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2. Ein Knurren in der Nacht

Mit einem Namen wie meinem blieben viele meiner Lausbubenstreiche ungestraft. Ich war jemand. Das Leben behandelte mich und meine weitverzweigte, bestens vernetzte Verwandtschaft sehr zuvorkommend. Die Menschen schauten zu uns auf, ja beneideten uns. Nur gelegentlich wurde dieser Neid zu einer Gefahr.

Unter meinen vielen Cousins war Scharib der, den ich am meisten mochte. Er war ein Experte im Drachenfliegen und im Spielen auf Bauplätzen, ein Meister darin, Probleme zu bekommen, und ein Genie darin, sie zu lösen.

Er war älter als ich, aber nicht ganz so groß. Auch er konnte nicht still sitzen und war ständig in Bewegung. Wenn er uns für einen Tag besuchte und alle im Haus vor der Hitze kapitulierten, war er ein Wirbelwind, der ständig etwas Neues ausheckte. Sein häufigstes Opfer war der achtzehnjährige junge Mann, den seine Familie als Chauffeur engagiert hatte. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber ich erinnere mich noch gut an seinen schütteren Schnurrbart und ständig müden Gesichtsausdruck. Einer von uns löste die Alarmanlage des Autos aus. Sobald der Chauffeur aus dem Bhetak, in dem er so viele seiner Stunden verbrachte, herausgerannt war, sausten Scharib und ich hinein und verwandelten den Raum binnen Sekunden in ein Chaos. Worauf der arme Chauffeur alsbald zurückkehrte, die umgeworfenen Tische und wie Bomben durch die Gegend geworfenen Kissen melancholisch inspizierte, kurz aufseufzte und anfing aufzuräumen, während Scharib und ich schadenfroh aus dem Raum tanzten.

Aber das Beste an Scharib war nicht der Unfug, den wir bei mir zu Hause anstellten, sondern die Menschenmassen, die man in seinem Haus antraf. Scharibs Vater – Onkel Haafiz, einer von Amis Cousins – war ein Zakir, ein religiöser Lehrer, der im ganzen Land beliebt und angesehen war. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und ein strenges Gesicht, aber eine freundliche Stimme. Ich wusste nie genau, ob ich Angst vor ihm haben oder ihm vertrauen sollte. Er wohnte mit seiner Familie ein paar Stunden von uns entfernt, und nach jedem Besuch bei ihm kam ich mir wie ein neuer Mensch vor, der weiser war und die Welt besser verstand.

Es war nicht nur so, dass ihr Haus groß war, mit einem breiten doppelflügeligen Tor, das auf einen großen Innenhof ging. Was es mir besonders angetan hatte, war die Fahne, die Onkel Haafiz über der großen Eingangstür angebracht hatte – ein großes schwarzes Rechteck mit einer weißen Hand, über welcher die Worte Ja’Ali prangten. Das zeigte jedem, der es wissen wollte, dass die Hausbewohner gute Schiiten und treue Nachfolger von Mohammeds erstem wahren Jünger waren, meinem Namensvetter Ali. Stundenlang konnte ich zu dieser Fahne hochsehen und über das nachdenken, was Onkel Haafiz mir über sie gesagt hatte. „Weißt du, warum sie schwarz ist?“, hatte er mich gefragt, und als ich dies verneinte, hatte er erklärt: „Sie will uns daran erinnern, dass wir über den Tod Alis trauern.“

Onkel Haafiz war kein gewöhnlicher Zakir; er war bekannt, berühmt und beliebt. Er verstand es, die Geschichten aus den heiligen Schriften so zu erzählen, dass sie richtig lebendig wurden. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich dabeisaß und zuhörte, wie er einer großen Menschenmenge Begebenheiten aus den ersten Jahren des muslimischen Glaubens erzählte. Manchmal ließ ich, wenn ich so zuhörte, meinen Blick durch den Saal gleiten, über die Hunderte, ja manchmal Tausende Gesichter, die mit Tränen in den Augen zu meinem Onkel hochsahen.

Am meisten mochte ich die Geschichte, in der Mohammeds Urenkelin Sakina ihren Onkel Abbas bittet, Wasser für sie und die anderen Kinder zu holen, die in ihrem Lager von den feindlichen Soldaten des bösen Jasid umzingelt waren. Abbas kämpfte sich tapfer zu dem Fluss durch, aber auf dem Rückweg ins Lager wurde er überfallen. In dem Kampf, der folgte, wurde Sakina gefangen genommen und starb. Sie war nicht viel älter als vier Jahre. Wenn ich die Augen schloss, sah ich die Szenen vor mir, als ob sie sich hier und jetzt abspielten. Und fast immer liefen mir, wie allen anderen, zum Schluss die Tränen über das Gesicht.

