Читать книгу Kannst Du lieben? - Alice Zumbé - Страница 6
4. Kapitel: So richtig verliebt sein...
Оглавление„Die Liebe geschieht in Freiheit, ohne jede Erwartung an den anderen, auch ohne Erwartung etwas für die eigene Liebe zu bekommen, nämlich Gegenliebe. Die Liebe ist kein Geschäft. Die Liebe ist ein Ausdruck des Lebensglücks. Lieben heißt geben, heißt fühlen, sich entfalten, sensitiv im Augenblick...“ (Peter Lauster, „Die Liebe – Psychologie eines Phänomens“)
Einen Tag später schwang noch ganz viel von dem Hamam-Erlebnis mit und das wollte ich teilen. Dieses Gefühl von Glück. So erzählte ich bei einer spontanen Begegnung mit einem Bekannten in meinem Stamm-Café von dieser Geschichte und bekam ein Gespür dafür, was es bedeutete „Glück zu teilen“. Es äußerte sich in der Freude meines Gegenübers meinen Worten zu lauschen. Er war mein Spiegel, denn wenn wir uns tatsächlich vor einen Spiegel stellen und uns ein Lächeln schenken, dann lächelt unser Spiegelbild zurück. Genauso passierte es bei ihm.
Immer dann, wenn ich in den folgenden Monaten diese Offenheit und die Liebe zu mir selbst zeigte – und es sollte noch jede Menge Momente davon geben – erlebte ich wunderbare Augenblicke mit Freunden, bekannten und unbekannten Menschen mit tollen Geschichten voller Nähe und Liebe. Die Herausforderung für mich war zu lernen, dass es diese Momente sind, die das Leben bereichern, diese aber auch zu Ende gingen und ich loslassen musste. Ich lernte darauf zu vertrauen, dass neue Momente kommen würden, ohne zu wissen wann und mit welchen Geschichten sie mich beschenken würden. Ich freute mich auf das Unbekannte und würde noch oft die Gelegenheit bekommen mich daran zu üben geduldig zu sein und loszulassen.
An diesem Montag verabredete ich mich mit Nina am frühen Abend wieder in dem Café. Sie ließ mich am Nachmittag wissen, dass sie für die nächsten Tage Besuch von einem Freund erwartete, der noch heute anreisen wollte und sie ihn deshalb direkt mitbringt. Ich freute mich auf sie und auf den Unbekannten.
Es war ein schöner, warmer Frühsommertag mit viel Sonne und so wartete ich bereits auf der Terrasse des Cafés, als ich Nina und ihre Begleitung schon von weitem erblickte. Es traf mich wie ein Blitz. Ich erinnere mich noch genau, dass ich Nina einige Meter vor unserem Zusammentreffen anschaute, dann mein Blick zu ihm wanderte und ich völlig verwirrt in der Sekunde der Begrüßung nicht wusste, wen ich zuerst umarmen oder die Hand reichen sollte. Da Nina vorweg trat, wurde meine Verwirrung erst einmal außer Kraft gesetzt. Dann reichte ich ihm meine Hand mit einem strahlenden Lächeln und einem „Hallo“. Er verabschiedete sich zugleich wieder mit den Worten, dass er erst einmal die Toilette aufsuchen müsste und entschwand im Café. Kaum hatte Nina Platz genommen, bestürmte ich sie mit Fragen. „Wer ist denn das?“, „Woher kennt Ihr Euch?“, „Erzähle mir bitte schnell etwas über ihn.“. Es war nur wenig Zeit, die zur Beantwortung meiner Fragen blieb und nach seiner Rückkehr zwang ich mich wieder im Hier und Jetzt zu verweilen und mich dem Fluss des Lebens hinzugeben. Ich erinnere mich nicht mehr genau über was wir uns unterhielten, doch eines war gewiss: es hatte mich erwischt, ich war verliebt.
Den Abend verbrachten wir zu dritt kurz im Café und später ausgiebig bei Nina zu Hause, mit viel Lachen, Freude und Spaß. Bis in die Nachtstunden saßen wir zusammen, tranken Wein, aßen, redeten. Unweigerlich kam dann doch der Moment der Müdigkeit bei uns allen, der mich veranlasste mich aus dem Geschehen zu verabschieden. Zu Hause angekommen schrieb ich Nina sofort Nachrichten, da ich neugierig war, ob er schon in meiner kurzen Abwesenheit etwas über mich gesagt hatte und ich schrieb ihr, dass es mich erwischt hatte. Und soviel sei gesagt: er war genauso neugierig und löcherte Nina mit jeder Menge Fragen über mich.
