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Edirne

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Ein Tag so klar, dass Sultan Mehmeds scharfe Augen die Schnee bedeckten Gipfel der Rhodopen in der Ferne ausmachen konnten. In seiner Vorstellung hauste der Winterdort oben das ganze Jahr und wartete, dass seine größte Feindin, die Sonne, ihre Kraft verlor. Dann kam er herabgestiegen und eroberte die Täler und Ebenen mit Eis und Schnee. In Ostthrakien allerdings machten die feuchten Winde vom Weißen Meer seine Waffen stumpf. Die Flüsse froren nicht und der Schnee verschwand nach einigen Tagen. Wegen dieses klimatischen Vorteils sammelten die osmanischen Sultane von alters her ihre Armeen vor Edirne, bevor sie gegen die ungläubigen Völker des Westens zogen. So hatten es Mehmed der Eroberer und Süleyman der Prächtige gehalten, und ihre Söhne und Enkel, soweit sie kriegerischer Natur waren.

Mehmed IV. hielt die Hand schützend über die Augen und musterte die Zeltstadt außerhalb der Stadtmauern. Sechzigtausend Soldaten warteten auf den Beginn des nächsten Kriegszuges gegen den deutschen Kaiser. Sie mussten sich in Geduld üben, bis der Winter Pässe und Gebirgstäler freigab.

Es war der zwölfte Tag des Monats Muharram im Jahre 1095 der Hedschra und der letzte Tag des Jahres 1683 im gregorianischen Kalender. Von der Zeitzählung der Christen besaß Sultan Mehmed nur eine vage Vorstellung, vermutlich war sie so unsinnig und verblendet wie alles, was die Gottesleugner erdachten. Sie bestritten die Existenz Allahs, des einen wahren Gottes, des Schöpfers und Herrn aller Dinge und würden in der feurigen Grube Dschahannam brennen, während die Rechtgläubigen nach ihrem Hinscheiden die Segnungen des Paradieses genossen. Wer nach dem Koran lebte, der irrte nicht, wer Allah willfahrte, erfreute sich seiner Gunst! So neuerdings er selbst. Mit Allahs Hilfe hatten seine Soldaten im letzten Jahr große Siege errungen und ihn im fünfunddreißigsten Jahr seiner Regentschaft zum Großen Sultan gemacht. Zu Mehmed dem Siegreichen!

Übermannt vom Gefühl seiner Herrlichkeit zog Sultan Mehmed eine Kinderfaust große Nachbildung der Turmbekrönung von Wiens Kathedrale aus der Tasche und drückte seine Lippen darauf. Großwesir Kara Mustafa hatte ihm das Kleinod als Glücksbringer und Symbol seines Sieges über die Ungläubigen verehrt. (Allah musste seinen grimmigen Verstand erleuchtet haben, als er es in Auftrag gab!) Freundlich blinkte ihn die runde Sonne an, während sechszackiger Stern und Mondsichel sich in matter Zurückhaltung übten, bis das Licht des Himmelsmondes auf sie fiel. ´Mondenstein` nannte Mehmed die kostbare Miniatur und kam damit dem Namen, dem die Wiener dem Original gegeben hatten – Mondschein – sehr nahe. Nach einem zweiten Kuss wanderte das Kleinod in den Brustbausch seines seidenen Mantels zurück.

Neben dem Sultan saß Großwesir Kara Mustafa zu Pferd. Männer und Pferde warfen in der frühen Morgensonne lange Schatten nach Westen. Sie waren ein höchst ungleiches Paar. Unberechenbar und sprunghaft der Sultan, beständig und pragmatisch der Mann, der das Reich für ihn mit fester Hand regierte. Gemeinsam hatten sie große Erfolge gefeiert, freundschaftlich verbunden waren sie einander nicht.

Kara Mustafa hatte dem Ritual belustigt zugesehen. Welcher erwachsene Mann schmuste ein Ding aus Metall ab? Mehmed blieb ein jämmerlicher Tropf, obwohl er im letzten Jahr an Statur gewonnen hatte. Er saß aufrecht im Sattel, seit ein persischer Arzt den Bruchsack zurück gedrückt hatte, seine Augen rollten nicht mehr wie die eines Dschinn, er gab sich leutselig, bestieg nur mehr seine Hauptfrauen und mischte sich neuerdings in die Staatsgeschäfte ein. Kara Mustafa, der seinen Werdegang vom ängstlichen Kindersultan zum tollpatschigen Jüngling, gleichgültigen Herrscher, notorischen Geizhals und Wüstling und schließlich zum Eroberer mitgemacht hatte, beeindruckte das nicht. Mehmed war derselbe verderbte Mann in einem neuen Kleid.

„Mustafa, Mustafa Pascha!“ Mehmed ließ seine Schimmelstute tänzeln. "Fünf Beutel Gold, dass ich als Erster bei den Zelten bin!"

Ohne auf Antwort zu warten, sprengte der Sultan lachend davon. Ein fester Druck in die Flanken und Kara Mustafas großer Rappe, der den Namen des griechischen Gottes der Winde trug, nahm mit einem gewaltigen Satz die Verfolgung auf. Die Köpfe über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, fegten sie über die große Pferdeweide und mitten durch den Paradeplatz, wo sich Soldaten für die Musterung sammelten. Die für den Krieg abgerichteten Pferde scheuten nicht vor den zur Seite springenden Soldaten. Als die Zeltburg nur mehr drei Steinwürfe weit entfernt war, rammte Mehmeds Schimmel einen Mann zur Seite. Nun liefen die Pferde Kopf an Kopf, bis der Sultan in einer letzten Anstrengung sein Pferd zum Sprung zwang und mit einer halben Länge siegte.

