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1. Entführt

Meine erste Entführung war ganz anders als die zweite. Bei beiden hatte ich Angst, aber es ist die erste, die mich bis heute in meinen Albträumen verfolgt – vielleicht weil ich damals erst vier Jahre alt war. Oder weil ich zum ersten Mal in meinem jungen Leben (noch bevor ich gelernt hatte, mir richtig die Schuhe zuzubinden) erkannte, dass das Leben gefährlich sein kann. Wahrscheinlich aber vor allem deswegen, weil der Entführer mein eigener Vater war.

Der Tag, als es passierte, war so heiß, dass ich Angst hatte, die Sonne würde die Erde aufsaugen. Der Sommer hatte alles erobert: den ausgetrockneten Boden, den leeren Himmel und alles, was dazwischen war. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, nach draußen zu gehen.

„Nomi!“, zischte Ami, meine Mutter. „Zieh dir die Schuhe an, mach schon!“ Gewöhnlich machte sie mir mit sanfter Stimme Mut, während ich mich mit den Schuhbändern abmühte; manchmal führte sie sogar einen kleinen Freudentanz mit mir auf, wenn mir das schwierige Werk endlich gelungen war. So war sie immer zu mir – freundlich, geduldig und lustig, irgendwo zwischen einer Mutter und einer großen Schwester. Nie hatte ich auch nur die Spur eines Zweifels daran, dass sie mich zutiefst liebte.

Aber jetzt war sie anders als sonst. Ihre Stimme klang gepresst und sie stand nicht geduldig neben mir, sondern lief hektisch durch das Haus, von einem Zimmer ins andere, während sie Zainab zurief, Misim zu holen, der damals noch ein kleines Baby war, und zu uns zu kommen. Selbst mit meinen vier Jahren spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

Ich erinnere mich an die dünnen, grellen Rufe meiner Schwester nach unserer Mutter. An Amis ungeduldige Antworten und an mein eigenes unwilliges Stöhnen über die blöden Schuhe, die nicht so wollten wie ich. Und an ein drittes Geräusch – eine tiefe, zornige Stimme, wie das Grollen eines Steinschlags. Die Stimme meines Vaters. Nein, nicht meines Stiefvaters, Baba-jan, sondern meines leiblichen Vaters. Er war ein furchtbarer Mann.

Jetzt fing er an zu schreien und zu brüllen. Dann stand Ami wieder vor mir. „Dschaldi, dschaldi!“ („Beeil dich!“) Dann war sie wieder weg, und ich nahm den Kampf mit den Schuhbändern wieder auf. Umsonst. Die Hitze war zu stark und ich wollte am liebsten schlafen, aber ich wusste: Ich musste die Schuhe zubinden. Schließlich nahm ich sie in die Hand und lief mit ihnen nach draußen. Wo war meine Mutter?

Das Schreien kam aus dem Hof. Ich hatte das Gefühl, als ob die Sonne mein Augeninneres nach außen drehte. Ich kniff sie zusammen. Da war er. Der schwarze Schatten dahinten war mein Vater und hinter ihm stand eine kleine Menschenmenge. Mit der einen Hand hatte er Ami an der Kehle gepackt und stieß sie gegen eine Wand, mit der anderen, freien Hand schlug er sie, jeden Hieb mit einem Schrei begleitend. Die Zuschauer johlten und grölten. Es werden nur etwa fünfzehn gewesen sein, aber für meine Ohren klangen sie wie eine ganze Armee.

Die Hitze sog mir die Spucke aus dem Mund und die Luft aus der Lunge, aber irgendwie gelang es mir zu schreien. Es war wohl dieser Schrei, der die Faust meines Vaters stoppte. Meine Mutter nutzte dieses Zögern, um sich aus dem Eisengriff meinen Vaters herauszuwinden, zu mir zu rennen, mich auf die Arme zu nehmen und mit mir weiterzurennen. Ich weiß noch, dass es mir wie Fliegen vorkam und dass ich das mochte.