Geplant hatte er seinen Besuch für insgesamt vier Tage. So lagen volle zwei Tage bis zu seiner Abreise noch vor uns und da ich in dieser Zeit alle Verpflichtungen verschieben konnte, wusste ich genau mit wem ich sie verbringen wollte. Am Dienstag trafen wir uns alle dann am späten Nachmittag wieder im Café. Nina hatte noch einen gemeinsamen Freund dorthin eingeladen und so gesellte sich dann auch Robbie dazu. Mein Herz schlug gefühlt doppelt so schnell, als ich Nina´s Besuch wieder sah und es meldete sich bei mir das Bedürfnis ihm Nahe sein zu wollen. In einem Moment mit Nina alleine, erzählte sie mir dann, dass er ihr gesagt hatte, dass er sehr gerne mit mir ein Date hätte, aber nicht wusste, wie er es anfangen sollte. Mein Herz sprang vor Freude auf und ab und ich teilte ihr mit, dass ich ihn dann einfach fragen würde. Das Wissen um seinen Wunsch machte mich mutig und offen und so trat ich vor ihn und fragte ihn, ob er Lust habe den Abend mit mir alleine zu verbringen. Er strahlte mich an, bejahte meine Frage und ich schenkte ihm ein ebenso strahlendes Lachen zurück mit den Worten: „Gut, dann haben wir jetzt ein Date.“
Zunächst machten wir uns allerdings alle zusammen auf den Weg zu Nina nach Hause, da sie noch für uns kochen wollte. Es war eine fröhliche Runde, die noch von Olav erweitert wurde, einen weiteren Freund. So aßen, tranken und redeten wir und ich erinnere mich an die Augenblicke, wenn sich seine und meine Augen trafen, in denen sich die Freude auf den Verlauf des weiteren Abends widerspiegelte.
Gegen 20:30 Uhr verabschiedeten sich Robbie, er und ich aus der Runde und wir gingen zu dritt noch ein Stück gemeinsam bis zu Robbie´s Auto, wo die nächste Verabschiedungsrunde eingeläutet wurde. Nun waren wir zu zweit allein.
Ich schlug vor, dass wir eine Cocktailbar ganz in der Nähe aufsuchen könnten und er nahm diese Idee gerne an. So begaben wir uns dorthin und nahmen an einem Tisch drinnen Platz, ließen uns völlig frei und offen auf die weiteren Geschehnisse ein. Wir genossen den Moment ohne Gedanken daran, wohin uns dies alles führte. Wir redeten viel und ich muss an dieser Stelle gestehen, dass mein Anteil daran weitaus größer ausfiel.
Irgendwann, es waren wohl schon zwei Stunden vergangen und der ein oder andere Cocktail in unsere Kehlen runter geflossen, beugte er sich zu mir nach vorne und unsere Münder trafen sich zum ersten Kuss. Ich war selig, fühlte mich berauscht und völlig losgelöst. Es folgten eine weitere Stunde mit Gesprächen und Küssen. Dann beschlossen wir die Bar zu verlassen und es stand für mich außer Frage ihn zu mir nach Hause einzuladen, denn wir wollten beide diese Nacht nicht getrennt voneinander verbringen. Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich nur soviel verraten. Nach ungefähr neun Monaten ohne Sexualität, war es der perfekte Mann und der perfekte Moment des körperlichen Austauschs. Er zeigte sich einfühlsam und ließ mir den Raum und die Zeit, die ich brauchte, um mich frei zu entfalten. Wir verbrachten eine wunderschöne Nacht mit viel Nähe und ich erlangte mein körperliches und seelisches Gleichgewicht wieder.
Am nächste Morgen wachten wir gemeinsam auf, machten uns fertig, verließen das Haus und begaben uns zum Café, um uns mit Nina zu treffen. Ich fühlte mich berauscht und noch verknallter, als zwei Tage zuvor. Gleichzeitig spürte ich das Verlangen, die Sehnsucht in mir, das Vergangene wieder erleben zu wollen. Die Leichtigkeit unseres Umgangs miteinander und das Wissen um die Abreise verstärkten dieses Gefühl. Plötzlich war er da. Dieser Hauch von Angst nicht loslassen zu wollen. Um dem zu entfliehen, fragte ich ihn, ob er auch den kommenden Abend mit mir verbringen wollte und weil er auch diese Frage bejahte, fühlte ich mich wieder sicher und verließ Nina und ihn, um noch ein paar Dinge zu erledigen. Doch der Moment der Leichtigkeit war verloren und wich einer leichten Anspannung, die ich jedoch nicht wahr haben wollte. So verlor ich mich immer mehr in die Illusion der Zukunft und verließ ein Stück die gegenwärtige Realität.