"Du schuldest mir fünf Beutel Gold!" rief er beim Absteigen laut genug, dass es die Hofgesellschaft hören konnte. "Oder du gibst mir deinen Hengst!"

Wie viele Türken ritt der Sultan lieber Stuten, aber der Rappe des Großwesirs war etwas Besonderes. Kara Mustafa verstand den Wink mit dem Zaunpfahl.

"Nimm meinen Aiolos, siegreicher Herr!"

Von den Tribünen kam mitfühlendes Gemurmel, als der Großwesir dem Pferd, das er in der Schlacht bei Wien geritten hatte, zum Abschied einen Kuss auf die schweißnasse Stirn drückte.

„Schmuse den Hengst nicht ab wie ein Weib!“ lästerte Mehmed. „Er gehört jetzt mir!“

Auf seinen Wink wurde der widerstrebende Aiolos von Pferdeknechten weggeführt. Scheinbar geknickt stieg Kara Mustafa hinter seinem Herrn die Stufen hinauf und nahm, nachdem Mehmed sich in die bequemen Kissen eines Sofas gelehnt hatte, den Platz zu seinen Füssen ein. Rechts von ihm saß mit unbewegtem Gesicht der Statthalter von Rumelien Ali Pascha, genannt der Scheichsohn, links putzte Janitscharengeneral Mustafa Aga seine rote Nase, die ihm zu Unrecht – niemand hatte ihn je Alkohol trinken sehen - den Namen Bekir - Trunkenbold - eingebracht hatte. Zur Unterscheidung der vielen Mustafas, Mehmeds und Alis wurden gerne Merkmale ihrer Herkunft oder ihres Aussehens dem Namen vorangestellt. Häufig Kara (Schwarz) für dunkle Männer, oder Sary für Blonde. Bekir Mustafa legte Kara Mustafa mitfühlend die Hand auf die Schulter.

"Warum hast du Aiolos nicht auch springen lassen?"

"Weil Aiolos klug ist!"

"So wie sein Reiter" sagte der General. "Aber weshalb hast du ihn dem Sultan überlassen? Er ist mehr wert als fünf Beutel Gold."

"Weil sich ein kluges treues Pferd von keinem andren reiten lässt!“

Es dauerte eine Weile bis der General begriff. „Du meinst, du bekommst ihn bald zurück, weil er sich dem Sultan verweigert? Ha!“

"Bei Allah, es ist nur gerecht. Mehmed quält mich jeden Tag mit seinen Flausen!"

Beide lachten so laut, dass der Sultan auf sie aufmerksam wurde. Was sie miteinander schwatzten, hatte er nicht verstanden, weil die Höflinge immer noch lautstark seinen Sieg beim Rennen bejubelten, aber ihre Unbeschwertheit ärgerte ihn. Vor kurzem hatte sich ihm eine neue schreckliche Kraft offenbart. Er legte seine mit Gold und Edelsteinen beringte rechte Hand auf die Schulter seines Großwesirs.

"Spürst du die Kraft, die von mir ausgeht, schwarzer Mustafa?"

"Das tue ich, mächtiger Herr" versicherte der Berührte und setzte eine ängstliche Miene auf, die eher komisch wirkte bei einem so furchteinflößenden Gesicht. Eine gekrümmte Nase ragte aus einem dunkel bärtigen Antlitz mit Beryllium farbenen Augen, die drohend unter buschigen Brauen glühten. Mehmed beugte sich vor und musterte ihn von der Seite.

"Wie spürst du sie?"

„Wie einen Strahl eiskalten Wassers an einem heißen Sommertag, oh Herr!“

Mehmed war das zu wenig. Er legte auch seine linke Hand auf. „Und nun?“

Kara Mustafa konnte keine Antwort geben. Ein Schauer durchlief seinen Leib und die Glieder gerieten ins Zucken. Solche Anfälle hatte Mehmed beim schwarzen Eunuchen seines Harems gesehen, der an Fallsucht litt. Rasch zog er die Hände zurück, weil sich mit einem ohnmächtigen Großwesir nichts anfangen ließ. Zu spät! Kara Mustafa war bereits zusammen gesunken und General Bekir Mustafa stützte seinen Kopf.

Mehmed unterzog seine Hände einer intensiven Betrachtung. Unverändert sahen sie aus und besaßen doch die Gaben seines großen Vorfahren, Sultan Süleyman des Prächtigen, der ein Seher und Zauberer gewesen war. Seine Kraft wuchs, die seiner Gegner schwand. Das deutsche Kaiserlein war nach Westen geflüchtet, sein Heer und das der Bayern und Polen vernichtet. Deutschland bot sich ihm wie eine hitzige Stute dar, die genommen werden wollte!

„Sieh nur, Herr, was du mit ihm angestellt hast!“ jammerte der Janitscharengeneral. „Er atmet kaum!“

Mehmed überging gnädig den respektlosen Ton.

