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Оглавление3. Baba-jan
Es war einer jener Tage, an denen man morgens aufwacht, die Träume wegräkelt, aufsteht, aus dem Schlafzimmer geht – und merkt, dass die Welt sich über Nacht verändert hat.
Zwei Monate zuvor waren Ami, Misim, Zainab und ich umgezogen, von dem Haus meiner Großmutter in der verschlafenen Kleinstadt in ein neues Haus in der quirligen Metropole Lahore. Es war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts für mich – eines Abschnitts, der mir wie ein Traum- und Schlaraffenland vorkam.
Da war einmal das neue Haus. Es war ein Palast, wahrscheinlich das größte Gebäude im ganzen Viertel. Nagelneu war es auch; als wir ankamen, waren die Handwerker noch nicht ganz fertig. Mehrere Male mussten wir in andere Zimmer umziehen, damit die kleine Armee der Installateure, Stuckateure und Maler ihr Werk vollenden konnte. Ami hatte sich für ein sage und schreibe Vierzehn-Zimmer-Haus entschieden. In den ersten Tagen passierte es mir immer wieder, dass ich mich buchstäblich verlief und denselben Weg noch einmal zurückgehen musste, um mein Ziel zu erreichen.
Mit meinen zwölf Jahren fragte ich mich nicht groß, warum meine Mutter ein so großes Haus hatte bauen lassen. Auch ahnte ich nicht, dass der Grund für unseren Umzug etwas anderes war als nur der Wunsch, mehr Platz für uns drei Kinder zu haben. Ich merkte einfach, wie mir, als ich mich endlich in ihm zurechtfand, das Haus ans Herz wuchs. Es faszinierte mich, wie abends, wenn es dunkel geworden war, der Innenhof im Schein der farbigen Lichter leuchtete. Stundenlang (so kam es mir jedenfalls vor) betrachtete ich das helle Grün und tiefe Rot, das sich über die breitblättrigen Pflanzen und schlangenähnlichen Ranken ergoss, die Ami von weither hatte holen lassen. Es gab mehrere Brunnen, deren Murmeln durch die Fenster an der einen Hausseite drang, und das größte Bhetak, das ich je gesehen hatte – eine gute Stube für Gäste, die so groß war, dass über der riesigen Sitzecke nicht weniger als achtzehn Deckenventilatoren schwebten.
Das Haus war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, in der vorne ein hohes doppelflügeliges Metalltor in einen großen Hof führte, während an der Rückseite ein kleineres Tor auf ein Stück Ödland ging. Ich schlüpfte gerne heimlich durch dieses Tor zu den Tieren, die Unkraut und Blätter von den Sträuchern fraßen. Diese Kühe, Ziegen und Hühner gehörten unseren Nachbarn, aber ich tat gerne so, als gehörten sie mir.
Was mir an jenem Morgen, als ich, noch halb verschlafen, über den gefliesten Boden trottete und die große Treppe nach unten stieg, so komisch vorkam, waren die Geräusche im Haus. Es war nicht das vertraute Hämmern und Bohren in irgendeinem der weiter entfernten Zimmer, sondern das Lachen und Tratschen von Frauen. Vielen Frauen. Ich setzte mich auf eine der untersten Treppenstufen und wartete. Was ging hier vor?
Zainab kam die Treppe heruntergerannt. „Was machst du denn hier?“
„Ich lausche. Da ist irgendwas los.“
Zainab lachte. „Natürlich ist da was los. Heute ist Amis Hochzeit!“
Erst verstand ich nicht, was sie meinte, dann fiel der Groschen. „Hochzeit? Und wen heiratet sie?“
Diesmal lachte Zainab nicht, sondern sah mich fest an. „Muzafa Schah.“ Sie sagte es so langsam und deutlich, als ob sie mit meinem kleinen Bruder sprach.
Der Name war mir nicht unbekannt. Klar, den Mann kannte ich. Gut sogar. Muzafa Schah war der groß gewachsene Rechtsanwalt mit den europäischen Anzügen und dem dichten schwarzen Haar, der Ami geholfen hatte, ihre Scheidung zu bekommen. Ich hatte oft neben Ami in seinem Büro gesessen und er war immer hilfsbereit und freundlich gewesen. Aber ich verspürte keine große Freude bei der Nachricht; dazu war ich zu überrascht.