Am Abend machte ich mich zur verabredeten Zeit auf den Weg zu Nina, um ihn abzuholen. Nach einem kurzen Gespräch zu dritt verließen wir Nina und gingen zum Hafen, da er den Wunsch geäußert hatte noch etwas draußen zu verweilen. Wir redeten viel miteinander. Über dies und das, über belangloses, aber auch tiefsinniges. Doch nie über uns und das Geschehene der vergangenen Tage. Ich hatte nicht den Mut es anzusprechen und wollte einfach nur den Moment genießen, wiederholen, was ich mit ihm zuvor erlebt hatte. In meinen Gedanken schwang allerdings auch schon der Abschied mit, der vor uns lag und der mir die Leichtigkeit nahm. Wir machten uns auf den Weg zu mir nach Hause, redeten dort weiter bis zu dem Moment, in dem mich die Sehnsucht nach körperlicher Nähe einholte und ich sie auch bekam.
In der Nacht erwachte ich aus einem Traum, der die Angst vor dem bevorstehenden Abschied widerspiegelte. Er hatte einen leichten Schlaf, wachte ebenfalls auf und fragte mich, was los sei. Zum ersten Mal sprachen wir über uns, doch hatte ich nicht den Mut zu sagen, dass ich mich verliebt hatte, denn ich hatte Angst vor Zurückweisung, vor dem Ende dieser Geschichte. Er sagte mir, dass unsere gemeinsame Zeit sehr schön für ihn war, er jedoch auch wieder abreisen musste, was bedeutete, dass 650 Kilometer zwischen uns lagen. Für ihn unüberbrückbar. Für mich nur ein Gedanke: Liebe ist doch grenzenlos.
Der Abschied nahte und ich versuchte es so zu nehmen, wie es war. Am Morgen standen wir auf, jeder machte sich fertig und wir verließen das Haus. Dies war nun der letzte Moment, in dem wir voreinander standen. Die Sonne strahlte. Ein letzter Kuss, eine innige Umarmung und letzte Worte der gegenseitigen Dankbarkeit für das Erlebte. Dann trennten sich unsere Wege. Ich blickte noch ein letztes Mal zurück bevor ich mich auf das Fahrrad schwang und davon fuhr.
Er ging zurück zu Nina, um seine Sachen zu packen und schließlich den Heimweg anzutreten. Nina begleitete ihn ein Stück auf dieser Fahrt, da sie beruflich in die gleiche Richtung musste. Dies bedeutete für mich, dass ich sie in den nächsten Tagen nicht sah und so auch nicht mit ihr über meine Gefühle und das Erlebte sprechen konnte. Damals fehlte mir dieser Austausch mit ihr, der mir bis heute sehr viel bedeutet, da sie mir aufmerksam zuhört, ich mich ihr mitteilen kann und oft dadurch mehr Klarheit über das bekomme, was mich gerade bewegt. Es ist eine tiefe, freundschaftliche Liebe, die uns verbindet und die vor allem für mich so bedeutungsvoll ist, weil sie bedingungslos ist. Wir lieben uns so, wie wir sind.
Nun ja, so musste ich mich nun erst einmal selber mit der Situation auseinandersetzen. Zunächst beschwingte mich das schöne Gefühl aus den gemeinsamen Stunden mit ihm so sehr, dass ich meinte ganz gut klar zukommen. Doch dieser Zustand sollte mir nur für kurze Zeit gewährt sein. Ich konnte und wollte einfach nicht loslassen. So kam es, wie es kommen musste. Zum zweiten Mal schlug der Blitz ein. Doch diesmal war es die Sehnsucht, die mich heimsuchte. So gewaltig, dass es schmerzte, ja, weh tat. Ich verlor mich im Rausch des Verliebtseins, verlor meine Selbstsicherheit, versuchte wieder Kontrolle über mich und diese Gefühle zu bekommen und Einfluss auf meine Zukunft zu nehmen.
