Читать книгу Wolfsfieber, Dryade-Eismagier - Aline S. Sieber - Страница 10
Schlacht bei Metz in Frankreich, 1944
ОглавлениеHenry hatte sich wieder freiwillig gemeldet und dem französischem Sanitätsbataillon zuordnen lassen. Nun belagerten die Deutschen Metz bereits seit mehr als einer Woche, und die Lebensmittel wurden langsam knapp. Sein Vorgesetzter hatte ihn beauftragt, um neue zu beschaffen. Der Vampir fühlte sich unwohl in seiner Haut. Wie konnte er den Bürgern der Stadt jetzt, da es kaum mehr Nahrung gab, noch etwas wegnehmen, nur um die Soldaten durchzufüttern? Wenn sie schon hungerten, dann doch wenigstens alle zusammen!
Der Heiler fasste einen Entschluss: Er würde ohne die gewünschten Nahrungsmittel zurückkommen. Noch während er durch die Gassen ging, stürzte ihm ein Mädchen vor die Füße. Sie war nicht älter als siebzehn. Ihr Rock war genauso verschmutzt wie die Kleidung aller anderen. Sie durfte nicht verdursten, nur weil er beschlossen hatte, dass das Leben der Soldaten wichtiger war als das der Bürger!
Es störte ihn natürlich nicht, kein Essen zu bekommen, wenn er erfolglos war. Schließlich brauchte er es sowieso nicht und gab es nur den Kranken. Dabei achtete er darauf, nie etwas wegzuwerfen. Es gab immer jemanden, der bedürftig war.
Henry wusste, dass er bald weiterziehen musste. Er war schon so lange hier, dass es den Leuten langsam auffiel, dass er nicht alterte. Am Anfang hatte er sich als sechzehn ausgegeben, ein Jahr jünger, als er es vor seiner Wandlung gewesen war, aber inzwischen waren schon wieder zwei Jahre ins Land gezogen. Die Grenzen der Stadt und der Grafschaft, ja, vielleicht sogar des Landes, musste er nun bald hinter sich lassen.
Es war an der Zeit, wieder einmal nach Britannien zu ziehen, dort hatte sich in den letzten Jahren eine Menge getan. Sehnsüchtig dachte er an seine Heimat. Auch die Zeit dort würde nicht reichen: nach zwei, spätestens drei Jahren musste er weiterziehen. Immer und überall.
Er schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass er keine Nahrung bei sich hatte. Dann half er dem Mädchen hoch, das trotzdem flehend die Hände nach ihm ausstreckte.
„Es tut mir leid, ich habe nichts.“
Sie verstand ihn. Enttäuschung, dann Verachtung zeigten sich auf ihrem Gesicht, als sie sich losriss und wegging.
Der Rückweg ins Lager gestaltete sich nicht viel einfacher. Er fragte sich noch immer, was die Leute wohl an ihm fanden. Heilen konnte er sie, aber mehr nicht. Seine Kleider waren zerrissen und abgetragen, Schuhe trug er nicht. Er war beinahe unempfindlich gegen die Kälte geworden, seit er sich gewandelt hatte. Es war genauso eine Umstellung wie das Trinken von Blut.
Als er am nächsten Morgen ins Sanitätszelt gerufen wurde, wusste er sofort, dass etwas anders war. Die Deutschen mussten in der Stadt eingefallen sein, denn die Verwundeten, die nun zu ihnen gebracht wurden, waren nicht mehr ausschließlich Soldaten. Er hörte die Schreie von draußen. Einige verstummten nach einer Weile. Die Männer, die es nicht bis ins Zelt geschafft hatten, schrien um Hilfe - oder schwiegen für immer.
Er strich einem jungen Mann die Haare aus dem Gesicht, um die Kopfwunde besser versorgen zu können. Sie blutete stark und färbte das blonde Haar rot. Zum Glück war der Mann ohnmächtig! Fraglich, ob er noch einmal aufwachen würde. Er verband die Wunde und untersuchte den Soldaten dann mit einigen sicheren Handgriffen auf weitere Verletzungen. Froh, keine zu finden, stieß er den angehaltenen Atem aus. Zumindest konnte der Mann überleben.
Er wollte sich gerade dem Nächsten zu, als eine Stimme ihn zurückhielt.
„Stillgehalten!“
Die Spitze eines Bajonetts bohrte sich in den Rücken des Heilers. Er blieb stehen. Plötzlich fiel ihm die Stille auf. Es erklangen keine Schreie mehr von draußen, keine gebrüllten Befehle. Totenstille. Er schluckte.
„Was wollt ihr von mir?“ Keine Antwort, nur ein weiterer Befehl.
„Umdrehen.“
Hätte er jetzt seine Kräfte angewandt, hätte er wohl eine Wahl gehabt – aber danach hätte er vermutlich sterben müssen. Henry fürchtete sich zwar nicht vorm Tod, aber er wollte ihm trotzdem noch nicht begegnen. Er leistete auch diesem Befehl Folge.
Vor ihm stand ein deutscher Offizier, ein Leutnant, der Uniform nach zu urteilen. Der Mann musterte ihn mit kalten Blick.