„Sieh nur wie er mit den Augen zwinkert! Der wird wieder!“

Und tatsächlich, ein paar Atemzüge später, richtete Kara Mustafa sich verwirrt auf. Dumm und hilflos wie ein Hühnchen in den Händen des Schlachters, sah er aus. Mehmeds Hand tastete nach dem Griff seines langen Messers. Was, wenn er Kara Mustafa die Kehle durchtrennte? Sein mächtiger Großwesir würde aufspringen, noch ein paar Schritte laufen und auf den Stufen zusammenbrechen. Würden die Hofleute jubeln? Viele hassten ihn, weil sie ihn fürchteten.

Musik vertrieb die blutige Phantasie. Seine Kapelle rückte an. Der klingelnde Schellenbaum des Mehterbaschi gab Trommlern, Paukern und Bläsern den Takt vor. Wer niemals eine Janitscharenkapelle in der Schlacht spielen gehört hatte, besaß keine Vorstellung von der Kraft ihrer Musik! Zum Klang der Instrumente gesellte sich rhythmischer Gesang, als die Kapelle sich vor der Tribüne aufstellte.

„Kommt, kommt ihr rechtgläubigen Krieger! Aus den Wäldern, aus den Steppen, aus den fruchtbaren Ebenen kommt! Die Berge hinunter steigt, über die Meere segelt! Schließt euch zusammen unter dem Banner des Padischah, unsres siegreichen Herrn!“

Begeistert hieb Mehmed seinen silbernen Streitkolben im Takt ins splitternde Holz der Tribüne. Nebenbei bemerkte er, dass sein Großwesir wieder aufrecht saß und die anrückenden Truppen musterte. Ihn redete er jetzt lieber nicht an! Kara Mustafa war nachtragend wie ein Kamel und die kleine Abreibung mochte ihn erzürnt haben. Die ersten vorbei paradierenden Soldaten waren Veteranen des letzten Feldzugs. Manche Gesichter erkannte Mehmed wieder. In den Hülsen ihrer Filzkappen steckten Federn und Verdienstabzeichen als Beweis ihrer Tapferkeit. Den alten Regimentern folgten neue in frischen Uniformen und nagelneuen Waffen. Mehmed wandte sich an den Janitscharengeneral.

„Sieh nur, welch prächtige Burschen wir da haben! Du achtest mir darauf, dass es ihnen an nichts mangelt! Füttere sie wie Ochsen, damit sie kräftig bleiben!“

„Ich werde sie bestens versorgen, hoher Herr!“ Der General teilte nicht die Begeisterung des Sultans für die Rekruten. Viele entstammten dem städtischen Gesindel. Aufsässigkeit und Mordlust standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Bis die Stöcke der Zuchtmeister ihnen Disziplin eingebläut hatten, würden Monde vergehen und bis dahin hieß es: Wehe der Stadt oder dem Marktflecken, der diesen Räubern und Mördern in die Hände fiel!

„Wo steckt eigentlich Kara Mehmed Pascha?“ fragte Mehmed. „Sag es mir, Bekir Mustafa!“

„In Buda, Herr.“

Wesir Kara Mehmed, Sieger über König Sobieski in der Schlacht bei Raab, war nach dem Tode von Wesir Ibrahim zum Statthalter der ungarisch-serbischen Provinz Budin erhoben worden und dort unabkömmlich, solange es Krieg mit dem Kaiser gab. Mehmed hätte dies eigentlich wissen sollen. Er hatte es selbst angeordnet.

„Und Abaza Hüseyin Pascha?“

„Weilt als Avusturyas Statthalter in Wien, großmächtiger Herr.“

„Das weiß ich doch! Ich möchte wissen, warum er nicht zum Kriegsrat erscheint. Und warum Kara Mehmed fehlt. Hat Kara Mustafa die beiden nicht her befohlen?“

Was für eine unsinnige Frage! Die Anreise war lang und beschwerlich, im Winter sogar abenteuerlich. Der alte Hüseyin hätte die Reise nicht lebend überstanden. Kara Mustafa, der mitgehört hatte, drehte sich zu Mehmed um.

„Sie sind zutiefst betrübt, dein strahlendes Antlitz nicht aus der Nähe sehen zu dürfen, siegreicher Herr. Doch ist der Feind auch im Winter nicht untätig und wer könnte besser deine neuen Ländereien schützen als diese beiden?“

„Zwei alte bequeme Esel sind das, die man bestrafen sollte!“ grummelte der Sultan. „Und sag mir bloß nicht, dass die Ungläubigen auch im Winter Krieg führen!“

„Das tun sie aber. Liebend gerne sogar. Sie spüren nicht die Kälte wie wir.“

Sultan Mehmed dachte an die Männer, die auf der letzten Treibjagd in den Bergen erfroren waren. Waren das nicht Christen gewesen?

„Wehe dir, wenn du mir Unsinn auftischt, schwarzer Mustafa!“

„Allah strafe mich mit den Qualen der Hölle, wenn ich das tue!“ antwortete der Großwesir, der seinen Herrn öfters belog, als ein Huhn Eier legte, ungerührt und war doch froh, als des Sultans Aufmerksamkeit sich den herangaloppierenden Bogenreitern zuwandte. An ihrer Bewaffnung und Taktik hatte sich in hunderten Jahren nichts verändert. Sie griffen blitzschnell an, schossen ihre Pfeile in vollem Galopp ab und zogen sich ebenso schnell wieder zurück. Ihre Treffsicherheit war groß. Binnen kurzem waren die aufgestellten Strohpuppen mit Pfeilen gespickt.