Erst mal stand ich auf und folgte Zainab, den Flur entlang und in die Küche. Dort waren wohl an die dreißig Frauen bei der Arbeit und das Geschnatter nahm mir fast die Luft weg. Wo war Ami? Ich ging weiter, in den großen Raum mit den achtzehn Ventilatoren. Dort waren an der Längswand lauter Tische aufgestellt, auf denen ein riesiges Büfett aufgebaut war. Ich starrte ungläubig die Spezialitäten an. Da waren ganze Platten mit Teigbällchen in Zuckersirup, Würfel aus Mango, Kokosmus und Pistazien und Eiscreme. Es gab gefüllte Teigtaschen und ein Reisgericht.
Ich schaute kurz um mich. Niemand zu sehen. Da griff ich eine Handvoll der Leckereien und schob sie mir in den Mund. Im nächsten Augenblick spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
Es war Ami. Sie trug ein rotes Salwar kamiz und ein Dupatta, einen langen Schal, der das Licht einfing, wenn sie ging. Ich staunte, wie schön sie war. Ihr Glück schmückte sie. „Nomi“, sagte sie lächelnd, „du erinnerst dich doch an Mr Schah, oder?“
Ein bekanntes Gesicht erschien neben dem ihren. Er trug Weiß, wie jeder Bräutigam. Ich sah, wie perfekt seine Kleidung war. Feinste Silberfäden zeichneten komplizierte Muster auf den Stoff. Wie er da vor mir stand, strahlte er die selbstbewusste Würde eines siegreichen Feldherrn aus. Er streckte mir die Hand hin. „Ali! Ich möchte, dass du mich Baba-jan nennst.“ Das war sein Vorname.
Ich nickte, schluckte hastig die Süßigkeiten in meinem Mund hinunter und schüttelte seine Hand. „Ja, gerne.“
Ami gab mir einen Kuss auf die Stirn und schickte mich zurück nach oben, um die Kleidung anzuziehen, die Qasim mir gleich bereitlegen würde.
Der Rest des Tages verging wie in einem bunten Nebel. Ich genoss die Süßigkeiten, das Fladenbrot und den süßen Duft des Kranzes aus Lavendel und Orangenblüten, den Ami um den Hals trug. Es war schön. Aber auch irgendwie komisch. Ami ist jetzt verheiratet. Wieder und wieder sagte ich mir den Satz innerlich vor; vielleicht würde ich ihn irgendwann begreifen.
Am Tag nach der Hochzeit schauten wir zu, wie unser Gepäck in einen großen Transporter geladen wurde. Danach stiegen wir in ein Auto und fuhren stundenlang Richtung Norden, in die Berge hinter Islamabad. Dort stiegen wir in dem größten Hotel ab, das ich je gesehen hatte. Es war größer als jede Schule, jedes Krankenhaus oder Regierungsgebäude, das ich je gesehen hatte, selbst in einer so großen Stadt wie Lahore. Es war wunderbar dort und wir verbrachten unsere Tage mit Ausflügen in die Berge (mit der Seilbahn hinauf und zu Fuß zurück ins Tal), mit Reiten und mit Spaziergängen im riesigen Park des Hotels.
„Nomi“, sagte Ami eines Nachmittags, als wir wieder eine Wanderung machten. Sie hatte die anderen vorausgehen lassen, sodass sie zum ersten Mal seit der Hochzeit mit mir allein war. „Bist du traurig?“
Ich zuckte die Achseln. „Weiß nicht.“
„Erinnerst du dich noch, wie ich dir erzählte, wie ich deinen Vater geheiratet habe?“
„Ja. Dein Vater hatte alles arrangiert.“
„Richtig. Und weißt du auch noch, dass ich deinen Vater gar nicht gerne geheiratet habe?“
„Ja, doch.“
„Und auch, warum ich ihn eigentlich nicht wollte?“
Ich sah die Szene wieder vor mir, wie seine Finger sich um ihre Kehle pressten, während er sie gegen die Wand drückte. Ich hörte wieder, wie seine Faust ihre Wange traf. Ich war wieder allein in dem Haus, in das er mich entführt hatte, und hatte Hunger und Angst. Ich sah Ami fragend an.
„Ich wollte deinen Vater damals nicht heiraten, weil ich lieber einen anderen Mann geheiratet hätte. Er hieß Muzafa Schah.“ Sie machte eine Pause.