Zwei Tage später hielt ich es kaum noch aus und rief ihn schließlich an, nachdem ich mich mit Nina telefonisch ausgetauscht und ihr von meiner Sehnsucht erzählt hatte. Dieses erste Gespräch mit ihm fühlte sich gut an. Es war schön seine Stimme zu hören und er freute sich über meinen Anruf. Wir redeten, lachten, erfreuten uns an dem Gehörten und erzählten uns Geschichten. Die Zeit verging wie im Flug und für mich waren es zwei Stunden voller Hochgefühl. Wir verabschiedeten uns und verabredeten uns für weitere Telefonate in den nächsten Tagen. Meine Sehnsucht war gestillt und ich fühlte mich zufrieden und glücklich.
Die Zeit zwischen den Anrufen gab ich mich meinem Liebesrausch vollends hin und wies alle Symptome auf, die das Verliebtsein so mit sich brachte. Meine Endorphine tanzten mit dem Dopamin im Sekundentakt, das Adrenalin rief: „Hallo, hier bin ich.“ immer dann, wenn wir telefonierten und es machte sich eine Appetitlosigkeit breit, weil ich mir selbst genug war. Mein Verstand sprudelte über vor Träumen, Wunschvorstellungen und Fantasie. Eine davon war es, ihm zu beweisen, dass Liebe grenzenlos ist und die Kilometer, die zwischen uns lagen, dies beinhaltete. Außerdem hatte ich den unsagbaren Wunsch ihn wiederzusehen.
In den folgenden Tagen bekam ich ein Angebot nach Berlin zu fahren. Dieser Umstand beflügelte sofort meine Fantasie, da er nicht allzu weit von dort entfernt wohnte. Für mich öffnete sich eine Tür, eine tatsächliche Möglichkeit in Betracht zu ziehen ihn zu besuchen. Ach was... Möglichkeit. Ich tat nun alles dafür meinen Traum wahr werden zu lassen, weil ich es so sehr wollte. Also organisierte ich alles notwendige und schrieb ihm eine Nachricht, dass ich ihn besuchen wollte und fragte ihn, ob er damit einverstanden ist. Er war es und mein Herz sprang vor Freude auf und ab. Ich spürte eine maßlose Energie in mir.
Die stundenlangen Telefonate mit ihm in dieser Zeit strahlten vor Euphorie, waren beschwingt von interessanten Geschichten rund um unser Leben. Ich lernte viel über ihn und seine Umgebung kennen und saugte jedes Wort wie einen Schwamm auf. Ich fühlte mich wie ein Wellenreiter, der von einer zur nächsten Welle sprang ohne an ein Ende zu denken oder darauf zu achten, wie groß die nächste Welle ist. Ich wollte immer weiter und höher hinaus und der Liebesrausch war unersättlich. Ich fühlte mich süchtig danach.
Was ich dann auch ignorierte waren die Nebenwirkungen, die jeder Rausch mit sich bringt. In meinem Fall war es das Rauschen in meinem linken Ohr, das sich besonders nach den stundenlangen Telefonanrufen bemerkbar machte. Einige Jahre zuvor hatte ich unter anderen Umständen zwar schon einmal einen Hörsturz erlebt, doch in diesem Moment dachte ich nicht daran und wollte mich auch nicht näher damit auseinandersetzen.
Mit Nina tauschte ich mich in diesen Tagen viel über die Liebe aus. Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichten dazu, redeten über unsere Gefühle und über unsere Gedanken von damals und heute. Alles veränderte sich.
Ungefähr eine Woche nach unserem ersten Telefonat und ein Paket später, das ich ihm zugeschickt hatte und in dem sich eine Flasche Gingerbier zur Erinnerung an unseren Abend in der Cocktailbar befand, telefonierten wir geschlagene sechs Stunden miteinander. Es war das Wochenende vor „Tanz in den Mai“ und so erzählte er mir, wie er mit Freunden geplant hatte den Dienstagabend zu verbringen und zu feiern. Irgendetwas in mir hörte seinen Worten zu und gab mir ein ungutes Gefühl, ohne zu wissen, warum es so war. In den nächsten zwei Tagen ließ mich dieses Gefühl nicht mehr los, sondern verstärkte sich noch. Es gab mir den Anlass dazu früher als geplant zu ihm zu fahren. Ich wollte herausfinden was mich dort erwartet, wenn ich ihm gegenüber trat und eines wollte ich auf gar keinen Fall mehr: warten. Ich hatte keine Geduld mehr und schon längst keine Kontrolle mehr über diesen Liebesrausch. Und ich musste es jetzt tun. Jetzt oder nie.