„Bei Allah, kein einziger Pfeil vorbei!“ jubelte Mehmed, der selbst geschickt mit dem Reflexbogen umging. Auf die leichte Reiterei folgten gepanzerte Sipahis (Lehensritter) und besoldete Gardereiter auf großen Streitrössern, anatolische und rumelische Artilleristen mit aufgepfropften Feldgeschützen und der Train der Kanoniere und Büchsenmeister in grünen Gewändern und Mützen. Den Schluss bildeten Pioniere und Versorgungstruppen.

„Ein unbezwingbares Heer, siegreicher Sultan“ fasste Hofmeister Yusuf Efendi, der eine Stufe unter den Wesiren saß und vom Militärischen so viel verstand, wie ein Schafhirte vom Fischen, schmeichlerisch zusammen. "Will der siegreiche Herr nun die Hinrichtungen befehlen?"

Mehmed, der am Ende einer Truppenschau stets die Henker in Aktion treten ließ, nickte huldvoll. Der Geruch von Blut sollte die Rekruten aufstacheln und ihm verschaffte es Vergnügen, christlichen Soldaten beim Sterben zuzusehen. Da in den letzten Wochen keine eingebracht worden waren, hatte man welche von den Galeeren geholt. Sie waren gewaschen, von Bart- und Kopfhaaren befreit und in frische Kleider gesteckt worden. Auch warme Mahlzeiten hatte man ihnen gegeben. Aber all diese Bemühungen hatten die ausgemergelten Gestalten nicht in die grimmigen Streiter zurückverwandelt, die sie vielleicht einmal gewesen waren. Apathisch schlurften sie in Ketten auf den mit Sand bestreuten Richtplatz und stellten sich stumm im Kreis auf. Keiner wehrte sich oder flehte um sein Leben. Mehmed fühlte sich um sein Vergnügen geprellt.

„Die Ungläubigen sollen zu ihrem Gott singen!“ befahl er. Das wenigstens mussten sie für ihn tun, bevor sie ihr miserables Leben aushauchten!

Viele, die dem Sultan dienten, hatten christliche Mütter. Des Sultans Befehl wurde sofort in mehreren Sprachen mit der Anmerkung weitergegeben, dass den Gefangenen mit dem Absingen eines Psalms oder Te Deums eine Gnade erwiesen werden sollte. Nur zaghaft öffneten sich die Münder, Mehmed hörte fast nichts.

"Sagt ihnen, sie werden ausgepeitscht, wenn sie nicht laut singen!“

Wieder wurde übersetzt. Der nun laute Gesang aus deutschen, ungarischen und polnischen Kehlen löste bei den Zuhörern Gelächter aus, weil die Töne nicht zusammenpassen wollten.

"Aufhören mit der Katzenmusik!" rief Mehmed erbost und zeigte auf einen Beliebigen. "Beginnt mit ihm!"

Das erste Opfer malte mit dem Fuß ein Kreuz in den Sand, bevor es niederkniete. Ein Scherge entblößte seinen Nacken, zwei hielten seine Arme gepackt, der Pfortenmarschall, der sich stets den ersten vorknöpfte, trat mit dem schweren Säbel hinter ihn, nahm kurz Maß und trennte mit einem sauberen Hieb den Kopf vom Rumpf. Den nächsten Delinquenten übernahm der Hauptmann der Garde und den dritten wieder der Marschall, weil es nicht viele gab, die sich vor den gestrengen Augen des Sultans an die Kunst des vollendeten Köpfens wagten. Drei weitere Exekutionen folgten, ohne dass ein Gefangener sich gesträubt oder um sein Leben gebettelt hätte. Mehmed wartete, bis der Marschall mit einem prächtigen Hieb sein viertes Opfer niedergestreckt hatte, dann befahl er abzubrechen. Genug Zeit mit diesen Memmen verplempert! Seine Stimmung war am Boden. Gereizt verscheuchte er den Leibprediger Vani Effendi, der zum Nachmittagsgebet rufen wollte. Mächtig legten sich die Hofleute ins Zeug, um die Laune ihres Herren gerade zu biegen. Hofmeister Yusuf Efendi fand die richtigen Worte: „Herr, diese Ungläubigen waren gelähmt von deiner Kraft und Herrlichkeit! Gelobt sei Allah, dass er dich mit solchen Gaben versehen hat!“

„Ja, bei Allah, so ist es!“ stimmte der Sultan zu. „Hast du alles bestens für den Kriegsrat vorbereitet, mein lieber Yusuf Efendi?“

„Jawohl, siegreicher Herr.“

„Dann steh nicht müßig herum! Lass meine Pauke schlagen und sieh zu, dass keiner trödelt!"

Rasch hatte Yusuf die Ratsmitglieder zum Defilee geordnet. Unter dem Gedröhn der großen Sultanspauke durchschritten sie paarweise die mannshohe Öffnung im Palisadenzaun der Zeltburg. Als sie bei den Rossschweifen vorbeigingen, entdeckte der Großwesir zwei Männer, die im Kriegsrat nichts verloren hatten. Er zog den vor ihm gehenden Hofmeister am Gürtel.