Für Muslime gibt es verschiedene Propheten Gottes. Adam, Abraham, Mose und Jesus waren die ersten vier und Mohammed ist der letzte. Mohammeds Tochter Fatima hatte zwei Söhne – Hasan ibn Ali und Husain ibn Ali –, von denen alle Sayeds letztlich abstammen. Solch eine Abstammung bringt natürlich Ehre und Achtung, und denen, die (wie Onkel Haafiz) darüber hinaus bekannte religiöse Lehrer sind, bringt es auch Mureed (Jünger).

Onkel Hafiz’ Jünger versammelten sich nach dem Moscheegottesdienst im Hof seines Hauses, wo sie geduldig darauf warteten, dass er kam und sich zu ihnen setzte. Manche baten ihn, für sie zu beten, andere brachten ihm Geschenke; wieder andere waren damit zufrieden, sein Bein oder Knie berühren zu dürfen, in der Hoffnung, dass diese Berührung ihnen Hilfe bringen würde.

Auch meine Familie hatte ihre Mureed, obwohl es seit dem Tod meines Großvaters einige Jahre vor meiner Geburt weniger geworden waren. Er war ebenfalls ein Zakir gewesen, und auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit – so hatte Ami es mir einmal erzählt – hatte er zwei- oder dreitausend Mureed gehabt. Manchmal, wenn ich am Freitagnachmittag in unseren Hof schaute und das kümmerliche Dutzend Menschen sah, die dort herumstanden, konnte ich mir kaum vorstellen, dass es einmal Tausende gewesen waren, und fragte mich, warum Onkel Haafiz so viele Jünger hatte und wir so wenige.

„Ami, das versteh ich nicht“, sagte ich, als ich eines Tages von der Schule zurückkam. „Onkel Haafiz hat so viele Mureed. Warum hängen wir nicht einfach auch so ’ne Fahne an unser Haus?“

Meine Mutter hatte immer viel Geduld mit meinen Fragen. „Nomi“, sagte sie, „es reicht nicht, eine Fahne zu haben; wir müssen das mit unserem Leben zeigen. Und außerdem will ich nicht, dass du so ein Leben führst.“

„Was für ein Leben?“

„Ein Leben, wo du nicht studierst oder arbeitest, sondern von dem Geld lebst, das deine Mureed dir geben.“

„Aber diese Leute haben echt Achtung vor ihrem Zakir. Wenn wir mehr Mureed hätten, wären wir auch mehr geachtet, und darauf kommt es doch an, oder?“

Ami zuckte die Achseln auf eine Art, die mir zeigte, dass das Gespräch vorüber war. „Es kommt vor allem darauf an, dass wir beten.“

Dass meine Mutter das Ansehen unserer Familie nicht an die große Glocke hängen wollte, hatte nicht nur mit Bescheidenheit zu tun. Als Geschiedene aus einer reichen Familie, die mit einer Witwe und einer Handvoll Kinder allein in einem Haus wohnte, war sie grundsätzlich in einer prekären Lage. Alles, womit wir unnötig Aufmerksamkeit auf uns zogen, war ein Risiko, das es zu vermeiden galt.

Wir wurden oft an diese Realität erinnert, während wir bei meiner Großmutter wohnten. Eine Zeit lang klingelte ­irgendjemand aus dem Ort jeden Morgen um vier an unserer Haustür, worauf einer unserer Diener, Qasim, sich aufrappelte und an die Tür ging. Vor der Tür stand niemand; dafür hörte man, wie jemand schnell weglief und dabei gehässig lachte. Ich dachte erst, dass das die Strafe für meine eigenen Klingelstreiche vor ein paar Jahren war, aber nachdem dies einige Nächte so gegangen war, hatte Ami genug. Als es das nächste Mal nachts um vier klingelte, hörte ich nicht Qasims leise Schritte, sondern Ami, die die Treppe herunterstürmte und die Tür aufriss. „Hast du Angst vor einer Frau?“, schrie sie in die Dunkelheit hinein.

Ich hörte einen halb unterdrückten Antwortschrei, nicht weit entfernt. Es war eine Männerstimme. Ami rief wieder etwas und rannte nach draußen. Offenbar wollte sie den Ruhestörer verfolgen, und als das älteste männliche Glied der Familie im Haus durfte ich sie das natürlich nicht allein machen lassen. Ich sauste ebenfalls nach unten und folgte ihr.

