ihrem eigenen Lebensprozeß beherrscht wird, nimmt ihre Rationalität einen irrationalen, mythisch-schicksalhaften Charakter an, worauf Thalheimer aufmerksam macht: »So steht die kapitalistische Gesellschaft ihrer eigenen Wirtschaft gegenüber nicht anders, als der australische Wilde dem Blitz, dem Donner, dem Regen gegenübersteht.«75

Die gesellschaftlich nicht richtig organisierte Naturbeherrschung, mag sie auch noch so hoch entwickelt sein, bleibt Naturverfallenheit. Immer wieder wird der Denunziant eines Übels so verstanden, als werde es von ihm glorifiziert oder propagiert. Das Schulbeispiel einer völligen Entstellung und Verzerrung dessen, was bei den Kritikern der politischen Ökonomie Materialismus heißt, ist das Buch von Peter Demetz »Marx, Engels und die Dichter«76. Demetz tut so, als habe Marx alles das erfunden, wogegen seine Lehre steht. Nicht der Marxsche Materialismus hat, wie Demetz meint, »die Gestalt des Dichters des Elements der Freiheit beraubt und damit zum eigentlich unpersönlichen Diener wirtschaftlicher Vorgänge herabgewürdigt«77, sondern die reale Entwicklung der den Menschen entfremdeten, weil unbeherrschten Produktion. Nicht, weil Marx ein primitiver Ökonomist ist, verzichtet er in seinen Schriften, bei Programmentwürfen und dergleichen auf alle moralisierenden und idealischen Redensarten mit geradezu asketischer Wachsamkeit. Bezeichnend für seine Haltung ist ein Brief an F. A. Sorge, in dem er sich über das Aufkommen eines »faulen Geistes« in der Partei beklagt und von einer »ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores« spricht, »die dem Sozialismus eine ›höhere, ideale‹ Wendung geben wollen, das heißt die materialistische Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité«.78 Gerade, indem Marx sich die materiellen Probleme nicht abmarkten läßt, hält er dem hinter idealistischer Phrasenhülle verborgenen humanen Kern eher die Treue als jene, die das geschichtlich noch immer Ausstehende als bereits realisiert ausgeben. Nicht die geistigen Inhalte als solche sind für Marx Ideologie, wohl aber ihr uneingelöster Anspruch, gesellschaftliche Wirklichkeit zu sein.

Die erste Natur als außerhalb der Menschen bestehende Dingwelt beschreibt Hegel als blindes, begriffloses Geschehen. Die Welt des Menschen, soweit sie Gestalt annimmt in Staat, Recht, Gesellschaft und Ökonomie, ist ihm »zweite Natur«79, manifestierte Vernunft, objektiver Geist. Dem hält die Marxsche Analyse entgegen, daß die zweite Natur bei Hegel eher zu beschreiben wäre mit den Begriffen, die er selbst auf die erste anwendet, nämlich als Bereich der Begrifflosigkeit, in dem blinde Notwendigkeit und blinder Zufall koinzidieren. Hegels zweite Natur ist selber noch erste. Noch immer sind die Menschen aus der Naturgeschichte nicht herausgetreten80. Diese Tatsache erklärt die vielen Marx­kritikern als unangemessen erscheinende quasi-naturwissenschaftliche Methode der Marxschen Soziologie, die schon wegen der »naturhaften« Beschaffenheit ihres Gegenstandes keine Geisteswissenschaft sein kann. Wenn Marx die Geschichte der bisherigen Gesellschaft als einen »naturhistorischen Prozeß«81 behandelt, so hat das zunächst den kritischen Sinn, daß »die Gesetze der Ökonomie in aller ... plan- und zusammenhanglosen Produktion den Menschen als objektive Gesetze, über die sie keine Macht haben, entgegentreten, also in Form von Naturgesetzen«82. Marx hat die aus der perennierenden »Vorgeschichte« gewonnene Erfahrung im Sinn, daß trotz aller technischen Triumphe im Grund noch immer die Natur und nicht der Mensch triumphiert. Als gesellschaftlich unbeherrschte ist die »ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«83.

Uber eine solche kritische Akzentuierung hinaus gebraucht Marx jedoch den Begriff der Naturgeschichte in dem weiteren, sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckenden Sinne der evolutionistischen Theorien des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn er dem »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus« vorwirft, daß er den »geschichtlichen Prozeß«84 ausschließt, so hat er nicht nur den der Gesellschaft, sondern ebensosehr den der Natur im Auge85.