„Was haben der Tatar und der Ungar hier verloren?“

„Sie sind Gesandte am Hofe unseres Padischah“ erklärte der Hofmeister salbungsvoll.

„Dummkopf, das weiß ich auch!“ zischte Kara Mustafa. „Weshalb sie hier sind, will ich wissen!“

„Ihre Namen standen auf der Liste, die mir unser Herr zu überreichen geruhte, weiser Wesir.“

„Und du bist nicht zu mir gekommen und hast es gemeldet!“

Kara Mustafas Hand zog so fest an Yusufs Gürtel, dass er stehen bleiben musste.

„Unser erhabener Herr wollte es als Überraschung aufsparen."

"Nichtsnutziger!" zischte Kara Mustafa. „Du weißt, dass ich keine Überraschungen mag! Da auf dich kein Verlass ist, rechne ich dich ab heute zu meinen Feinden und du weißt, was das bedeutet!“

Yusuf erschauerte. Feinde Kara Mustafas verschwanden spurlos. Wie Wesir Ibrahim Pascha, Kaimakam (Stellvertreter des Großwesirs) Kemal Mustafa und Oberstallmeister Sary Süleyman. Zuletzt vor Wien gesehen und danach nie wieder. Yusuf konnte nur hoffen, dass die Sache mit der Drohung und ein paar festen Ohrfeigen abgetan sein würde.

„Nimm meine zerknirschte Entschuldigung entgegen, weiser Wesir. Ich bitte dich!“

„Winsele du nur fleißig!“ höhnte Kara Mustafa, „aber trage dein Gewinsel nicht zu unserem Herrn, weil ansonsten“ - die furchtbaren Augen stachen Yusuf wie Messerspitzen ins Gesicht - „Blut vergossen wird!“

Im Diwanzelt erwartete Yusuf weiteres Ungemach. Witzbolde unter den scherzhaft als Steigbügelagas bezeichneten minderen Mitgliedern des Kriegsrates hatten sich in die vorderen Reihen gesetzt, die den höchsten Offizieren, Beamten und Geistlichen zustanden. Unwirsch scheuchte Yusuf die Narren auf ihre angestammten Stehplätze zwischen den acht Säulen zurück, die das als Baldachin zugeschnittene Zeltdach trugen. Die Ordnung war hergestellt, als der Sultan würdevoll die Stufen zum Thron aus Ebenholz und Elfenbein erklomm. Sobald er sich gesetzt hatte, rief er den Vani Efendi nach vorne. „Beginne du!“

„Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“ begann der Imam seine Ansprache, die Zeilen aus dem Koran mit eigenen Worten verwebte.

„Lob sei Allah, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert! Allmächtiger Gott, Dich preisen wir und Dich bitten wir: Segne die Waffen des siegreichen Padischah, der unser geliebter Herr ist und als Dein Schatten auf Erden wandelt. Schütze ihn, der die heiligen Stätten des Islam beschützt und schenke ihm ein langes glückliches Leben!“

An dieser Stelle brachen die Anwesenden in blumige Lobpreisungen für den Sultan aus, die erst endeten, als Mehmed gebietend seinen Finger auf die Lippen legte.

„Allah, wir loben und wir preisen Dich!“ fuhr der Imam fort. „Stärke die Arme der Gläubigen, auf dass sie im Kampf gegen die Feinde unseres Glaubens nicht ermüden. Und ihr, die ihr hier versammelt seid: Tut, was der Koran befiehlt. Vernichtet die Ungläubigen! Tötet sie, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, umzingelt sie! Wenn sie sich aber bekehren und das Gebet verrichten, dann lasst sie ihrer Wege ziehen!“

„Allahu akbar!“ riefen alle wie aus einem Munde. Zum Ärger des Predigers erachtete Mehmed das Nachmittagsgebet nach der ´herrlichen Predigt` für überflüssig und verlangte nach Erfrischungen. Bei Gebäck, Kaffee und Rauchwerk kam eine gedämpfte Unterhaltung in Gang. Kara Mustafa schwatzte mit den Statthaltern der asiatischen Provinzen, als ihn Mehmed zu sich winkte.

„Allah, der Allmächtige, hat meinen Verstand erleuchtet, schwarzer Mustafa. Nicht du wirst den Kriegsrat leiten, sondern ich! Hörst du? Ich!“

„Ich höre, oh Herr und ich frohlocke“ antwortete der Wesir. „Aber ist es klug, dass ein Tatar und ein Ungar mithören?“

„Ich habe sie eingeladen.“

„Dann nenne mir bitte den Grund für die Einladung, weiser Herr, weil dein bescheidener Diener errät ihn nicht. “

„Mein Sohn Mustafa hat Gründe angegeben.“

„Wie aufmerksam von deinem ältesten Sohn – Allah schenke ihm ein langes glückliches Leben. Aber Vasallen haben beim Kriegsrat nichts verloren! Es genügt, dass du ihnen Befehle erteilst! Der Tatarenkhan wird mit seiner Streitmacht im Frühling wiederkommen, weil es ihn nach Beute gelüstet und das ungarische Königlein, weil es den Zorn des Kaisers fürchtet. Mehr braucht es nicht! Und bedenke den Schaden, wenn sie das Gehörte an unsere Feinde weitergeben! Ungarn und Tataren haben lose Zungen!“

Mehmeds Augen suchten die beiden Gesandten. Sie standen mit Yusuf Efendi und zwei Offizieren plaudernd in einer Zeltecke. Das erregte sein Misstrauen.