So packte ich meine Sachen für ein paar Tage zusammen – ich wusste nicht, wie lange ich bleiben würde – und war am Dienstagmorgen bereit, um zu ihm zu fahren. Zuvor traf ich mich allerdings noch mit Nina im Café, weil unsere Freundin Carol Geburtstag hatte und wir sie mit Kuchen und Gesang dort überraschen wollten. Sie lieh mir außerdem ein Navigationsgerät für meine Reise. Meine Zeitreise in die Zukunft zu dem Zeitreisenden, wie er sich selbst genannt hatte, weil er vor ein paar Wochen eine Zeitreise in seine Vergangenheit unternommen hatte. Um 12 Uhr Mittags stieg ich in mein Auto ohne zu ahnen, was mich erwartete oder was passieren würde und ohne sein Wissen, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Zwei Stunden später ließ ich ihm dann eine Nachricht zukommen, dass ich unterwegs zu ihm war. Er schrieb zurück, dass er mir erst einmal viel Spaß in Berlin wünschte. Ich war verwirrt und teilte ihm mit, dass ich früher als geplant direkt zu ihm kommen würde und zwar ohne Umwege. Er versuchte mich anzurufen. Da ich jedoch mit fahren beschäftigt war und sich weit und breit keine Raststätte zeigte, konnte ich nicht annehmen. Zweiter Anruf. Ich fluchte innerlich. Nach einigen weiteren Kilometern bot sich dann endlich eine Möglichkeit anzuhalten und ich rief ihn sofort zurück. Er freute sich mich zu hören und nach einer kurzen Schilderung meiner Pläne war er zwar überrascht über meinen spontanen Besuch, lud mich jedoch auch herzlich ein zu kommen. Er würde da sein.
Nun konnte ich mich vollends entspannen und mich einfach nur noch der Freude hingeben ihn wiederzusehen. Außerdem war ich neugierig auf diesen Ort und seine Umgebung, die ich zuvor noch nicht kennengelernt hatte. Am frühen Abend traf ich dann ein in dieser unbekannten Stadt und fand recht zügig Dank des Navigationsgerätes zu dem Haus, in dem er wohnte. Es hatte eine blaue Außenfassade und ich parkte unmittelbar vor der Haustüre. Ich fühlte die Aufregung in mir aufsteigen, denn unser Zusammentreffen stand kurz bevor und ich hatte keine Ahnung, wie es werden würde. Plötzlich wurde ein Fenster im Erdgeschoss geöffnet und er blickte mir entgegen, begrüßte mich freudig mit einem „Hallo“ und bat mich einen Augenblick zu warten, da er soeben aus der Dusche gesprungen war und sich noch etwas überwerfen wollte. Ich nahm meine Tasche aus dem Kofferraum und betrat das Haus, da er mir schon einmal aufgedrückt hatte. Die Wohnungstür war geöffnet und er stand dort im Flur. Wir strahlten uns gegenseitig an und waren doch auch etwas befangen wegen der surrealen Situation. Dann umarmten wir uns.
Sechs Tage sollte meine Reise dauern. Sechs Tage voller neuer Erlebnisse, gemeinsamer Stunden und Stunden mit mir alleine. Sechs Tage voller Emotionen jeglicher Art. Von traurig bis himmelhoch jauchzend. Sechs Tage voller Liebe, die sich veränderte. Der Wunsch nach einer romantischen Liebesbeziehung wich der Realität und wandelte sich in eine freundschaftliche Liebe. Es sollte jedoch noch einige Wochen dauern bis ich letztendlich verstand was alles passiert war und loslassen konnte.