Wie bei den meisten mechanischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, so gibt es auch in der Philosophie Hegels, die in der Natur das materielle Auseinander gleichgültiger Existenzen sieht, keine Naturgeschichte im strengen Sinne: »Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren u.s.w. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen.«86

Für Marx dagegen ist das gesetzmäßige Hervorgehen der Naturformen auseinander eine Selbstverständlichkeit. Sein Entwicklungsbegriff ist nicht nur an Hegel, sondern auch an Darwin geschult. Darauf weist Engels in seiner Rezension des ersten Bandes des »Kapitals« hin, wo er zur Marxschen Methode sagt: »Soweit er sich bemüht, nachzuweisen, daß die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer andern, höheren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nur denselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen hat.«87

Daß Marx die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß«88 auffaßt, bedeutet, daß er die geschichtlichen Abläufe in ihrer strengen Notwendigkeit betrachtet, ohne sich auf aprioristische Konstruktionen oder psychologische Erklärungsprinzipien einzulassen. Die Verhaltensweisen der Individuen versteht er als Funktionen des objektiven Prozesses. In der seitherigen Geschichte sind sie weniger als freie Subjekte denn als »Personifikation ökonomischer Kategorien«89 aufgetreten.

In seiner für das Verständnis des historischen Materialismus wesentlichen Schrift »Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« aus dem Jahre 1894 geht Lenin besonders auf den »naturhistorischen« Charakter der Marxschen Forschungsmethode und ihre Beziehung zum Darwinschen Evolutionismus ein: »Wie Darwin der Vorstellung ein Ende bereitet hat, als seien Tier- und Pflanzenarten durch nichts miteinander verbunden, zufällig entstanden, ›von Gott erschaffen‹, unveränderlich, wie er als erster die Biologie auf eine völlig wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, indem er die Veränderlichkeit der Arten und die Kontinuität zwischen ihnen feststellte – so hat Marx seinerseits der Vorstellung ein Ende bereitet, als sei die Gesellschaft ein mechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der Obrigkeit (oder, was dasselbe ist, der Gesellschaft und der Regierung) beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsverhältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formationen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist.«90

An die Stelle aller Räsonnements über die Gesellschaft und den Fortschritt im allgemeinen tritt bei Marx die konkrete Analyse einer Gesellschaft, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen. Der Marxsche Materialismus ist so wenig wie Darwins Theorie eine inhaltliche Totalerklärung, sondern der Versuch, den geschichtlichen Prozeß sachgerecht, ohne metaphysische Dogmen, zu begreifen: »Genau so, wie ... der Transformismus keineswegs den Anspruch erhebt, die ›gesamte‹ Geschichte der Entstehung der Arten zu erklären, sondern nur den, die Methoden dieser Erklärung auf die Höhe der Wissenschaft zu bringen, hat auch der Materialismus in der Geschichte nie den Anspruch erhoben, alles erklären zu wollen, sondern nur den, die nach einem Ausdruck von Marx (›Das Kapital‹) ›einzig wissenschaftliche‹ Methode der Erklärung der Geschichte herauszuarbeiten.«91

Marx selbst ist sich übrigens der Beziehung seiner Theorie zu Darwin, bei aller Anerkennung der Spezifität sozialer Gesetze, bewußt: »Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?«92

Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« die Natur- von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden.«93

Natur- und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.

Auf der einen Seite ist zwar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirklicher Teil der Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormenschliche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerte Leibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte – und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren – ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung.«96

Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschiedensten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an Kugelmann kritisiert Marx scharf den Versuch F. A. Langes, sich über den Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstrakt-naturwissenschaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange hat ... eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Daseins‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungsoder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthussche ›Bevölkerungsphantasie‹ umzusetzen.«97

Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur reden, wenn man die von bewußten Subjekten gemachte Menschengeschichte voraussetzt. Sie ist deren rückwärtige Verlängerung und wird von den Menschen als nicht mehr zugängliche Natur mit denselben gesellschaftlich geprägten Kategorien erfaßt, die sie auf die noch nicht angeeigneten Naturbereiche anzuwenden genötigt sind.

Gerade am Darwinismus wird deutlich, wie außerordentlich voraussetzungsvoll alle Aussagen über die Natur und ihre Geschichte sind. Wie bewußt sich dessen Marx bei aller »naturgeschichtlichen« Betrachtungsweise der Gesellschaft ist, geht sehr schön hervor aus einem Brief an Engels, in dem es heißt: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ ›bellum omnium contra omnes‹ und es erinnert an Hegel in der Phänomenologie, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert ...«98

In Übereinstimmung mit Marx zeigt Engels in einem Brief an P. L. Lawrow, daß bestimmte, den bürgerlichen Verhältnissen und ihrer gedanklichen Widerspiegelung entlehnte Lehren, nachdem sie auf die Entwicklung der organischen Natur angewandt worden sind, von den Sozialdarwinisten als angeblich reine Naturgesetze der Gesellschaft aufgenötigt werden: »Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht, ... so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen.«99

