Читать книгу Wolfsfieber, Dryade-Eismagier - Aline S. Sieber - Страница 8
London, England, 1902
Оглавление„Meint Ihr wirklich, dass uns hier niemand aufspürt?“
Der Dieb hatte Angst, das konnten sie alle ganz deutlich hören. Er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte, ansonsten hätte er vermutlich nicht zugesagt. Aber sie hatten diesmal Auftraggeber, die ein Versagen nicht dulden würden. Entweder, er bekam die Goldfigur, die sie stehlen sollten, oder sie würden in Zukunft Schwierigkeiten bekommen.
Henry arbeitete tagsüber normalerweise in einem Hospital in der Nähe, da er sich schlichtweg weigerte, unlauteren Tätigkeiten nachzugehen, aber Monsieur und Michel hatten diesmal darauf bestanden, dass er sie begleitete. Schließlich verdienten sie so ihren Lebensunterhalt und er hatte früher oder später etwas beizutragen. Das karge Gehalt, das das Versorgen der Kranken abwarf, gab in dieser Richtung verständlicherweise nicht viel her. Aber immerhin machte ihm die Arbeit Spaß.
Er kniete bei einem Kranken, als er herumgerissen wurde. Ein schwerer Knüppel traf seinen Kopf. Henry taumelte, blieb aber bei Bewusstsein. Dann sprang er auf und versuchte, zu fliehen. Er kam nicht weit. Der Angreifer hielt ihn zurück und stieß ihm dann mehrere Male das Messer in den Leib. Er traf das Herz des jungen Schattenwandlers, woraufhin dieser vor Schreck die Augen weit aufriss und dann zusammensackte. Der Mann ließ ihn liegen.
Mit dem Blut, das aus seinen zahlreichen Wunden und seinem Mund flutete, verließ auch das Leben seinen Körper. Es wurde dunkel um ihn herum. Schwärzer als die Nacht.
Der Patient im Krankenbett verfolgte den Angriff mit den Augen. Der Mörder beugte sich zu ihm hinunter.
„Es wird Ihnen genauso ergehen, sollten Sie versuchen, dem Duke of Gloucester zu schaden.Merken Sie sich das!“
Dann drehte er sich um und verschwand. Der Mann im Bett sank zurück in die Kissen und wünschte sich, er hätte irgendetwas für den Jungen tun können.
„Sie sind sein Vormund, Mylord?“
„Durchaus. Wo steckt der Junge?“
„Es ist meine traurige Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, dass wir gestern Abend überfallen wurden. Der Attentäter hatte es wohl auf den Earl of Salisbury abgesehen, ihn aber verfehlt. Seine Lordschaft schlief während des Vorfalls. Ihr Mündel kam tragischerweise ums Leben.“
Monsieur wand sich innerlich ob dieser Nachricht. Wenn jemand Henry die Kehle durchgeschnitten hatte, war das eine Sache. Aber sie mussten Kontakt mit dem Sonnenlicht trotzdem auf jeden Fall vermeiden. Der Junge war noch nicht lange Vampir. Er würde verbrennen.
„Wo kann ich ihn abholen? Ist er noch in Ihrem Hospital?“
„Ja. Wir haben sogar bereits einen Sarg anfordern lassen. Nur so teuer, wie es sein Verdienst erlaubt. Ich hoffe, das war in Ihrem Interesse.“
Elender Leuteschinder. Aber zumindest hast du das Richtige getan.
„Das war es. Wo kann ich ihn finden?“
„Kommen Sie einfach ins Hospital und fragen Sie nach Bruder Peter. Der weiß dann, was zu tun ist.“
Der Mann drehte sich um und ging. Seine freundliche Maske hatte für heute genug geleistet.