Die Luft war warm. In mehreren Häusern war noch Licht; man hörte das vertraute Brummen der Dieselgeneratoren. Ami war schnell und hatte einen satten Vorsprung, aber meine Beine waren schnelle Sprints gewöhnt. „Ami!“, rief ich, als ich sie fast eingeholt hatte, aber sie hielt nicht an. Vor uns tauchte ein Restaurant auf, das sein Licht auf die Straße warf. Die Plastiktische auf dem Bürgersteig waren fast alle besetzt. Ami marschierte zielsicher zu einem der Tische, baute sich vor einem Mann auf, der dort saß, rief etwas, was ich nicht verstand, zog sich ihren einen Schuh aus und vermöbelte den Fremden damit.

Ich war mittlerweile ebenfalls stehen geblieben und sah begeistert zu, wie meine Mutter den Mann, der immer kleiner zu werden schien, mit ihrem Schuh bearbeitete. Als sie fertig war, gingen wir zusammen nach Hause zurück. Ich war platt. „Ami, du hast ihn mit einem Schuh verhauen!“, sagte ich. Sie lächelte ihr vertrautes Lächeln und befahl mir, mich wieder schlafen zu legen.

Aber wir mussten uns nicht nur vor betrunkenen Dummköpfen in Acht nehmen. Ami hatte eine Schusswaffe. Sie teilte ihr Schlafzimmer mit Zainab, Misim und mir, und wenn ich noch wach war, wenn sie ins Bett ging, schaute ich durch meine halb geschlossenen Augen zu, wie sie zum obersten Regal in ihrem Schrank hinlangte, eine Pistole herunterholte und sie unter ihr Kissen legte. Ich akzeptierte diese Pistole als einen normalen Teil unseres Lebens, und ich habe meine Mutter nur einmal gefragt, warum sie sie hatte. Sie antwortete: „Weil man damit böse Menschen abschrecken kann.“ Das leuchtete mir ein; diese Pistole sorgte dafür, dass wir in Sicherheit waren.

Aber ich hätte nie gedacht, dass Ami sie je benutzen würde.

Eines Nachmittags saßen Scharib und ich vor dem Fernseher, als wir von oben drei Schüsse hörten. Wir sahen uns erschreckt an und sausten nach oben ins Schlafzimmer. Dort lag Qasim auf dem Fußboden, beide Arme über seinem Kopf, während Ami an der gegenüberliegenden Wand stand. Sie sah zu Tode erschrocken aus. Vor ihr auf dem Boden lag die Pistole.

„Was ist passiert, Ami?“, fragte ich. „Bist du verletzt?“

Sie brachte erst kein Wort heraus.

Es war Qasim, der uns aufklärte, während er sich hochrappelte und die Ohren rieb. „Ich hab sie gefragt: ‚Madam, Sie haben eine Pistole, aber wissen Sie auch, wie man sie benutzt?‘ Darauf hat deine Mutter in die Decke geschossen, aber der Rückstoß war zu stark für sie, sodass sie noch zweimal geschossen hat, diesmal geradeaus. Ich musste mich zu Boden werfen, um nicht getroffen zu werden.“

Direkt über Ami war ein kleines Loch in der Decke, und gegenüber von ihr – direkt über der Stelle, wo Qasim in Deckung gegangen war – waren zwei weitere Löcher in der Wand. Ich beschloss auf der Stelle, meine Mutter zu bitten, nicht mehr mit der Pistole zu schlafen; es war wohl besser, sie für den Notfall irgendwo sicher aufzubewahren.

Unsere Familie kannte Reichtum und Einfluss, aber auch den Tod, und das genauer, als uns lieb sein konnte. Ami hatte zwei Brüder, doch kurz nach meiner Geburt starb der eine, ohne Frau oder Kinder zu hinterlassen. Blieb nur noch ein Bruder – Onkel Schah, der Polizeibeamte in Lahore, der mich gerettet hatte, als mein Vater mich entführt hatte. Er war ein freundlicher Mann und eine große Unterstützung und Hilfe für Ami während ihres langwierigen Scheidungsprozesses. Seiner Frau gefiel das gar nicht; sie war eifersüchtig und fand, dass Ami mit ihrer Trennung von ihrem Mann Schande über die Familie gebracht hatte.