„Na so was! Ich hätt´ nicht gedacht, dass die Wargebrüder auch hier vertreten sind!“
Henry wurde kalt. Der Mann hielt ihn für homosexuell! Soweit er bisher erfahren hatte, verachteten die Deutschen nichts mehr als Männer, die andere Männer liebten.
Dann fiel sein Blick auf einen der hinteren Männer, die während der kurzen Unterhaltung ins Zelt gekommen waren. Monsieur. Der Blick seines Freundes war ebenso hart und stechend wie die der ihn begleitenden deutschen Soldaten. Seine Glieder gefroren zu Eis.
Freunde taten so etwas nicht. Hatte Monsieur die Seiten gewechselt? Der Offizier reichte das Bajonett an einen seiner Untergebenen weiter und kam auf Henry zu. Er packte die Kehle des Jungen. Falls er gemerkt hatte, wie kalt dessen Haut war, so schien er es der Angst zuzuschreiben, denn sein Gesicht zeigte keine Regung. Henry war noch nicht lange genug Vampir, um nicht mehr atmen zu müssen. Als der Mann ihm die Luft abdrückte, öffnete und schloss sich sein Mund erfolglos beim Versuch, Sauerstoff auszunehmen.
Leutnant Müller stieß den Jungen verächtlich von sich. Monsieur betrachtete das Schauspiel mit ungerührter Miene. Er wusste schon seit einigen Tagen, dass Henry hier war. Der Junge war ein Heiler, folglich zog es ihn zum Krieg. Er hätte allerdings darauf verzichten können, dem Engländer hier gegenüber zu stehen. Seit Henry sich in London als unnütz erwiesen hatte, war er nicht besonders erpicht darauf, ihn wiederzusehen. Das hier konnte allerdings interessant werden, denn er wusste im Gegensatz zu dem anderen Vampir, dass Müller erst vor zwei Tagen seinen Bruder an die Franzosen verloren hatte, die er allesamt für warme Brüder hielt. Den Heiler bei einer so intimen Tätigkeit wie einer Heilung zu betrachten, hatte seine Wut wieder hochkochen lassen.
Henry schnappte nach Luft und rappelte sich auf. Sofort stieß ihn der Deutsche wieder zu Boden, diesmal härter. Er zog sein Messer und rammte es dem Jungen in den Bauch. Blut spritzte aus der Wunde, als er die Waffe wieder herauszog. Der Heiler verzog das Gesicht, schrie aber nicht. Da er seine Kräfte bis jetzt noch nicht angewandt hatte, wollte er wohl unerkannt bleiben. Monsieur war versucht, die Stirn kraus zu ziehen. Wenn Henry das durchhielt, würde er heute seinen eigenen Tod vortäuschen müssen. Nun, diesmal würde er selbst nicht helfen. Der Junge hatte seine Gründe.
Müller stieß ihm das Messer zwischen die Beine. Henry schrie auf, als der Leutnant ihm die Hose auseinanderschnitt und dann nochmals zustieß. Der Deutsche griff in seiner Raserei nach einer Holzstange, die zufällig in Reichweite lag. Dann stieß er den Jungen an, damit dieser auf den Bauch rollte, bevor er mit der Stange zustieß. Monsieur belächelte die Eigenschaft des Deutschen, sich selbst in dieser Situation nicht die Hände schmutzig machen zu wollen. Und dabei hatte er sich gerade erst aufgewärmt.
Es war beinahe ein Wunder, dass er überhaupt erwachte. Sein ganzer Körper schmerzte, was sowohl an der Misshandlung durch die Deutschen als auch an dem enormen Blutverlust lag. Er registrierte verschwommen, dass jemand seine Wunden verbunden hatte.
Er stemmte sich hoch und stand nur wenig später auf den Füßen. Nach dem, was hier passiert war, mussten sie ihn für tot halten, es war also besser, wenn er so schnell wie möglich verschwand. Ihm wurde einen Moment lang schwarz vor Augen. Er streckte eine Hand aus und tastete blind nach der Liege. Seine Sicht wurde wieder klar. Er durfte nicht daran denken, was vor wenigen Stunden geschehen war… Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches. Der Heiler senkte den Blick und sah den Leutnant, der mit weit aufgerissenen Augen zu ihm herauf starrte. Der Mann war tot, das wusste er. Jemand hatte ihm die Kehle durchgebissen. Monsieur. Es konnte kein Anderer gewesen sein..
Er stieg über den Leichnam hinweg und trat aus dem Zelt. Der Wald war nicht weit weg, er konnte es also schaffen.
Nicht nachdenken.
Als hinter ihm ein Geräusch ertönte, zuckte er zusammen. Die Bewegung schmerzte.
Denk nicht daran.
Jemand schrie ihm eine Warnung hinterher. Nein, nicht ihm, sondern einem der Leichenfledderer. Henry stieg über den Körper eines Jungen, den er erst vor zwei Tagen kennen gelernt hatte. Die Schrotflinte seines Vaters lag noch in seiner Hand. Das Gesicht des Jungen war nicht mehr wiederzuerkennen, es bestand nur noch aus einer breiigen Masse. Henry wandte den Blick ab.
Nie wieder Krieg.