Diese Reise wurde zu einem Abenteuer, so wie ich es mir für mein Leben wünschte. Ich bewegte mich mit offenem Herzen und voller Neugier in der neuen Umgebung und entdeckte so viel wundervolles. Ich fühlte mich glücklich dort, verbrachte einige Zeit alleine auf Entdeckungsreise, lernte dabei neue Menschen kennen, mit denen ich liebenswerte, herzliche Momente erlebte und teilte meine Erlebnisse mit ihm jeden Tag in langen Gesprächen. Besonders freute ich mich darüber, dass er mir sein Leben dort nahe brachte, mir wunderschöne Landschaften zeigte und mich Menschen vorstellte, die ihm sehr viel bedeuten. Wir waren aufrichtig zueinander und er zeigte viel Verständnis für meine Gefühle und ließ mir die Zeit und den Raum, mir Klarheit über mich zu verschaffen und die traurigen Momente los zu werden. Wir verbrachten viele Stunden miteinander, in denen wir einfach redeten. Offen und ehrlich. Und wir lernten so den anderen besser kennen und schätzten die gemeinsame Zeit. Eine Geschichte aus diesen Tagen liegt mir sehr am Herzen, weshalb ich sie hier erzähle.
Es war der Tag meiner Abreise und wir hatten uns mit seinem Großvater, der schon auf 90 Lebensjahre zurückblickte, zum Mittagessen um 12 Uhr in einem Gasthof verabredet. Der Großvater freute sich über meine Anwesenheit. Wir hatten uns schon einen Tag zuvor bei ihm zu Hause kennengelernt, wo er mir aus Freude über meinen Besuch ein Glas Wein anbot, mir Geschichten aus seinem Leben erzählte und mir ein Lied vorsang, was mich sehr berührt hatte. So freute auch ich mich ihn wiederzusehen.
Der Gasthof wurde seit über drei Jahrzehnten von dem Wirt betrieben, der uns sehr herzlich begrüßte und allen wohlbekannt war. Er setzte sich kurz zu uns für einen kleinen Plausch und ich konnte die Liebe zu seiner Berufung spüren, die sich in jeder Ecke des Gasthofes widerspiegelte, bis in die Küche, wo uns der Koch mit einfachen, kulinarischen Köstlichkeiten verzauberte. Doch zuvor bekamen wir noch weiteren Besuch. Ein befreundetes Ehepaar des Großvaters gesellte sich an unseren Tisch, denn von Zeit zu Zeit waren sie dort auch mit ihm verabredet. Sie war 94 Jahre alt und er zählte 93 Lebensjahre. Über 360 Lebensjahre waren dort am Tisch nun versammelt und erzählten Anekdoten aus ihrem reichhaltigen Leben. Wir lachten und hatten Freude daran den anderen zuzuhören. Dann kam der Moment, in dem ich gefragt wurde, wann ich wieder abreisen würde. Alle Augen waren auf mich gerichtet und nachdem ich mitgeteilt hatte, dass dies meine Abreisetag sei, herrschte für einen Augenblick absolute Stille gefolgt von der fassungslos klingenden Bemerkung aus allen Mündern gleichzeitig: „Heute schon?!“. Besonders er sah mich mit erschrockenem Gesichtsausdruck an. Ich war berührt von dieser spontanen Gefühlsäußerung, die zum Ausdruck brachte mit welcher Herzlichkeit ich dort aufgenommen wurde. Ich fühlte, dass die Liebe, die ich in jeden Moment hinein gegeben hatte, den wir gemeinsam verbrachten, nun zurück kam. So beruhigte ich alle mit den Worten, dass ich meine Rückreise auf den späten Abend oder die Nacht verlegen würde, so dass noch viele Stunden vor uns lagen. Er und ich verabschiedeten uns nach dem Essen von den drei betagten Herrschaften und begannen die letzten gemeinsamen Stunden.
Es wurde ein fantastischer Tag. Die Sonne schenkte uns viel Wärme, ich lernte Freunde von ihm kennen, mit denen wir den Nachmittag am See verbrachten und wir teilten glückliche Momente miteinander. Es war sehr viel Spaß dabei und doch spürte ich langsam, dass die Zeit gekommen war zu gehen. Ich wollte in mein eigenes Leben zurückkehren. Am Abend saßen wir dann ein letztes Mal gemeinsam in seiner Küche und redeten über die vergangenen Tage. Das Gespräch war schön und voller Anerkennung füreinander und doch schwang bereits der Abschied mit, der uns etwas befangen machte.
Dann war er da. Der Moment. Er hatte mich noch zur Tankstelle begleitet und fuhr mit mir kurz um die Ecke, wo ich am Straßenrand halt machen konnte. Ich stieg aus und schritt ihm entgegen, denn er war auch schon aus dem Wagen gesprungen. Wir sahen uns an und umarmten uns dann wortlos, fest und innig. Ich fühlte wie seine und meine Emotionen hoch gespült wurden, uns regelrecht die Sprache verschlugen. Kurz lösten wir uns, um uns nochmals zu umarmen. Dann bedankte er sich voller Rührung bei mir für den Besuch, weil ich soviel positive Energie dorthin gebracht hätte, die er und die Menschen gespürt haben. Es war ein Moment voller Dankbarkeit und Liebe. Ohne Verlangen und bedingungslos.