Die Lage wurde noch schlimmer, als plötzlich mein Großvater starb und das meiste von seinem beträchtlichen Reichtum meinem Onkel hinterließ. Ich war damals erst acht und wusste noch nicht, wie das Geld die Herzen von Menschen vergiften kann. Ich bekam auch nichts davon mit, dass das Verhältnis zwischen meinem Onkel und seiner Frau immer schlechter wurde. Als er kurz darauf einem Herzanfall erlag, kam niemand auf den Gedanken, dass dies etwas anderes sein konnte als ein grausamer Zufall. Bis ich etwas erlebte, was sehr merkwürdig war.

Es war ein Tag wie jeder andere. Wieder einmal war ich Schazi, meinem Kindermädchen, entwischt, um draußen zu spielen. Ich machte nichts Besonderes, als es passierte. Ich war gerade dabei, mit einem Stock hinter ein paar Ziegen auf der Wiese hinter dem Haus herzujagen, als ich urplötzlich stolperte und stürzte. Der Schmerz war ungeheuer – wie ein inneres Feuer in meinem Bein. Gleichzeitig wurde mir speiübel. Zum Glück war Schazi schon unterwegs, um mich zu suchen, und es gelang ihr, mich hochzuheben und zurück ins Haus zu tragen.

Es war nicht das erste Mal, dass ich solche Schmerzen erlebte. Trotz meines zarten Alters hatte ich mir schon mehr Knochen gebrochen als irgendeiner meiner Freunde. Zweimal hatte ich mir die Hand gebrochen und einmal das Bein – dasselbe Bein, das jetzt diese Schmerzwellen durch meinen Körper jagen ließ.

„Was hast du gemacht, Nomi?“, fragte Ami, während sie behutsam mit ihren Händen über mein Bein fuhr, als ich drinnen auf dem Sofa lag. Ich brachte keine Antwort zustande, denn der Schmerz war jetzt so furchtbar, dass ich nur noch weinen konnte. Aber selbst wenn ich hätte reden können – was hätte ich meiner Mutter sagen sollen? Wie bei den anderen Knochenbrüchen auch war mir die ganze Sache absolut unverständlich. Manchmal hieß es, dass ich „wild“ war, aber ich wusste, dass ich gerade nichts Gefährliches gemacht hatte.

Ich muss mich wohl so weit beruhigt haben, dass ich schließlich einschlief, denn das Nächste, woran ich mich erinnere, war das Aufwachen in der Ambulanz, wo ein Arzt mit warmen Händen dabei war, mein Bein zu richten.

In den folgenden Tagen befragte Ami mich mehrere Male über den Unfall. Alles, was ich ihr antworten konnte, war, dass ich halt hinter den Ziegen hergerannt war, als ich urplötzlich hinfiel. „Bist du über ein Loch oder einen Stein gestolpert?“, fragte sie.

„Nein, Ami“, erwiderte ich. „Ich bin halt auf einmal hingefallen. Warum, weiß ich nicht.“

Wenn meine Genesung normal verlaufen wäre, hätte Ami sich vielleicht nichts weiter gedacht, aber irgendetwas machte sie argwöhnisch. Ein paar Tage nach dem Unfall bestätigte sich ihr Verdacht, als sie in der Nacht hörte, wie ich in meinem Bett immer unruhiger wurde. Ich selbst kann mich an nichts erinnern, aber in den folgenden Jahren erzählte man mir die Geschichte etliche Male. Offenbar fing ich an, mich heftig herumzuwälzen und mit einer Stimme zu sprechen und zu schreien, die nicht meine eigene war. Es war eine tiefe Stimme, wie die eines Mannes, nicht eines Achtjährigen. Und die Stimme war wütend – so sehr, dass es den anderen Angst machte, fast wie das Knurren eines bösen Tieres. Worauf die Stimme wütend war, wusste niemand.

Es war Qasim, der schließlich sagte: „Das ist ein Dschinn, ein böser Geist. Wir müssen versuchen, mit ihm zu reden.“

Ami tat das. Sie sprach den Geist an, um herauszufinden, was er wollte, aber ohne großen Erfolg.

Am nächsten Tag konnte ich mich an den Vorfall nicht erinnern. Mein Bein tat weh und ich war müde. Man hielt einen kleinen Familienrat und kam überein: Wenn es sich wirklich um einen Dschinn handelte, musste man ihm ein Opfer bringen, um ihn zu besänftigen. Meine Familie kaufte also eine schwarze Ziege, schlachtete sie und warf den Kadaver in den Friedhof, in der Hoffnung, dass der Geist, der mich plagte, mit der Mahlzeit zufrieden wäre.