„Bei Allah, du hast Recht! Komplimentiere die Schwätzer hinaus, bevor die Beratung beginnt!“

Yusuf zuckte zusammen, als er den Großwesir auf sich zukommen sah. Kara Mustafa ignorierte ihn und pflanzte sich vor den Gesandten auf. „Der Sultan will euch verabschieden. Es war ein Versehen, dass ihr eingeladen wurdet!"

„Oh, wie bedauerlich“ sagte der Ungar in schlechtem Türkisch. „Wird die Gnade gewährt, den Mantel des Sultan küssen zu dürfen?“

„Sie wird“ antwortete Kara Mustafa knapp und die beiden machten sich auf den Weg.

Yusuf, der ihnen folgen wollte, wurde der Weg versperrt. Kara Mustafa wartete, bis der Sultan mit den Gesandten beschäftigt war, dann schlug er mit der flachen Hand zu. Obwohl Yusufs Wangen brannten, fühlte er sich erleichtert.

Mehmed hatte die Misshandlung seines obersten Hofmeisters nicht mitbekommen. Er nickte Kara Mustafa freundlich zu, als er bei seinen Füßen Platz nahm.

„Bevor wir beraten, soll gehört werden, was Kara Mustafa Pascha von den dunklen Machenschaften unserer Feinde weiß. Rede Großwesir!“

„Es scheint“ begann Kara Mustafa, „dass die kläglichen Niederlagen und der bittere Frost unsere Feinde gelähmt haben. Die Garnisonen von Raab (ungarisch: Györ) und Komorn (Grenzfestungen östlich von Wien, die noch dem Kaiser gehörten) unternehmen nichts und die kleine Streitmacht in Graz wärmt sich die Hintern am Feuer. Einzig am nördlichen Donauufer nahe bei Wien kommt es hin und wieder zu Gefechten. Dort befiehlt ein junger Capitan, der unserem Vasallen Imre Tököly Sorgen bereitet. Sobald der Schnee schmilzt, wird Kara Mehmed Pascha über die Donau gehen und dem Spuk ein Ende bereiten.“

„Und wo haust dieser schreckliche Capitan?“ unterbrach Ali Pascha.

In einem Städtchen an der ersten Donaubrücke nach Wien. Es trägt den wunderlichen Namen“ - Kara Mustafa verzog den Mund wie bei starken Zahnschmerzen - „Krems. Die Ungläubigen müssen aus Krems vertrieben werden!“

„Das hätte der Tatarenkhan schon im letzten Jahr tun sollen“ schimpfte Ali Pascha.

„Wahr sprichst du, Scheichsohn“ sagte Kara Mustafa, „deshalb hat er seinem tüchtigeren Sohn Platz gemacht.“ Jene, die wussten, wie es dabei zugegangen war, grinsten.

„Schreiben wir dieses Krems auf die Liste unserer Kriegsziele“ sagte der Sultan. „Was weißt du noch?“

„Dass es die christlichen Herrscher mit dem Kaiser halten und sich gegen unseren Verbündeten Ludwig XIV. von Frankreich stellen.“

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es vom englischen Gesandten und vom niederländischen. Beide haben das Gleiche gesagt, siegreicher Herr.“

„Gesandte lügen.“

„Sie lügen, weiser Sultan, wenn es ihnen zum politischen Vorteil gereicht. Doch in diesem Fall reden sie die Wahrheit. Der französische König steht alleine da und muss fürchten, dass der oberste Hüter der Ungläubigen, den sie Papst nennen, ihn verstößt.“

„Wie kann der ihn verstoßen?“

„Von der Prozedur verstehe ich nichts, Herr, aber es ist in der Vergangenheit geschehen.“

„Und wenn er vom Papst verstoßen wird, ist er kein Christ mehr? Und wenn er kein Christ ist, was ist er dann? Ein Gottloser?“

"Fragen wir Mavrocordatos" schlug Kara Mustafa vor. Mehmed winkte den griechischen Arzt, der dem Großwesir als Dolmetsch und diplomatischer Berater diente, nach vorne.

"Sag, kann der Papst einem Christen den Glauben verbieten?"

Bevor der Grieche antworten konnte, wurde er vom Vani Efendi, der das Wort Papst einmal zu viel gehört hatte, zur Seite gestoßen. „Er soll schweigen, Herr! Was kümmert uns der Irrgläubige in Rom? Allahs Zorn trifft jene, die sich mit Irrlehren beschäftigen!“

„Lass ihn reden, Prediger!“ gebot Mehmed, „die Sache macht mich neugierig. Rede Grieche!“

„Mächtiger Herr, diese Prozedur nennt sich Exkommunikation. Der Bestrafte bleibt durch die empfangene Taufe Christ, ist aber vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen, was bedeutet, er würde im Zustand der Sünde leben und sterben. Eine schreckliche Vorstellung für Christen.“

„Dann wird König Ludwig also dem Papst nachgeben und sich mit dem Kaiser gegen mich zusammenschließen?“ fragte der Sultan.