Erst als wir durch das Tor an der Hinterseite unseres Hauses hindurch waren, setzte meine Mutter mich wieder ab. Vor uns waren rechts und links bewässerte Felder und dazwischen ein schmaler Weg auf einer Art Damm. „Renn!“ Ami sauste los, Misim in ihren Armen, Zainab an ihrer Seite. Die Hitze des Bodens und die Angst davor, von dem schmalen Weg ins Wasser zu fallen, waren wie Bremsklötze an meinen Beinen. Von hinten kam das Schreien meines Vaters, wie das Brummen eines Bären, der seine Beute verfolgt. Wilde Flüche gegen meine Mutter, immer lauter. Ich stolperte, meine Hände schrammten über einen sonnenheißen Stein. Ich stolperte wieder; diesmal sah ich, wie Blut aus meinem Handteller quoll. Beim dritten Stolpern verlor ich meine Schuhe. Ich drehte mich um, um sie aufzuheben, und sah die wilde Jagd hinter mir, an der Spitze mein Vater. Ich drehte mich wieder zurück; Ami hatte angehalten und rief: „Lass ihn in Ruhe! Lass ihn in Ruhe!“

Dann flog ich wieder. Meine Beine hatten den Boden verlassen. Mit einer Hand presste mich mein Vater an seine Seite. Er roch komisch. Dann eine Fahrt in einem fremden Auto und ein Haus, in dem ich noch nie gewesen war. Ein Zimmer mit einer Tür, deren Klinke zu hoch für mich war. Ich erinnere mich, dass ich Hunger und Durst hatte und mich fragte, warum keiner kam, wenn ich rief. Irgendwann Stille. Ich schlief auf einem der dunklen Teppiche ein, die auf dem Fußboden lagen und nach Staub und Hund rochen.

Ich weiß nicht, wie viele Tage ich in diesem Zimmer gefangen war, aber ich weiß, dass es mir gar nicht gut ging, als ich endlich befreit wurde. Es war mein Onkel, Amis Bruder, der mich fand. Er war Polizeibeamter in Lahore und hatte damit sowohl die nötigen Beziehungen als auch die Amtsautorität, um die Pläne meines Vaters zunichtezumachen. Doch selbst er war schockiert darüber, in was für einem Zustand ich war. Er berichtete, dass ich verweint und ganz durcheinander war in diesem Zimmer und dass meine Hosen klatschnass und schwer waren und so stanken, dass ihm fast übel wurde.

Nachdem mein Vater mich entführt hatte, tat Ami etwas, was eine Frau in Pakistan einfach nicht tut: Sie reichte die Scheidung ein. In Pakistan hat eine Ehefrau dort zu bleiben, wohin sie durch ihre Heirat gekommen ist: unter der Auto­rität ihres Mannes und seiner Familie. Was ihr Mann tut, hat sie nicht zu hinterfragen, seine Schläge hat sie geduldig zu ertragen. Sie ist sein Privatbesitz, mit dem er machen kann, was er will.

Der Versuch, aus der Ehe mit einem gewalttätigen Mann auszubrechen, kann die Frau teuer zu stehen kommen. Oft wird die Gewalt noch schlimmer; selbst Morde sind nicht selten. Und für die paar Glücklichen, denen die Scheidung gelingt, ist die Gefahr noch lange nicht vorbei. In Pakistan ist eine alleinstehende Frau ungefähr das Schutzloseste, was es gibt – vor allem dann, wenn sie selber an ihrem Ledigsein „schuld“ ist.

Jahre später hat Ami mir erzählt, dass sie sich die Entscheidung, sich von meinem Vater scheiden zu lassen, nicht leicht gemacht hatte. In ihrer Familie erwartete man von einem Ehemann mehr als Schimpfen und Schläge. Wie andere ­Sayed-Frauen auch, war meine Mutter eine Frau von Format und im Wohlstand aufgewachsen. Aber nicht nur im Wohlstand; sie hatte eine Erziehung und Bildung genossen, die sie erwarten ließ, dass die Menschen sie mit Respekt behandelten, auch wenn sie eine Frau war. Leider erwies ihre Herkunft sich als zweischneidiges Schwert, denn für ihre Familie kam für sie nur ein Ehemann von ähnlicher sozialer Stellung in Frage – ein Schah. Dass sie einen anderen Mann liebte, spielte keine Rolle; ihr Vater suchte ihren Ehemann aus und der Entscheidung des Vaters fügte man sich.

Kurz gesagt: Mein Vater hatte zwar den richtigen Namen, aber nicht den richtigen Charakter. Schon bald kam seine hasserfüllte, gewalttätige Art zum Vorschein. Mehrere Jahre ertrug meine Mutter seine Schläge und Drohungen, aber als sie merkte, dass mein Vater begann, mich, seinen ältesten Sohn, als Schachfigur für seine Intrigen zu benutzen, musste sie handeln.