Mein Gehirn begann zu schalten. „Dann“, sagte ich zögernd, „dann wolltest du die ganze Zeit schon Baba-jan heiraten?“
Sie lächelte und drückte mich an sich. Wieder dieser Duft von Orangenblüten und Lavendel. „Ja, Nomi.“
Allmählich gewöhnte ich mich daran, dass ich jetzt Ami und den Rest meiner Familie mit ihrem neuen Mann teilen musste. Es war ja wirklich nichts Schlimmes; Ami war glücklich, und wenn sie glücklich war, waren wir es auch. Als wir aus den Flitterwochen in den Bergen zurückkehrten, wurde mir endlich klar, warum Ami das neue Haus so hatte bauen lassen. Es war perfekt symmetrisch, mit sieben Räumen in jedem der beiden Flügel. Jetzt wohnten wir so in ihm, als ob es ein Haus wäre, aber es war das Einfachste von der Welt, es in zwei Hälften aufzuteilen und aus dem einen großen zwei kleinere, aber immer noch absolut vollwertige Häuser zu machen. Wenn Zainab, Misim und ich erwachsen wurden, würde Zainab nach ihrer Heirat zu ihrem Ehemann ziehen, während Misim und ich jeder seine Frau zu sich holen würde, in „seine“ Hälfte des Hauses.
Baba-jan – es dauerte etwas, bis mir der Name in Fleisch und Blut übergegangen war – brachte mehr ins Haus als Ansehen, Reichtum und Sicherheit. Er war auch ein Schiit, der den Namen Ali trug und seine eigenen Mureed (Jünger) hatte. Ami war religiös zurückhaltend gewesen und hatte nicht viel Aufhebens um die Jünger gemacht, die in das Haus ihrer Mutter kamen. Baba-jan öffnete seine Arme so weit wie das große Tor unserer Villa; nach dem Freitagsgebet war man in seinem Haus hochwillkommen.
Bevor Baba-jan mein Stiefvater wurde, war meine Kenntnis dessen, was es bedeutete, ein Muslim zu sein, begrenzt gewesen. Ich wusste zwar, dass die Schiiten die Minderheit in unserer Stadt waren und dass die meisten meiner Freunde Sunniten waren, aber es sollte noch Jahre dauern, bevor ich den tiefen, teils gewalttätigen Graben verstand, der Schiiten und Sunniten trennte.
Die Spannungen zwischen den Sunniten (der Mehrheit der Muslime) und den Schiiten geht bis in die Anfänge des Islam zurück. Nach Mohammeds Tod entstand Uneinigkeit darüber, wer als sein Nachfolger die Muslime führen sollte. Einige folgten seinem Schwiegersohn Ali, andere einem Mann namens Abu Bakr (wer war das?). Dies war die Geburtsstunde der Trennung zwischen Schiiten und Sunniten. Als Alis Sohn Husain (Hussein), ein Enkel Mohammeds, in seine Fußstapfen trat, war sein sunnitischer Widersacher der Kalif Jasid. In der Schlacht von Kerbela (im heutigen Irak) massakrierten Jasids Krieger Husain und seine Anhänger, darunter seinen kleinen Sohn. Seitdem sind viele Jahrhunderte vergangen, aber das Blut, das damals vergossen wurde, klebt heute noch an unserer Geschichte.
Ich war sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal etwas von der Rivalität zwischen Schiiten und Sunniten mitbekam. Einmal war ich draußen mit meinen Freunden zusammen, als von ihrer sunnitischen Moschee der Gebetsruf erscholl. Sie gingen prompt hinein, um zu beten, ich nichtsahnend mit. Als ich zu Hause meiner Mutter von der komischen Moschee berichtete, wo die Leute die Gebete anders sprachen als bei uns, war sie mir böse. Es sollte noch Jahre dauern, bis ich begriff, wie gefährlich es für einen Schiiten sein konnte, in eine sunnitische Moschee zu gehen.
Baba-jan brachte mir eine Menge darüber bei, was es hieß, ein Schiit zu sein. Die Mureed oder Jünger waren respektvoll zu behandeln und im Übrigen eine Erinnerung an die Verantwortung jedes von Alis Nachfolgern. „Wir müssen für ihr geistliches Wohl sorgen“, sagte er mir einmal, als ich neben ihm stand und durch das Fenster auf den Hof hinausschaute. „Sie sind wie wilde Ziegen, die auf unserem Land grasen. Wir besitzen sie nicht, aber wir haben die Pflicht, uns um sie zu kümmern.“
Was Baba-jan damit meinte, verstand ich etwas besser, als er mir eröffnete, dass wir bald unser erstes Majlis abhalten würden – eine Veranstaltung, bei der den ganzen Tag lang alle Mureed und Hunderte andere Menschen kommen würden, um den Predigten verschiedener Zakire zu lauschen. Ich war schon einmal auf so einem Majlis gewesen, zusammen mit Scharib, als dessen Vater in Lahore predigte. Es war ein faszinierendes Erlebnis. Der Saal war überfüllt und laut und als wir ihn von hinten betraten, konnte ich das Podium vorne kaum sehen, aber ich folgte Scharib brav nach vorne, wo unter all den Mullahs und anderen hohen Gästen Onkel Haafiz auf dem Podium saß. Er nickte uns zu und bedeutete uns, in seiner Nähe Platz zu nehmen – nicht direkt auf dem Podium, sondern etwas seitlich.