In der folgenden Nacht fing ich wieder an, zu knurren und zu schreien. Die Ziege hatte nichts gebracht, und als die unheimlichen Schreie aus meinem kleinen Körper das Haus erfüllten, bekam Ami es mit der Angst zu tun. Sie wandte sich schließlich an die Mullahs aus der Moschee und bat sie um Rat. Sie sagten: „Bringen Sie den Jungen zu uns. Wir werden ihn drei Tage lang schlagen, dann ist der Dschinn garantiert weg.“

Aber Ami hatte eine bessere Idee. Als ich in der nächsten Nacht wieder zu schreien anfing, beugte sie sich ganz nah zu mir, legte ihre Hand auf meinen Kopf und sagte leise: „Nomi, ich bin’s, Ami. Was siehst du?“

Ich antwortete, mit meiner normalen Stimme: „Ich sehe Onkel. Er ist im Badezimmer und will gerade seine Medizin nehmen, aber irgendjemand hat sie gegen eine andere getauscht.“

„Wer?“

„Die Tante. Sie hat seine Pillen vertauscht.“

Und ich fing wieder an, mich zu wälzen und um mich zu schlagen; meine Arme und Beine – auch das gebrochene – wirbelten herum, dass jeder, der in meiner Nähe war, zurückzuckte. Es brauchte Qasim, meine Großmutter und ein oder zwei Nachbarn, die gerade da waren, um mich festzuhalten. Sie berichteten mir später, dass ich mit den Kräften eines erwachsenen Mannes kämpfte.

Dann, am vierten Tag, geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Es war am Nachmittag. Ich lag auf dem Bett, fühlte mich schlapp, hatte jede Menge Mitleid mit mir selbst und fragte mich, wie lange es dauern würde, bis ich wieder draußen spielen konnte. Plötzlich hörte ich eine unbekannte Stimme: „Nomi, wie geht’s dir?“

Ich schaute hoch und sah eine farbenfroh gekleidete Dame mit Sonnenbrille. Neben ihr stand Ami. „Dies ist Tante Gul­shan“, sagte sie. Ich hatte noch gar nicht gewusst, dass ich eine Tante Gulshan hatte. Aber die Frau sah nett aus. „Danke, gut“, murmelte ich.

„Ich möchte gerne für dich beten. Darf ich das?“

Ich hatte schon oft erlebt, dass Menschen jemanden baten, für sie zu beten – vor allem bei den Mureed vor Scharibs Haus. Sie baten Onkel Haafiz, für sie zu beten, und der berührte sie entweder kurz, bevor er weiterging, oder er sagte ihnen, dass er an sie denken würde, wenn er das nächste Mal betete. Noch nie hatte jemand mich gefragt, ob er für mich beten durfte, aber irgendetwas in meinem Hinterkopf sagte mir, dass hier nur eine Antwort möglich war, und ich flüsterte: „Ja.“

Tante Gulshan kniete sich neben mir hin. Sie behielt ihre Sonnenbrille auf. Ich weiß noch, dass ich mir wünschte, sie würde sie abnehmen, und gleichzeitig erleichtert war, dass sie das nicht tat. Sie legte ihre eine Hand auf meinen Kopf. Ich zuckte instinktiv zurück. Die Berührung schien eine Welle von Hitze in meiner Haut freizusetzen. Meine Haut fühlte sich plötzlich richtig heiß an – aber nicht vor Schmerzen, sondern vor Kraft. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Tante Gulshan, „es ist gut.“ Ihre Stimme war leise und sanft.

Dann begann sie zu beten und ich erlebte meine nächste Überraschung. Bis jetzt hatte ich immer nur Gebete auf Arabisch gehört. Das war unsere offizielle religiöse Sprache, die der Prophet Mohammed gesprochen hatte. Aber Tante Gul­shan betete auf Urdu, in unserer ganz normalen Alltagssprache. Ihre Worte waren ruhig und sanft und ich spürte, wie ich mich entspannte. Sie befahl dem Dschinn, mich zu verlassen, und bat Gott, mein Bein zu segnen, damit es schneller heilte. Die Hitze wurde noch etwas stärker, dann ebbte sie ab und ich spürte das Bedürfnis, richtig tief Luft zu holen. Irgendwie fühlte die Luft sich besser an als die ganzen letzten Tage und mit jedem Atemzug wurde ich innerlich ruhiger, bis mich ein tiefer Frieden erfüllte.

In der folgenden Nacht schlief ich wie ein Stein. Der Dschinn kam nie zurück. Ami stellte ihre Schwägerin zur Rede, die Tante meines verstorbenen Onkels, und sagte ihr, was ich gesehen hatte. Danach sah sie die Tante nie wieder und diese hat das Geld, hinter dem sie so her war, nicht bekommen.

Der Preis meines Glaubens

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