Doch das „Verliebt sein“ sollte mich noch ein Stück des Weges begleiten, der Rausch, der auch mein Ohr nicht in Ruhe ließ.
Auf dem Rückweg nach Düsseldorf hielt ich nur einmal an, um zu tanken und um ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich schrieb ihm, was ich zuvor bei der Verabschiedung nicht sagen konnte, weil ich erst diesen Abstand brauchte und mir auch vorher der Mut fehlte. Die Nachricht lautete: „Ich liebe Dich. Bedingungslos.“ Und in diesem Moment fühlte ich es genau so. Ich fühlte mich frei und glücklich. Hatte ich doch zum ersten Mal für mich bewusst bedingungslose Liebe erfahren, auch wenn es nur ein Moment lang dauerte und ich noch weitere Geschichten erleben würde, die mich lehrten, was es bedeutet dies auch zu leben. Denn ich war noch lange nicht soweit alles zu verstehen. Aber vor allem war ich dankbar dafür, dass ich dies mit diesem Mann erleben durfte, der heute noch ein gern gesehener Freund und ein liebenswerter, toller Mensch ist. Diese Geschichte sollte dann auch für mich der Beweggrund sein, mich mit dem Thema „Liebe“ theoretisch so intensiv auseinanderzusetzen, wie ich es in diesem Umfang in meinem Leben noch nie getan hatte. Im Rückblick war es ein Meilenstein, der für meine persönliche Entwicklung von großer Bedeutung war.
Zurück in Düsseldorf erwartete mich meine Freundin Nina, die zu diesem Zeitpunkt gerade Besuch aus Hamburg bekommen hatte. Branco kannte ich bisher nur über gemeinsame Telefonate, den Erzählungen von Nina und regelmäßigen Chat-Nachrichten in der virtuellen Welt. Was ich damals noch nicht ahnte, dass er der Auslöser für das Projekt „Das Büro der Liebe“ war. Doch dazu später mehr.
Zunächst wollte ich mit den beiden Zeit verbringen, um mit ihnen auch meine Erlebnisse zu teilen. Ich freute mich sehr über die erste Begegnung mit Branco in der realen Welt, diesen wunderbar verrückten Menschen, der für jeden Spaß zu haben war und auch immer ein offenes Ohr hatte für die tiefsinnigen Dinge des Lebens. So manche Lebensgeschichte hatten wir uns schon erzählt und uns ausgetauscht über unsere Gefühlswelten. Meistens zu dritt mit einem Höchstmaß an Humor.
Am Morgen nach meiner Ankunft verabredeten wir uns dann im Café und das erste Zusammentreffen in der realen Welt hielt meiner Vorstellung stand. Es war grandios. Branco und ich begrüßten uns wie alte Freunde, die sich schon lange kannten und sich nun endlich wieder trafen. Freundschaftliche Liebe, mein Liebesrausch und die Wiedersehensfreude auch von Nina und mir trafen aufeinander und machten den Moment unvergleichlich. Kaum, dass Worte erzählen können, wie wir es fühlten und erlebten. Ich sprudelte über in meinen Erzählungen über das gerade geschehene und war froh endlich davon erzählen zu können, es mit zweit tollen Menschen zu teilen. Für mich war es auch die Möglichkeit es ein Stück loszulassen und zu verarbeiten, so dass ich wieder mehr im Hier und Jetzt leben konnte. Es waren wundervolle Tage angefüllt mit Lebensfreude, Ausgelassenheit, Vergnügen und – wie kann es anders sein – mit Liebe. Wir lebten das Leben und erfreuten uns an dem anderen, als wenn es kein Morgen gäbe. Wir redeten unendlich viel über die Liebe und so geschah es, dass Branco in einem heiteren Moment die folgende Äußerung von sich gab: „Ihr zwei müsstet eigentlich das Büro der Liebe eröffnen.“. Nina und ich lachten herzlich darüber und kommentierten seine Worte mit: „Was soll das denn bitteschön sein.“. Und damit beließen wir es auch bei dem Gedanken an diese Idee und gaben uns wieder dem Fluss des Lebens hin.