Als mein Onkel mich befreit und Ami die Scheidung eingereicht hatte, zog sie mit Zainab, Misim und mir zu unserer Großmutter, die am Rande einer mehrere Autostunden entfernten Kleinstadt wohnte. Hier war ich glücklich. Das flache Land erstreckte sich bis zum Horizont und ich spielte zwischen den Tieren, die auf der Suche nach Essbarem über die Straßen und Wiesen wanderten. Ich lernte, direkt von der Kuh Milch zu trinken und mich in Sicherheit zu bringen, wenn ich einer Schlange begegnete. Ich merkte, dass es einfach war, eine Herde Ziegen oder Schafe dorthin zu treiben, wo ich sie haben wollte, aber dass es gar keine gute Idee war, ein Rudel Hunde in den Garten zu lassen.

Ich war ein Kind, das nie still sitzen konnte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen wir zu einer Hochzeit in der Familie oder zu einem anderen gesellschaftlichen Ereignis eingeladen waren, waren für meine Mutter jedes Mal eine Gedulds­probe, denn ich wollte mich partout nicht fein machen lassen. Das erste Problem war, mich – meist mit einer Mischung aus Bestechungen und Drohungen – überhaupt ins Haus zu bekommen. Als Nächstes musste meine Mutter mich dazu bringen, ein schönes, sauberes Salwar kamiz (langes Hemd mit Pluderhose, d. Übers.) anzuziehen. Ich zappelte und wand mich nach Kräften, um der Sträflingskleidung, wie ich sie empfand, zu entgehen. Ami gewann natürlich jedes Mal, worauf sie, die Arme zu einer Siegesgeste gekreuzt, einen Schritt zurück machte und sagte: „Und jetzt bleibst du hier auf dem Bett und rührst dich nicht vom Fleck, während ich Misim fertig mache.“ Kaum hatte sie mir den Rücken gedreht, war ich wieder draußen und sprang triumphierend in die nächste Pfütze oder warf junge Hühner in die Luft.

Ami fand schließlich, dass es besser für uns beide war, wenn sie meine Zähmung jemand anderem übertrug, und so kam eines Tages Schazi in unser Haus; ich war ganze sechs Jahre alt. Schazi war ungefähr fünf Jahre älter als ich und hatte dafür zu sorgen, dass ich nicht zu viel anstellte. Aber sie hatte keine Chance gegen mich. Schazi konnte ich noch leichter entkommen als Ami. Wenn ich nach draußen wollte, machte ich das – basta.

Die Welt außerhalb der Mauern von Großmutters Haus zog mich magisch an, und mit jedem Jahr, das ich älter wurde, wuchs meine Neugier weiter. Hinter dem halb verrosteten Metalltor vor unserem Grundstück konnte man so viele verschiedene Leute kennenlernen – die Schäfer, die Lebensmittelverkäufer und die Männer, die draußen an der Straße Autos, Lastwagen und Motorräder reparierten. Aber mein Liebling war der junge Limonadenverkäufer. Er war zu arm, um sich gute Kleidung leisten zu können, und das Erste, was mir an ihm auffiel, war sein verkrüppeltes Bein. Es war dünner als das andere, und wenn er durch die Gegend humpelte, hing es schlaff neben dem Holzstück herunter, das er als Krücke benutzte. Aber er war jeden Tag da. Er saß unter dem Schatten des Mandarinenbaums, vor ihm, in Reih und Glied, seine angestaubten Limonadenflaschen.

Zuerst beobachtete ich ihn stumm. Er war immer fröhlich, egal wie viele Limonaden er an einem Tag verkaufte. Bald setzte ich mich zu ihm auf den Boden. Wir redeten nicht viel miteinander. Seine Zufriedenheit war ansteckend und ich genoss es, einfach neben ihm zu sitzen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Hin und wieder kam jemand und kaufte ihm eine Flasche ab; dann sprang ich jedes Mal auf, um zu prüfen, ob die Transaktion auch richtig vonstattenging; wahrscheinlich wollte ich den armen Mann beschützen.

Was auch immer meine Motive waren, meiner Mutter war mein neuer Freund nicht geheuer. „Warum setzt du dich zu diesem Mann, Nomi?“, fragte sie mich eines Tages, als ich nach Hause kam.

Es war eine Frage, auf die ich nicht vorbereitet war und die ich mir selbst noch nie gestellt hatte. Ich saß halt gerne bei dem Limonadenverkäufer, das war alles.

Ami bohrte weiter: „Möchtest du so werden wie er, wenn du groß bist?“

Diese Frage fand ich leichter zu beantworten. Ich sah Ami fest an und sagte laut: „Ja!“ Dieser Mann war ganz offenbar glücklich und was konnte falsch daran sein, glücklich werden zu wollen?