„Vielleicht“ antwortete Mavrocordatos. „Er könnte aber auch seine eigene Kirche gründen wie es vor lange Zeit ein englischer König getan hat.“

„Bei Allah, ich hoffe, das wird er tun!“

„Für König Ludwig steht noch ein weiterer Weg offen “ fuhr Mavrocordatos fort. „Er könnte die französischen Bischöfen einen Gegenpapst wählen lassen, der ihm gewogen ist. Auch das gab es bereits.“

„Und der jetzige Papst“ fragte der Janitscharengeneral.

„Würde auch im Amt bleiben. Es gäbe dann zwei Päpste.“

„Die sich bekriegen würden?“

„Ja, mit Worten.“

„Ha, bloß mit Worten, wollen sie sich bekriegen“ lachte der Sultan. „Was für Memmen! Ich werde ein Schreiben an meinen französischen Bruder aufsetzen lassen“ - der Sultan sprach nun in gönnerhaften Ton - „und ihm zum einzigen wahren Glauben raten. Er soll Muslim werden!“

Mavrocordatos und jene im Rat, die politisch und praktisch dachten, rissen erstaunt die Augen auf. „Als Muslim kann sich Ludwig über die Anfeindungen des Papstes hinwegsetzen“ dozierte Mehmed „Liebt er die Frauen, Mavrocordatos?“

„Nicht weniger als ihr, hoher Herr.“

"Aber er besitzt nur eine Gattin?"

"Besaß, erhabener Herr. Sie starb im letzten Sommer."

„Dann soll in dem Schreiben auch stehen, dass er fortan mehrere Gattinnen nehmen darf. Und weiter, dass ich ihm eine Teilung des Reiches der Deutschen vorschlage. So!" Wuchtig schlug der Sultan mit seinem silbernen Streitkolben auf ein abgestelltes Kaffeetablett, das in zwei Teile zersprang. "Ich nehme mir die östlichen Provinzen der Deutschen, er die im Westen, nach denen es ihn schon lange gelüstet! Bei Allah, so soll es geschehen!"

„Gott will es!“ rief Vani Efendi, „preiset unseren Sultan!“

Kara Mustafa, der die Außenpolitik des Reiches leitete, lief es kalt über den Rücken. Mit Frankreich bestand ein mündlicher und sehr geheimer Vertrag mit dem Inhalt, ihrem gemeinsamen Feind, dem Kaiser, zu schaden. Direkte Waffenhilfe war nicht vereinbart. Im Herbst war ein Schreiben Mehmeds, adressiert an ´den geliebten Bruder Ludwig, König in Frankreich` in Österreich abgefangen und in alle Welt hinausposaunt worden. Wegen der Indiskretion hatte sich der französische Botschafter bitter beklagt und Konsequenzen angedroht, falls die unerwünschte Korrespondenz sich wiederholte.

„Großwesir, Mustafa! “ rief Mehmed. „Wie viele Soldaten bringst du bis zum Frühjahr zusammen?“

„Einhunderttausend, oh Herr, so Allah will, hundertzwanzigtausend.“

„Zu wenige, zu wenige für meine Ziele! Zweihunderttausend sollen es sein!“

„Herr, dann muss Allah Goldstücke in die Kriegskasse regnen lassen!“

„Unsinn! Ich werde die Kriegskasse aus den Truhen meiner Schatzkammer füllen. Ich werde den Ungläubigen ihre Städte wegnehmen, ihre Schlösser, ihre Weiber und Kinder, wie es Allahs Wille ist!“

Eine Stunde später ging der Kriegsrat nach einer Brandrede des Sultans in euphorischer Stimmung zu Ende und Kara Mustafa zog sich mit Mavrocordatos, dem Janitscharengeneral, seinem Schwager Köprülü Mustafa, der zum vierten Wesir aufgestiegen war und Wesir Ali Pascha von Rumelien, der einem Rang über ihm stand, für eine Nachlese in sein Zelt zurück. Bedauerlicherweise nicht dabei: Sein verlässlicher Freund Kara Mehmed und der umtriebige Selim, ein venezianischer Überläufer, dem Allah den Verstand und die Einfallskraft von fünf Männern gegeben hatte. Selim hatte er zum Präfekt von Wien erhoben, was er nachträglich bedauerte.

Die vier, die mit ihm saßen, hatten die Verblüffung über die Ankündigung des Sultans, hunderttausend Soldaten aus seinem Privatschatz zu bezahlen, noch nicht abgelegt. Sultan Mehmed war immer für eine Überraschung gut, dass der notorische Geizkragen aber sein Privatvermögen opferte, überstieg alle Erwartungen. Und so wurde die Frage - „glaubst du wirklich, er tut es?“ - mehrmals gestellt, ohne dass die fünf zu einer anderen Antwort als - "er wird es tun, wenn es Allahs Wille ist" - gekommen wären. Kara Mustafa hätte das zusätzliche Geld gerne für die Erneuerung der Kriegsflotte verwendet. Die alte dümpelte vermorscht in diversen Häfen und konnte einer modernen christlichen Flotte nicht Paroli bieten. Die Venezianer verhielten sich feindselig, obwohl ihnen die Rückgabe einiger ägäischer Inseln im Austausch gegen eine Handvoll Kriegs- und Transportschiffe in Aussicht gestellt worden war. Schiffe brauchte das Reich dringender als Brot.