Innerhalb der Marxschen Schule spielt die sozialdarwinistische Betrachtungsweise der Geschichte eine große Rolle in Karl Kautskys Werk »Die materialistische Geschichtsauffassung«. Die Einheit der menschlichen mit der vormenschlichen Entwicklungsgeschichte verabsolutierend, gelangt Kautsky zu der Ansicht, »daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »naturwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden, ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist, stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bewegungsgesetze bloße Erscheinungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen Autoren in der umfangreichen Marxliteratur, bei denen sich ein Verständnis der komplizierten Dialektik von Natur und Geschichte findet, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, sondern die moderne ›bürgerliche Gesellschaft‹ bildet für sie (Marx und Engels, A. S.) die wirkliche Grundlage, aus der alle früheren geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102 Die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Menschengeschichte hat für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen, historisch-­gesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgungen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marx hat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103

Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der geistigen noch solche der biologisch-materiellen Natur des Menschen. In seiner Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden.«104

Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte hat schließlich noch eine methodisch-­wissenschaftstheoretische Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigentümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geisteswissenschaften, so zerschneiden Windelband und Rickert die Wirklichkeit noch radikaler in zwei schlechthin getrennte Bereiche. Natur wird kantianisch als das Dasein der Dinge unter Gesetzen gefaßt. Dem entspricht der »nomothetische« Charakter der Naturwissenschaften. Die Geschichte besteht aus einer Fülle wertbezogener, im Grunde unverbundener »individueller« Befunde, die nur einer beschreibenden, »idiographischen« Methode zugänglich sind, wodurch sie zu etwas jenseits aller rationalen Analyse wird105.

Für Marx gibt es keine Trennung schlechthin von Natur und Gesellschaft, damit auch keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft. So schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschheit abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.«106

Ein »Gegensatz von Natur und Geschichte«107 wird von den Ideologen dadurch erzeugt, daß sie das produktive Verhältnis der Menschen zur Natur aus der Geschichte ausschließen. Natur und Geschichte, sagt Marx gegenüber Bruno Bauer, sind »nicht zwei voneinander getrennte ›­Dinge‹«108. Die Menschen haben immer eine »geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte«109 vor sich.

Der Vorwurf, daß Marx allzu »naturalistisch« verfahre, wenn er im »Kapital« vom geschichtlichen Prozeß der ökonomischen Gesellschaftsformation als von einem naturgeschichtlichen spricht, kann ihn eben deshalb nicht treffen, weil in ihm dogmatisch die hier gerade kritisierte These vom prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen dem Verhalten des Natur- und des Geschichtsforschers vorausgesetzt wird. Wissenschaftliches Denken kann keinen Bereich sui generis anerkennen, der gesetzmäßiger Erklärung absolut unzugänglich wäre.

Der Methodendualismus bei Dilthey und Windelband-Rickert beruht bei allen Bemühungen dieser Autoren um die Geschichte auf geschichtsfremden Abstraktionen, die freilich zunächst auch den kritischen Sinn haben, daß der Geschichtsdeutung nicht dadurch Tür und Tor geöffnet werden sollte, daß beliebige Sinnschemata an sinnindifferente Befunde herangetragen werden. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, und es sieht so aus, als sei der Geschichtsverlauf völlig strukturlos und bloß noch der Einfühlung und idiographischen Deskription zugänglich.

Marx wendet sich in der Rezension »Die moralisierende Kritik und die kritische Moral« auf eine für das Verständnis seiner Methode höchst instruktive Weise gegen die undialektischen Alternativen, die, wie wir im erörterten Fall gesehen haben, entweder Natur und Geschichte ineinander aufgehen lassen oder aber ihre Differenz verabsolutieren: »Es bezeichnet den ganzen Grobianismus des ›gesunden Menschenverstandes‹, der aus dem ›vollen Leben‹ schöpft und durch keine philosophischen und sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, daß er da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort unter der Hand, und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese Begriffsklötze so zusammenzuschlagen, daß sie ins Brennen geraten.«110

Wie es für Marx keine reine Immanenz in der Abfolge der Ideen gibt, die »geistesgeschichtlich« zu erforschen wäre, so gibt es auch keine reine, geschichtlich unmodifizierte Natur als Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaften. Natur, die Sphäre des Gesetzmäßigen und Allgemeinen, ist ihrem Umfang und ihrer Beschaffenheit nach jeweils bezogen auf die Zwecke gesellschaftlich organisierter Menschen, die von einer bestimmten historischen Struktur ausgehen. Die historische Praxis der Menschen, ihr körperliches Tun, ist das immer wirksamer werdende Bindeglied zwischen den getrennt erscheinenden Bereichen. Der Marx der Pariser Manuskripte verspricht sich von der Natur und Geschichte versöhnenden Rolle der Praxis im Kommunismus sogar ein Zusammenfallen von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, die er hier als Wissenschaft vom Menschen bezeichnet: »Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.«111

Eine Wissenschaft deshalb, weil innerhalb ihrer Verschiedenheit vermittels der Industrie die »gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur«112 und die mit ihr sich entwickelnde natürliche Wirklichkeit des Menschen einander immer angemessener werden, so daß die »natürliche Wissenschaft vom Menschen mit der menschlichen Naturwissenschaft«113 identisch wird.

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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