An diesem Tag prägten sich einige Szenen tief in mein Gedächtnis. Ich musterte die Gesichter im Saal (es müssen ein- oder zweitausend Menschen dort gewesen sein) und sah in ihnen die verschiedenen Stimmungen, die die Zakire mit ihren Worten erzeugten. Manche Prediger machten den ganzen Saal schamrot mit ihren Worten über Sünde und Reinheit, andere verbreiteten Licht und Hoffnung mit ihren Bildern vom Paradies und von der Zukunft, die auf die wartete, die von Allah für würdig befunden wurden. Aber der allerbeste Prediger war mein Onkel. Er malte nicht nur mit einer Farbe, sondern benutzte das ganze Farbspektrum. Wie bei vielen anderen auch, war sein Vortrag eine Art Sprechgesang; seine Stimme stieg und sank wie die Brandung des Ozeans oder wie der Flug eines Falken hoch oben am Himmel. Er konnte erzählen, dass der ganze Saal den Atem anhielt. Onkel Haafiz führte die Menschen zurück in die Vergangenheit, in die Ereignisse zur Zeit des Korans. Er ließ die Personen richtig lebendig werden und zeigte uns, was es hieß, ein Schiit zu sein. Er erzählte Geschichten über den Propheten, seinen Schwiegersohn Ali und über seinen Enkel. Er schilderte Jasids brutales Massaker an den Unschuldigen bei Kerbela. Und die Belagerung Mekkas und die Ermordung und Vergewaltigung zehntausender Männer und Frauen in Medina. Es waren historische Ereignisse, die jeder Schiit kannte. „Was, wenn dies deine Tochter gewesen wäre?“, fragte Haafiz. „Oder du selbst?“ Und so weiter, bis die Luft voll vom Schluchzen der Männer war.
Ich war also mehr als gespannt, als Baba-jan mir sagte, dass wir bald selbst ein Majlis veranstalten würden. Als der Tag da war, kamen nicht so viele Leute wie damals in Lahore, aber die Polizei musste die Straße vor unserem Haus absperren, und im Hof waren mindestens zwei- oder dreihundert Menschen, die drinnen im Haus keinen Platz gefunden hatten.
Als das Majlis vorbei war, die Menschen sich zum Aufbruch wandten und man das Zirpen der Grillen wieder hörte, sah ich etwas vor mir, am Rande der Menge, einen Mann, der auf irgendjemand zu warten schien. Unsere Blicke trafen sich und er kam zu mir. Er mochte Mitte zwanzig sein und schien von weit her zu kommen, obwohl ich mir nicht ganz sicher war. Er sah nicht arm und zerlumpt aus, aber neue Schuhe schien er sich nicht leisten zu können.
Er machte eine tiefe Verbeugung. „Husnain-ji.“ Es war die respektvollste Anrede. „Darf ich Sie bitten, für mich zu beten?“
So eine Bitte hatte ich noch von niemandem gehört, aber ich hatte oft genug miterlebt, wie Bittsteller zu Onkel Haafiz oder sogar zu Scharib kamen, um zu wissen, wie ich zu antworten hatte, und so sagte ich: „Gerne. Worum geht es?“
„Ich habe keinen Sohn. Bitte beten Sie darum, dass ich einen Sohn bekomme.“
„Gut, ich werde für Sie beten“, antwortete ich. Dann erinnerte ich mich an etwas, was Scharib einmal gesagt hatte, und fuhr fort: „Ich werde beten und Allah wird das Gebet erhören und Sie werden einen Sohn bekommen.“
Der Mann murmelte ein Dankeschön und ging. Ich ging zurück ins Haus und vergaß prompt, für den Mann zu beten – an diesem Tag und später. War ich damit ein schlechter Muslim? Vielleicht, aber ich war ja noch ein Kind. Ich war damals noch nicht fromm, aber ich wusste, dass ich durch meine Geburt zu den Privilegierten im Glauben gehörte. Vor mir lag eine große Zukunft; vielleicht würde ich eines Tages selbst ein Zakir sein.