Es war schade, dass Queen Victorias Regierungszeit vor einem Jahr abgelaufen war. Sie hatte sich nicht weiter in die Politik eingemischt und es ihm leicht gemacht, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Monsieur war ein Meister der Manipulation. Er grinste. Es würde sich schon jemand finden, der genauso leicht beeinflussbar war wie die alten Herren des englischen Königreiches…
Wolfsaugen
Christian sah sich selbst, wie er reglos auf den Rücken seines Entführers lag. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht so blass, dass er geglaubt hätte, jedes Leben wäre aus dem Körper gewichen, wäre es nicht er selbst gewesen, dem er ins Gesicht sehen konnte. Der Mann hielt an, um sich den Ballast vom Rücken zu laden. Sein Kumpan verharrte schweigend und wartete. Der Stärkere der beiden schlug ihm kräftig ins Gesicht und sein Kopf flog auf die Seite, ohne dass er davon wach wurde. Aber wie sollte er das auch? Schließlich war sein Geist außerhalb des ihm angestammten Körpers.
Er musste Hilfe holen, sonst wich bald sämtliches Leben aus ihm und es würde auch dieses Überbleibsel nicht mehr geben. Einige Hundert Meter entfernt nahm er eine Person wahr. Dort musste er hin.
Iris war, als ob sich für einen winzigen Moment ein Schatten in ihren Augenwinkeln zeigte. Etwa einige hundert Meter entfernt von ihr. Sie fuhr langsamer weiter, vorsichtiger. Dort war etwas. Oder jemand. Sie warf sich instinktiv in den Schnee und machte sich dort so klein wie möglich. Dann lugte sie vorsichtig aus ihrem Versteck und sah, dass die Gestalten in die entgegengesetzte Richtung liefen, weg vom Dorf. Eigenartig.
Erst danach bemerkte sie, dass dort noch jemand im Schnee lag.
Sie wagte sich heraus, sobald die Größeren verschwunden waren und eilte zu der Stelle, an der ein weiterer Schatten sich vom der eintönigen Umgebung abhob.
Dort lag ein Junge. Sein Blut färbte den Schnee rot. Sie kannte ihn. Zumindest vom Sehen her. Er war eine Klassenstufe über ihr und jetzt offensichtlich verletzt, zu leicht angezogen und bewusstlos. Seine Hände waren vorm Körper zusammen gebunden. Was war hier nur passiert?
Das Mädchen schnallte ihre Skier ab und beugte sich über ihn. Sie merkte, dass er noch atmete, aber nur sehr schwach. Hoffentlich kam sie nicht zu spät! Ihre Angst wuchs noch weiter an, als sie feststellte, dass er sich einfach nicht wecken ließ. Sie musste verhindern, dass sein Zustand sich noch verschlechterte oder er womöglich sogar starb. Iris zog ihre dicke Jacke aus und stülpte sie ihm über, ließ seine Arme aber draußen. Die Fesseln waren inzwischen festgefroren.
Jetzt bloß nicht panisch werden, schoss es ihr durch den Kopf.
Dann schnallte sie die Skier wieder an, ging in die Hocke und zog seine Handgelenke über ihren Kopf. Er lag jetzt um ihren Hals. Er war ein Stück größer als sie. Egal. Es musste irgendwie klappen. Sie richtete sich auf, packte ihre Stöcke und fuhr los. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt es tatsächlich war. Sie musste sich wirklich beeilen.
Als die Menschen im Tal die Gestalt bemerkte, die den Berg herunter gefahren kam, meinten sie zuerst, die Wilderer wären zurück gekommen, doch die Person am Berg war allein und noch dazu zu schnell und zu klein für die beiden Männer. Einfach nur ein Skifahrer.
Die Eltern des Jungen waren inzwischen informiert wurden und warteten am Ort des Geschehens auf ein Zeichen ihres Sohnes. Der Junge wurde schon mehrere Tage lang vermisst, wie die Bergwacht feststellte. Bis jetzt hatten sie alle angenommen, er wäre freiwillig von zu Hause weggelaufen. Anna fieberte dennoch dem Skifahrer entgegen. Es konnte ja trotzdem sein, dass er Chris gesehen hatte.
Ein Menschenauflauf vor der alten Scheune? Wie ungewöhnlich! Iris musste wirklich etwas verpasste haben. Inzwischen fror sie. Dann dachte sie daran, wie sie ihn gefunden hatte. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er nicht erfroren war. Er konnte unmöglich lange dort gelegen haben, denn sonst wäre das schon eingetreten.