„Nein!“, erwiderte Ami. Sie schlug mich auf den Kopf – schnell, aber nicht fest. „Du wirst lernen und fleißig arbeiten und es im Leben zu etwas bringen. Du bist ein Schah und ein Sayed. Du hast Talente, Nomi; vergeude sie nicht!“

Ich hatte keine großen Ambitionen für das Leben, aber dass ich Talente hatte, stimmte – vor allem das Talent, Unfug zu machen.

Damals war in den ländlichen Gebieten Pakistans die Stromversorgung besonders schlecht, und meistens wurde der Strom von spätabends bis frühmorgens abgeschaltet. Was mir gerade recht war, bedeutete es doch: Wenn es draußen endlich etwas kühler war, konnte ich dort im Stockdunkeln spielen – die ideale Voraussetzung für mein Lieblingsspiel. Ich schlich mich durch die Tore der Nachbarhäuser, ging auf Zehenspitzen zur jeweiligen Haustür, drückte die Klingel (die ja ohne Strom nicht ging) und klebte ihn in dieser Stellung fest. Wenn dann ein paar Stunden später der Strom wiederkam, wurden die Bewohner besagter Häuser vom pausenlosen Klingeln ihrer Türglocke aus dem Schlaf geschreckt. Manchmal blieb ich sogar wach auf meinem Bett liegen, bis das Spektakel losging, worauf ich mir in meinen noch nicht vorhandenen Bart grinste.

Am Tag konnte die Hitze über 40 Grad erreichen, aber wenn ich nicht in der Schule war, befolgte ich nur selten Amis Rat, nach drinnen in den Schatten zu kommen. Meine Freunde und ich waren lieber auf dem flachen Dach. Von dort aus konnte man die ganze Stadt überblicken. Und die Drachen beobachten.

Drachen steigen lassen ist in Pakistan ein Volkssport. In Europa kämpfen die Jungen beim Fußball oder bei Computerspielen gegeneinander, in den USA beim Basketball; in Pakistan kämpfen sie mit ihren Drachen. Drachen steigen lassen, das war mehr als ein angenehmer Zeitvertreib; es ging um Ruhm und Ehre, um den süßen Geschmack des Sieges. Wenn es keinen Regen und genügend Wind gab, schien der ganze Himmel voller Drachen zu sein. Sobald es windig wurde, bettelte ich meine Mutter um ein oder zwei Rupien an und fragte, ob ich den Mann in seinem Haus an der großen Straße besuchen durfte, die aus dem Ort hinausführte. Wie jeder schiitische Haushalt hatte auch er ein Bhetak, also eine „gute Stube“ an der Vorderfront oder Seite des Hauses, wo man Gäste, die nicht zur Familie gehörten, bewirten konnte, ohne die Ehre der Frauen und Mädchen in der eigentlichen Wohnung in Gefahr zu bringen. Das Bhetak dieses Mannes bot nicht nur die allerbesten Möbel (schwere Sofas und Charpai-Betten für Übernachtungsgäste), sondern war auch ein Drachenlager. Er bastelte die Drachen selbst, und wenn man Glück hatte, durfte man ihm zuschauen, wie er im Schneidersitz auf dem Boden saß und so schnell und geschickt falzte und klebte und Papier und Holz verband, dass seine Hände dabei zu verschwimmen schienen.

Mit meinem neuen Drachen unter dem Arm und Misim und ein, zwei Freunden im Schlepptau trabte ich zurück nach Hause und postierte mich auf unserm Dach, fertig zum Kampf. Wir alle wussten, wie das ging – der Drachenkampf. Die Technik ist leicht zu begreifen, aber schwer zu meistern. Hat man einen geeigneten Gegnerdrachen ausgemacht, manövriert man den eigenen Drachen in seine Nähe. Mit genau dem richtigen Tempo und dem richtigen Winkel führt man darauf das eigene Drachenseil so gegen das des Gegners, dass dieses reißt oder sich verheddert, worauf der Drachen abstürzt. Der Drachen, der zum Schluss als Einziger noch am Himmel ist, ist der Sieger.

Meistens schlug ich mich ganz gut – so lange die anderen Jungen die gleiche Drachenschnur benutzten wie ich. Die Sache war anders, wenn jemand einen Drachen hatte, dessen Schnur mit angeklebten Glassplittern versehen war. Gegen solche Schnüre, die man in Lahore für fünfzig Rupien bekam, hatte ich keine Chance.