Bald nachdem er zu uns gezogen war, meldete Baba-jan mich in einer anderen Schule an. Sie war teuer und wurde von Katholiken geleitet. Die gesellschaftliche Rangordnung ist in Pakistan nicht so ausgeprägt wie im indischen Kastensystem, aber sie spielt dennoch eine wichtige Rolle; jeder weiß, an welcher Stelle er steht und wer über ihm und wer unter ihm ist. Die Katholiken waren ziemlich weit unten. Das Einzige, was ich über diese zurückhaltenden Menschen wusste, war, dass sie gute Musik machten und gute Schulen hatten. Aber sie waren nur Umti und mithin zu einer niedrigeren Kaste gehörig als ich. Man hatte weder böse zu ihnen zu sein noch Angst vor ihnen zu haben; sie waren eben Umti.
Ich begann meine Teenagerjahre mit dem beruhigenden Wissen, dass das Leben netter zu mir wurde. Die katholische Schule würde mir eine solide Schulbildung geben, Baba-jan war dabei, unsere Familie auf der gesellschaftlichen Leiter wieder weiter nach oben zu bringen, und die Tage, an denen um vier Uhr morgens irgendwelche betrunkenen Idioten an unsere Tür klopften, schienen tausend Jahre zurückzuliegen. Baba-jan nahm uns sogar in seinen Country Club mit, hinter dessen Toren ich eine ganze neue Welt aus makellos gepflegtem Rasen, Edelsportarten und gepflegter Konversation entdeckte.
Aber da war noch etwas anderes, das mich mit Zuversicht, ja Begeisterung in die Zukunft blicken ließ. Es begann eines Freitags, als ich nach dem Gebet die Menge im Hof musterte und mir ein Mann, der in meiner Nähe stand, bekannt vorkam. Natürlich – es war der Bittsteller, der mich nach jenem Majlis gebeten hatte, darum zu beten, dass er einen Sohn bekam. Einen Augenblick lang plagte mich mein schlechtes Gewissen – ich hatte ja gar nicht für ihn gebetet –, aber da stand er schon vor mir, mit einem Lächeln so breit wie ein Drachen auf seinem Gesicht.
„Husnain-ji.“ Er verneigte sich tief. „Meine Frau hat mir einen Sohn geschenkt!“
Ich erwiderte sein Lächeln. Ich war erleichtert – und total perplex.
Der Mann fuhr fort: „Ich würde Ihnen gerne etwas schenken, um meine Dankbarkeit zu zeigen. Gibt es etwas, was Sie brauchen?“
Ohne groß nachzudenken, antwortete ich: „Nun … ich hätte gerne Hunde.“
Einen Monat später kam der Mann wieder. Im einen Arm hielt er seinen Sohn (der mich nicht weiter interessierte) und seine andere Hand hielt vier wunderschöne Hunde gepackt. Sie konnten nicht älter sein als ein paar Monate, und ihr goldfarbenes Fell war seidenweich. Es war der Anfang meines eigenen kleinen Zoos; ein, zwei Jahre später hatte ich auch eine Taube, mehrere Hühner und sogar eine Kuh. Halten tat ich sie alle in dem großen umzäunten hinteren Garten.
Während Baba-jan mich in die Pflichten und Aufgaben meiner Kaste einführte, kümmerte Ami sich mehr um meine religiöse Unterweisung. Wie jeder gute Muslim musste auch ich lernen, den Koran zu lesen, aber während die Kinder der Ärmeren nach der Schule in die Madrassa (Moscheeschule) gehen mussten, konnten meine Eltern sich für ihre drei Kinder privaten Religionsunterricht durch einen Mullah leisten, der extra zu uns ins Haus kam.
Mir war das gerade recht. In der Schule wurde viel über die Madrassa geredet; es gab Gerüchte, dass manche Mullahs ihre Schüler schlugen und andere schwul waren. Meine Sehnsucht nach Mullahs hielt sich in Grenzen und ich verstand sehr gut, was meine Mutter meinte, als sie mir an dem Nachmittag vor unserer ersten Unterrichtsstunde mit dem Mullah sagte: „Wenn er dich oder deine Schwester anfasst, gib mir sofort Bescheid, ja?“
Das versprach ich ihr. Ich würde gerne aufpassen. Denn ich hatte keine Angst vor dem Mullah – jedenfalls nicht, wenn er in unserm eigenen Haus war und ich Amis Anweisung folgend die Tür des Zimmers, in dem der Unterricht stattfand, immer offen ließ.