Sie hoffte, dass einer der Menschen dort unten den Jungen schnellstmöglich ins nächstgelegene Krankenhaus bringen konnte, und dass vielleicht jemand auch noch eine warme Jacke übrig hatte…
Ein Werwolf, der erfriert? Ich hätte es wissen müssen! Er lebte. Noch. Der Vampir lachte in sich hinein. Es war zu erwarten gewesen, dass diese dummen Menschen ihn weder erkennen noch töten würden. Schließlich waren sie Menschen! Aber leider war es ihm durch diverse Schwierigkeiten auch nicht gelungen, den jungen Werwolf zu töten. Es wäre auffällig gewesen, eine für seine Art so typische blutleere Leiche zu hinterlassen. Die Jäger würden sonst wissen, mit wem sie es hier zu tun hatten. Falls der Junge durch die Schussverletzung nicht doch noch starb, würde das wiederum an ihm selbst hängen bleiben. Aber egal, wie, er würde sterben.
Er sah auf die Leiche des Mannes herunter, der so leichtsinnig gewesen war, ihn unbedingt begleiten zu wollen. Die musste er auch noch beseitigen.
Die Kugel hatte Chris` Brust durchschlagen, das Herz aber war nicht getroffen wurden. Darüber waren sowohl die Familie des Jungen als auch alle Ärzte sehr froh. Keiner von ihnen hätte im Todesfall gewusst, wie er weiter verfahren sollte, ganz zu schweigen von der Trauer, die Erstere empfunden hätten. Freilich wäre es dann möglich gewesen, die Wilderer auch noch des Mordes anzuklagen, war doch der Junge von ihnen verwundet und entführt wurden, doch das hätte ihn auch nicht wieder ins Reich der Lebenden zurück geholt.
Kurzum: es war ein wahres Glück, dass er noch lebte.
„Oh du dummer, dummer Junge! Was musstest du denn auch mitten in der Nacht aus dem Haus gehen? Vielleicht, um zu schauen, wie das Wetter da ist?“ Chris wusste, dass der Tadel berechtigt war, doch der Ton seiner Mutter zeigte ihm, dass sie es nicht wirklich ernst meinte. Gemeinsam mit Anna hatte er sich eine Geschichte ausgedacht, die ihm ein Alibi für den Hergang jener zurückliegenden Tage gab, das auch noch glaubwürdig klang. Es war zwar eine Zumutung, dass sie selbst die eigenen Eltern belügen mussten, doch solange sie nicht zu Hause waren, befürchteten sie immer noch, dass die Wände Ohren haben könnte oder irgendetwas anderes nicht mit rechten Dingen zuging, weshalb sie warten wollten, bis er aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, um es den Eltern zu erzählen. Denn irgendwann musste er das tun, ob es nun früher oder später geschah, war trotzdem nicht egal, da jede Verspätung den Familienzusammenhalt stärker zerstören konnte.
Aber ganz spurlos waren die Ereignisse an keinen vorübergegangen. Mrs. und Mr. Hill sorgten sich mehr um ihre Kinder als zuvor, Anna sah sich immer und überall ständig um, Chris hatte Albträume und die ganze Gemeinde schien förmlich zu brodeln. Doch zum Glück ließ die angespannte Stimmung nach ein paar Tagen etwas nach.
Chris träumte. Immer und immer wieder erschien ihm ein Mann, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte. Zuerst stand er einfach nur da. Dann kam er auf den Jungen zu, um ihm so hart ins Gesicht zu schlagen, dass dieser zu Boden fiel. Dabei konnte er sich aber weder wehren noch sonst irgendwie bewegen. Danach prügelte der Unbekannte jedes Mal so lange auf ihn ein, dass er im Traum das Bewusstsein verlor und im eigenen Bett schwer atmend wieder erwachte. Chris hatte Angst. Ihm schien es so, als wolle der Traum ihm sagen, dass das alles noch lange nicht vorbei war, sondern gerade erst anfing.
Die Tragödie, die sich im Tal abgespielt hatte war nun, nachdem die Leute ihre Angst verloren hatten, ein alltägliches Thema. Jeder, der mit den verängstigten Eltern vor der alten Scheune gestanden hatte, gehörte jetzt mit zu den beliebtesten Personen des Tals. Der Junge selbst konnte sich auch im Krankenhaus vor Besuchern kaum retten, die Presse drangsalierte die Eltern. Jede Zeitung, selbst die der Nachbartäler und Dörfer berichtete von der Geschichte. Chris war das alles furchtbar peinlich. Noch vor kurzem wäre er fast gestorben und jetzt kam die Presse und machte einen Rummel daraus!