Jeden Tag, an dem ich konnte, stieg ich auf unser Dach, um Drachen steigen zu lassen. Und wenn ich keinen Drachen und kein Geld hatte, schaute ich den anderen Jungen zu, die ihre Drachen steigen ließen. Wer wusste, vielleicht landete ja ein „abgeschossener“ Drachen in meiner Nähe; und selbst wenn dies nicht passierte, war der Tanz der bunten Dreiecke am Himmel genug Abwechslung für ein, zwei glückliche Stunden.

Es dauerte ein paar Jahre, bis Amis Scheidung durch war. Als sie das letzte Mal vor das Gericht geladen wurde, war ich alt genug, um mitzugehen und wenigstens etwas von dem zu verstehen, was hier verhandelt wurde. Sie hatte mich oft zu Terminen bei ihrem Rechtsanwalt mitgenommen. Ich mochte es, dass sie mich an ihrer Seite haben wollte. Als ihr ältester Sohn hatte ich ja eine gewisse Verantwortung, und auch wenn ich erst zehn war, hatte ich keine Angst davor, jetzt meinem Vater gegenüberzutreten.

In den Jahren, in denen wir bei meiner Großmutter wohnten, war ich Amis Vertrauter geworden. Sie hatte mir erzählt, wie ihr Leben gewesen war, bevor ich zur Welt kam. Mit ganzen achtzehn Jahren hatte sie meinen Vater heiraten müssen, und nicht nur er hatte sie geschlagen, sondern auch seine Brüder. Ich wurde richtig wütend, als ich das hörte, und alle meine Beschützerinstinkte erwachten, aber ich spürte, dass an Rache nicht zu denken war. Irgendwie war es dasselbe wie bei den Drachen: Ami war (wie alle Frauen in Pakistan) ein Ein-Rupien-Drache in einem Himmel voller Männer, die sie mit ihren Fünfzig-Rupien-Schnüren zum Absturz bringen konnten. Ich war wütend auf meinen Vater, aber vor allem war ich froh, dass wir ihn los waren.

Und so nickte ich nur höflich, als wir beim Gericht ankamen und ich meinen Vater zum ersten Mal seit fünf Jahren sah. Ich musterte den Raum mit seinen schmutzigen Fenstern, den dunklen Holztischen vor dem Richter und den großen, surrenden Deckenventilatoren. Während meine Gedanken zu meinem Vater wanderten, hörte ich dem Richter nur halb zu. Wie fühlte mein Vater sich? War er traurig über die Trennung von seiner Frau? Vermisste er seine Kinder? Tat es ihm leid, dass es so weit gekommen war?

Ich brauchte nicht lange auf die Antwort zu warten. Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum, als habe jemand die Ventilatoren abgeschaltet. Aller Augen richteten sich auf meinen Vater, als der Richter ihn ansah und sagte: „Und Sie verzichten also auf jegliche Besuchsrechte bei Ihren beiden Söhnen und Ihrer Tochter, wenn Sie im Gegenzug das alleinige Besitzrecht an dem Haus in Rawalpindi bekommen. Sehe ich das richtig?“

„Ja, das ist korrekt, Euer Ehren.“

Ich schaute meinen Vater an. Er war viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein Schnurrbart sah lächerlich aus, viel zu klein für jemanden, der so dünn war. Vom Alter her sah er eher wie ein Großvater als wie ein Vater aus. Das Haus war ihm also wichtiger als seine Kinder; auch wenn ich sowieso nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte – das tat weh.

Der Richter dozierte weiter. Irgendwann flüsterte Ami mir zu, dass man sich geeinigt hatte und die Scheidung jetzt offiziell war. Im gleichen Augenblick räusperte sich mein Vater und sagte: „Euer Ehren, erlauben Sie mir ein Erinnerungsfoto mit meinen Kindern?“

Der Richter sah verdutzt aus, aber gewährte die Bitte. Sekunden später stand ich vorne im Gerichtssaal neben meinem in der Mittagshitze schwitzenden Vater. „Ich bin dein Papa“, tönte er, während er sich für das Bild kämmte. „Ich werde dich jeden Tag besuchen.“ Ich wusste – oder hoffte –, dass er nur eine Schau abzog, als er das sagte. Mir schien, dass er versuchte, sich größer zu machen, als er war. Ich hatte ihn schon fast eingeholt und ich wusste, dass ich bald größer sein würde als er.

Der Preis meines Glaubens

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