Der Mullah war ein älterer Mann mit weißen Strähnen in seinem langen Bart. Seine schwarzen Kleider waren fleckig und rochen komisch. In der ersten Stunde versuchte er einmal, Zainab zu schlagen, als sie ein Wort nicht korrekt las, aber mein lauter Ruf nach Ami und ihre strenge Zurechtweisung genügten: Die Szene wiederholte sich nicht.
Das große Problem mit seinen Lektionen war, dass sie so langweilig waren. Wie jeder Koran, den ich bisher gesehen hatte, war auch das Exemplar, das er mitbrachte, auf Arabisch geschrieben. Als gebildeter pakistanischer Junge sprach ich bereits mehrere Sprachen – Punjabi mit meinen Freunden und den Straßenhändlern, Urdu zu Hause und Englisch in der Schule –, aber das Arabische war eine echt harte Nuss. Unser ganzer Unterricht bestand darin, dass wir vor dem Koran saßen, den der Mullah auf einen kleinen Tisch gelegt hatte, und ihn laut lasen. Ein paar Worte auf jeder Seite waren übersetzt, aber die meisten nicht, sodass ich eigentlich nicht wusste, was ich da vorlas. Das störte mich gewaltig und ständig fragte ich den Mullah, was bestimmte Sätze oder Ausdrücke bedeuteten.
Seine Standardantwort lautete: „Das ist nichts für Kinder.“ Ich wollte gerne langsam lesen, in einem Tempo, das es mir erlaubte, etwas von der Bedeutung mitzubekommen, aber das kam für meinen Lehrer nicht infrage. „Dschaldi, dschaldi!“ sagte er immer wieder. („Mach schon! Schneller!“) Er fand mich einen schlechten Koranleser. „Du liest zu langsam“, murrte er mehr als einmal. „Wenn du so liest, will dir niemand zuhören.“ Aber ich wollte keine Show abziehen und die Leute mit einer guten Lesestimme beeindrucken, ich wollte wissen, was im Koran stand, ich wollte der Wahrheit näherkommen. Ich hatte genug Predigten von Onkel Haafiz mitbekommen, um zu wissen, dass es mehr als eine schöne Stimme brauchte, um die Herzen der Zuhörer zu berühren.
Die Schule kam mir irgendwie unwirklich vor. Ich war ein mittelmäßiger Schüler und verspürte keine Lust, mich in Themen hineinzuknien, die ich schwierig fand. Warum sollte ich? Mein Name allein würde doch genügen, um Anhänger um mich zu sammeln und jemand zu sein in meiner Umgebung, und das Bankkonto meiner Familie würde mir die Tür in die Finanz- und Geschäftswelt öffnen. Ich gewöhnte mich allmählich daran, dass ich auf der Straße von Mureed angesprochen wurde, die mich um meine Gebete für sie baten, und wenn ich morgens ins Erdgeschoss kam, stand der treue Qasim an der Tür, bereit, mir meine Schultasche zu reichen, wenn ich das Haus verließ. Das eigentliche Leben spielte sich für mich außerhalb der Schule ab. Ich sah nicht, was die Schule mir geben konnte, das von Nutzen für das spätere Leben wäre. Sobald ich genug gelernt hatte, würde ich hinaus in die Welt gehen und mein Glück als Geschäftsmann suchen.
Der Unterricht in der Schule machte mir also keinen Spaß, dafür aber die Pausen mit meinen Freunden. Wir waren eine gemischte Truppe; zwei von uns waren Schiiten, die Übrigen Sunniten. Nicht, dass das etwas bedeutete. Wir gehörten zu den Oberen, wir waren die Söhne von bekannten Geschäftsleuten und Lokalpolitikern, junge Männer, die durch ihre Geburt privilegiert waren und die schon als Teenager wussten, dass sie einmal eine führende Rolle in der Gesellschaft spielen würden.