Allein sein. Das war wohl etwas, das er sich jetzt nicht mehr leisten konnte. Kaum war ein Besucher verschwunden, kündigte sich auch schon der nächste an, oder kam gar zur Tür hinein. Am liebsten hätte er sich unter seiner Bettdecke verkrochen, und das so lange, bis sie alle wieder gegangen wären. Man hatte ihm schon ein Einzelzimmer gegeben, damit er nicht so oft gestört wurde, doch nun war dessen Nutzen nur, dass andere mögliche Bettnachbarn sich nicht durch den vielen Besuch gestört fühlten…
Zum Glück waren es nur noch zwei Tage, bis er entlassen werden sollte. Da zurzeit keine Schule war, würde er sich zuhause verkriechen und den ganzen Rummel vergessen können. Sich nur ab und zu mal aus dem Haus bewegen, und dann oben bei der Alm oder im Wald. Aber er wollte sich auch mit seinen Freunden treffen, um ihnen, seinen Eltern und seiner gesamten Umgebung zu beweisen, dass es ihm gut ging und er wieder in der Lage war, Entscheidungen zu treffen.
Er wollte endlich die Angst aus den Augen seiner Eltern verschwinden sehen.
Inzwischen dachte der Vampir ständig daran, den hilflos vor ihm liegenden Jungen die Luft abzuschnüren, ganz langsam nur, damit diesem der Tod ja nicht zu schnell kam. Einen Tag und eine Nacht sollte er im Sterben liegen und er wollte dabei zusehen. Doch zuvor wollte er ihn quälen. Aber aufgrund dieses vertrackten Rechtssystems musste der Junge freiwillig zu ihm kommen. Wie er das anstellen sollte, war ihm noch ein Rätsel.
Niemand, der ihn kannte, würde sich jemals mit ihrem Bruder Willy anlegen. Iris wusste das. Aber sie wusste auch, dass sie sich voll und ganz auf ihn verlassen konnte, wenn es um sie selbst ging. Er war ein herzensguter Mensch, auch, wenn er das kaum zeigte. Nein, es kam nicht infrage, dass er sie verriet. In tiefster Nacht würde sie sich aus dem Haus schleichen müssen, um auf die Geburtstagsparty ihrer besten Freundin Maria zu kommen. Aber dieses Risiko war ihr das Ganze durchaus wert, denn diese Mal sollten auch wieder einige Jungen kommen. Sowohl welche aus ihrem Jahrgang als auch ältere. Iris war noch ungeküsst. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt und das bisher auch als vollkommen in Ordnung empfunden. Doch leider gab es inzwischen schon Klassenkameraden, die das für überaus peinlich hielten und ihre Meinung offen herum posaunten. Das war der Grund dafür, dass sie das nicht jedem anvertraute. Wieso auch? Schließlich war das eine sehr persönliche Angelegenheit.
„Eigene Erfahrungen sammeln“, nannten die Menschen das. Bei ihm hingegen gab es kaum etwas, das er noch nicht kannte, weswegen er schon aus manchem Kampf als Gewinner hervorgegangen war. Sein Lehrer hatte ihm immer und immer wieder Vorwürfe gemacht, wie grausam und ungerecht er gegenüber seiner Umwelt – vor allem Menschen gegenüber war. Jetzt hätte er vermutlich gesagt: „Ehrenhaft nennst du das, ja? Einen Jungen von hinten niederschlagen? Er wäre dir doch von vornherein nicht gewachsen gewesen!“, aber nun konnte er nichts mehr sagen, da er ihn vor ein paar Jahren umgebracht hatte.
Ein Lächeln umspielte seine Züge. Sein alter Lehrer hatte geglaubt, ihn zu kennen, und das schließlich bitter bezahlt, als er ihm den Kopf abschlug.