„Nun, Bekir Mustafa, was weißt du zu sagen?" wandte Kara Mustafa sich an den Janitscharengeneral.

"Dass wir auf die Bündnistreue der Franzosen nicht bauen dürfen, weiser Wesir, dass wir aber andererseits mit zweihunderttausend Soldaten die Franzosen gar nicht brauchen, um uns den Westen zu unterwerfen."

Der Großwesir nickte nachdenklich. "Und wie sollen wir vorgehen?“

„Als erstes müssen die Kaiserlichen aus Raab und Komorn vertrieben werden! Das wird hart, aber fünfzigtausend sollten reichen. Das Hauptheer kann gegen die Länder vorgehen, die bei den Deutschen Bavaria (Bayern)und Bohemia (Böhmen) heißen.“

„Und an Venedig denkst du nicht?“

"Allah wird unsren Verstand leiten, sobald Raab und Komorn erobert sind. Das sind zwei harte Brocken."

„Sagtest du schon. Was meinst du, Ali Pascha?“

"Venedig liegt abseits des deutschen Kriegsschauplatzes! Mache Wien zum Ausgangspunkt deiner Feldzüge!“ sagte der vierte Wesir, „und tue es rasch! Bring alles was du für die Feldzüge brauchst von Belgrad die Donau aufwärts. Beginne damit, sobald der Fluss befahrbar ist."

"Gut gesprochen, Ali. Und was rätst du, Mavrocordatos? Du schaust drein, als wäre deine Mutter verstorben!"

Das Gesicht des friedliebenden und stets vorsichtigen Dolmetsch trug wie immer, wenn über Kriegspläne geredet wurde, einen sauertöpfischen Ausdruck. Seiner Meinung nach hatte das Reich seine natürlichen Ressourcen aufgebraucht und durfte nicht noch größer werden. Dass es noch existierte, verdankte es der Schwäche seiner Feinde und der Willfährigkeit seiner Vasallen, die es wie ein Moloch auszehrte, bis die sich eines Tages gemeinsam gegen ihre Peiniger erhoben! Aber wie wollte man siegestrunkenen Türken klar machen, dass die Gefahr mit jeder Eroberung stieg?

"Ich stimme dem General und dem Statthalter von Rumelien zu, weiser Wesir. Erst müssen die Festungen des Kaisers östlich von Wien fallen, bevor du dich in neue Abenteuer stürzt! Und habe Acht, dass sich die Kaiserlichen Wien nicht zurückholen, bevor der Winter zu Ende ist."

"Wie ein ängstliches Weib redest du, Grieche!" rügte der Wesir. " Es ist unsinnig eine Stadt im Winter zu belagern!“

Mavrocordatos zuckte mit den Schultern. "Vom Krieg verstehst du mehr als ich, siegreicher Wesir. Mir kam nur der Gedanke, dass es gerade deswegen versucht werden könnte, weil es unmöglich erscheint. Credo quia absurdum est.“

„Weißt du keinen besseren Rat, Mavros? Soll ich dem Kaiser Wien zurückgeben und ihn um Vergebung bitten?“

Mavrocordatos ignorierte den Sarkasmus. „Jedenfalls würde ich keinen Piaster auf die Franzosen setzen, weiser Wesir. König und Kaiser sind Glaubensbrüder. Und über ihre Mütter verwandt. Eine Aussöhnung ist nicht ausgeschlossen und dann stehen einhundert und fünfzigtausend französische Soldaten gegen uns.“

„Einhundert und fünfzigtausend“ sinnierte Ali Pascha. „Allah möge verhindern, dass es dazu kommt!“

„Nun lass dich nicht vom Gejammer des Griechen anstecken, Ali!“ rügte Kara Mustafa. Gehen wir davon aus, dass der Sultan sein Versprechen hält und im Sommer ein zweites Heer nachrückt. Der Sultan verlangt eine schöne reiche Stadt für sein Gold. Welche wollen wir ihm geben?“

„Prag würde ihm gefallen“ sagte Köprülü Mustafa , der wie viele andere seit Wochen die Landkarten studierte. „Die Stadt ist ein Bollwerk gegen Norden und Westen und im Vogelflug von Wien nicht weiter entfernt als Buda. Bei Bedarf können wir die Heere zusammenlegen.“

„Gut gesprochen, Schwager! Arbeite einen Plan aus! Suche nach Männern, denen Stadt und Umland vertraut sind! Aber was ist mit Venedig? Venedig ist stark zur See und schwach zu Lande. Sollen wir es nicht am Landweg angreifen?“

„Hat dir das der kleine venezianische Renegat ins Ohr geflüstert?“ fragte Bekir Mustafa. „Dieser Selim, der seine alte Heimat so hasst?“

„Die Venezianer wollen keinen Krieg“ unterbrach Mavrocordatos. „Sie würden einen hohen Tribut zahlen, wenn man sie in Ruhe lässt. Nimm ihr Geld und du ersparst dir einen Kriegszug mit ungewissem Ausgang.“

„Ich will nicht ihr Geld, ich will ihre Schiffe!“

Kara Mustafa stand auf und streckte sich wie ein Kater. „Prag oder Venedig also. Falls der Sultan Wort hält. Allah möge uns viele Siege schenken! Ihr seid entlassen!“

Die Stadt des Kaisers

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