Wie jede Clique von Heranwachsenden wussten auch wir genau, wer zu uns gehörte und wer nicht. Die schlimmsten Wörter in unserem Vokabular reservierten wir für die Nichtmuslime. Ein Nichtmuslim, das war ein Kafir – ein „Ungläubiger“. Wenn wir an einem Fernseher vorbeikamen, in dem gerade eine amerikanische Sendung lief, dauerte es keine zwei Sekunden und einer von uns rief: „Kafir!“, worauf die anderen nickten und zustimmend grummelten. „Die haben keine Gottesfurcht“, ging es unvermeidlich weiter. „Sie sind blind für die Wahrheit.“
Jemanden einen Kafir zu nennen, war nicht ungefährlich. Ich warf dieses Wort einmal, als wir noch bei Großmutter wohnten, Scharib an den Kopf. Die Wucht von Amis Ohrfeige zeigte mir, dass das wohl falsch gewesen war. Aber es war eine nützliche Lektion, die auch anders herum funktionierte. Einmal warf mich der Lehrer aus dem Klassenzimmer, weil ich mich mit einem anderen Jungen geprügelt hatte, und gab mir dazu noch ein paar Stockschläge auf die Hand. Als ich anschließend nach Hause ging, wusste ich, was ich Ami sagen würde, wenn sie fragte, woher ich die dicken Striemen auf meiner Hand hatte. Es war die perfekte Ausrede: „Der Junge neben mir hat mich einen Kafir genannt.“ Ende des mütterlichen Zornes.
Aber die Nichtmuslime waren nicht die Einzigen, gegen die wir uns abgrenzten. Wir hatten alle Angst vor den Wahhabiten. Die Wahhabiten, das sind die ultrakonservativen Muslime, die Lehren folgen, die sich zum Teil weit von den traditionellen sunnitischen Wurzeln entfernt haben. Die Taliban, Al Kaida und ähnliche Gruppen kommen aus dem Wahhabismus. Die Wahhabiten hassen alle „westlichen“ Menschen und bekämpfen sie mit blutigen Terrorangriffen. Und sie hassen die Schiiten.
In und um Lahore sah man viele Wahhabiten. Man erkannte sie an ihrer altmodischen Kleidung und dem schwarzen oder grünen Turban. Ich ging ihnen aus dem Weg, so gut ich konnte. Dann und wann sah ich welche bei uns zu Hause, wenn sie einen geschäftlichen Termin bei Baba-jan hatten. Wenn sie mir die Hand hinhielten, schüttelte ich sie immer mit gesenktem Blick und einem höflich gemurmelten „Wa alaykum al-salaam“.
„Sie sind nicht so schlimm, wie sie aussehen“, sagte Baba-jan oft, wenn sie wieder weg waren. „Die tun uns nichts.“
Ami sah das anders und wenn ich mit ihr allein war, bat sie mich oft flüsternd, mich vor den Wahhabiten, die zu uns kamen, in Acht zu nehmen. „Lass dich nicht mit ihnen ein. Sie sind gefährlich. Wir Schiiten müssen immer mehr aufpassen.“
Am häufigsten gab meine Mutter mir diese Warnungen während des Muharram. Der Muharram ist der erste Monat im islamischen Kalender. Am 10. Tag des Muharram gedenken die Schiiten jedes Jahr der großen Schlacht von Kerbela, in welcher Mohammeds Enkel Husain ibn Ali und die meisten seiner Verwandten und Anhänger von Jasids Kämpfern niedergemetzelt wurden, nachdem er Jasid die Gefolgschaft verweigert hatte. (In anderen Ländern wird der zehnte Muharram Aschurafest genannt, d. Übers.) Für die Schiiten ist der Muharram der große Trauermonat, in welchem man sich zu Majlis versammelt, um an das Opfer, den Mut und die Ehre der Vorfahren im Glauben zu denken, und in riesigen Prozessionen durch die Straßen zieht – Prozessionen, bei denen manche der jüngeren Männer sich mit Ketten auspeitschen, bis das Blut nicht nur über ihren Rücken fließt, sondern auf die Straße. Sie tun dies, um an das Blutvergießen und den Schmerz von damals zu erinnern.
Mancher mag es merkwürdig finden, aber ich genoss die Muharram-Feierlichkeiten jedes Mal. Einen Teil der Rituale machten auch meine sunnitischen Freunde mit, aber wir alle wussten, dass dies vor allem ein schiitisches Fest war. Oft durfte ich an der Jaloos, wie wir die große Prozession nannten, als einer der Fahnenträger teilnehmen. Oder bei einem Majlis auf einem der Ehrenplätze auf dem Podium sitzen und Onkel Haafiz lauschen, der mit seinen Worten die Zuhörer zu bitteren Tränen und lautem Schluchzen rührte. Ich mochte diese Stunden, weil sie mir auf ganz besondere Art zeigten, wie wichtig es war, ein guter Muslim zu sein. Je älter ich wurde, umso besser begriff ich, wie wichtig es war, die Ehre und Würde des Mannes zu feiern, der im Kampf gegen eine überwältigende Übermacht sein Leben geopfert hatte. Es war dieser Mut, der eine Saite in mir zum Klingen brachte. Die Muharram-Feierlichkeiten gaben mir eine neue Identität, als Teil einer Geschichte, die größer war als ich selbst. Ich hatte nicht gewusst, wie wichtig mir diese Identität war.
Ich war ganze zwölf Jahre alt, als man mir zum ersten Mal anbot, bei einer Prozession eine der großen Fahnen zu tragen. Ami war nicht dafür, dass ich so in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat, aber ich hielt es mit Baba-jan und fand die Idee prima. Zwar musste ich mich dann voll konzentrieren und all mein bisschen Kraft aufbieten, um die lange Holzstange aufrecht zu halten, aber Baba-jan, der neben mir stand, lobte mich. „Gut so, Junge.“ Wir standen hinter mehreren Mullahs und ich folgte ihnen, als die Prozession begann. Der Lärm war unbeschreiblich. Hinter mir gingen mindestens tausend Menschen und der Gedanke daran schien die Fahnenstange noch schwerer zu machen. Aber dann wurde ich ruhiger, und als wir uns der Moschee und damit dem Ende der Prozession näherten, schaute ich mit einer gewissen Zufriedenheit zu der schwarzen Fahne mit der weißen Hand hoch, die hoch über mir sachte im Wind flatterte. Es zählte nicht, dass meine Arme halb lahm waren, dass ich Baba-jan nicht mehr sah und mir der Schädel von der Hitze brummte. Was zählte, war, dass ich meine Aufgabe gemeistert und die ganze Zeit die Fahne hochgehalten hatte.
Aber was waren das plötzlich für Schreie? Die Worte konnte ich nicht ausmachen, aber der Klang der Stimmen und die Wirkung, die die Schreie auf die Menge hatten, zeigten mir, dass etwas nicht stimmte. Ich drehte mich um. Die Prozessionsteilnehmer rannten in alle Richtungen weg. Dann sah ich ganz in meiner Nähe einen jungen Mann, der auf eine Mauer sprang und schrie: „Eine Bombe! Eine Bombe!“
Ich überlegte nicht. Ich schaute auch nicht, wo Baba-jan war. Ich ließ die Fahne fallen und rannte. Doch, ich war ein Muslim, ein stolzer Schiit. Aber ich hatte keine Lust, mich von einem wahhabitischen Bombenattentäter umbringen zu lassen.
Im Fernsehen und in der Zeitung hatte ich genügend Bilder von blutverschmierten Leichen gesehen, die zwischen Trümmern und Glasscherben auf der Straße lagen, um zu wissen, dass die Gefahr sehr real war. Es kam öfters zu Anschlägen auf große schiitische Feste, vor allem im Muharram, wenn alle an die alten Fehden von damals dachten. Ich rannte, stolperte, rannte weiter. Wann würde die Explosion kommen? Aber es kam keine.
Ich war gut eineinhalb Kilometer von zu Hause entfernt, aber ich schaffte die Strecke, quer durch das Gassenlabyrinth unseres Viertels, in wenigen Minuten. Ami musste die Schreie und die Sirenen gehört haben, denn sie wartete schon auf mich. Ich rannte in ihre Arme und wollte sie nicht mehr loslassen. Wir schauten die Straße entlang. Wo war Baba-jan? Es dauerte nicht lange und er kam.
„Was ist passiert?“, fragte Ami.
„Sie haben die Bombe gefunden“, sagte Baba-jan. Er sah mehr müde als verängstigt aus, mehr ärgerlich als wütend, als habe er gerade einer lästigen Unannehmlichkeit ins Auge geschaut und nicht dem Tod. „Sie war in einem Gebüsch bei der Moschee versteckt. Alles in Ordnung, Nomi?“
Ich nickte, aber innerlich zitterte ich. Da war ich stolz durch die Straßen marschiert und hatte meine Fahne geschwenkt, zu Ehren eines Mannes, der für seinen Glauben in den Tod gegangen war und der mein Namensvetter war. Und im nächsten Augenblick – war ich fortgelaufen wie ein Hase und nicht bereit gewesen, ebenfalls zu sterben.