Er bemerkte, dass der junge Werwolf wieder zu sich kam und verschloss ihm schnell mit einer Hand den Mund. Menschen – oder jene, die es einmal gewesen waren und immer noch krampfhaft versuchten, den äußeren Schein zu wahren – waren so berechenbar. Der Junge hatte versucht zu fliehen und sich somit sehr uneinsichtig im Hinblick auf das Angebot gezeigt, dass er ihm gemacht hatte. Der Vampir war dem zuvorgekommen und hatte ihn rücklinks niedergeschlagen. Nur würde der Junge schreien, wenn er ihn einfach so freigab..
Der Mann drückte ihm die Luft ab. Noch einmal versuchte Chris zu schreien, doch es kam kein Ton aus seiner Kehle.
„Ich sage das jetzt nur noch einmal. Einer von euch beiden stirbt: du oder deine Schwester. Du darfst entscheiden, wer.“
Chris wurde schwarz vor Augen. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er erneut das Bewusstsein verlor.
„Antworte!“ Endlich ließ der Fremde von ihm ab.
„Dann töten Sie mich.“
So berechenbar. Diese dummen Menschen mussten auch immer versuchen, den Helden zu spielen. Aber dieses Mal diente das ganz und gar seinen Zwecken.
„Ich werde dir morgen einen Ferienjob anbieten, den du freudestrahlend annehmen wirst. In zwei Tagen ziehst du zu mir.“ Er lies den Kopf des Jungen los. Dieser sank zu Boden.
„Auf bald, junger Wolf.“
Chris sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann drückte er seine Stirn gegen die kühle Erde und schluchzte. Niemals zuvor hatte er sich je so allein und ausgeliefert gefühlt.
Iris traute ihren Augen kaum. Sie war durch die Wälder gelaufen, damit sie niemand sah. Und trotzdem war er hier. Er lag auf dem Waldboden und…weinte. Sie erkannte es an dem Beben seiner Schultern.
Sie hatte das Gefühl, das diesen Jungen mehr Geheimnisse umgaben, als sie es auch nur erahnen konnte. Sie stieß mit der Fußspitze gegen einen Stock. Ruckartig hob er den Kopf. Er fühlte, dass dort jemand war. Tief sog er die Luft ein.
Iris. Das Mädchen, das ihm das Leben gerettet hatte.
Schnell erhob er sich, drehte sich um und rannte. Weg. Nur weg von ihr. Mehr Mitwisser würden nur weitere Schwierigkeiten nach sich ziehen.
„Iris. Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen, wenn das möglich ist.“
Sie drehte sich um. Schon allein beim Klang dieser Stimme erschauderte sie. Ständig musste sie an letzte Nacht denken. Die Nacht, in der er panisch vor ihr geflohen war. Sie wusste nicht einmal, warum. Nur, weil sie gemerkt hatte, dass auch er seine Eigenarten hatte, konnte es nicht sein. Jetzt stand er vor ihr, die grünen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, zum Schutz gegen die Sonne.
„Was willst du?“
„Ich möchte dir etwas erklären. In Bezug auf gestern Nacht.“
Wie gut, dass weder Willy noch ihre Eltern hier waren. Die würden wahrscheinlich denken, sie wäre mit ihm im Bett gewesen.
„Also?“ Er seufzte. Irgendwie hatte er gehofft, dass er es ihr einfach erzählen und dann wieder verschwinden könnte. Noch immer war er unsicher, ob das denn überhaupt eine gute Idee war.
„Könnten wir eventuell erst einmal von der Straße runter gehen?“
Sie blinzelte verwirrt. Daran hatte sie bis jetzt noch nicht gedacht. Es brachte sie aus dem Konzept. Warum war er nur so freundlich?
„Okay.“
Sie betraten eine kleine Gasse ohne Hauseingänge oder Fenster.
„Bitte, halte mich jetzt nicht für verrückt. Du bist nach Anna die Einzige, der ich es erzähle und“, er verstummte jäh, „Ach verdammt, ich muss völlig durchgeknallt sein, dass ich dir das erzähle!“
„Schieß los. Ich glaube, außer du bekennst jetzt, ein Alien zu sein, haut mich so ziemlich nichts um.“ Ich weiß nicht, was ich bin. In seinem Kopf rauschte es. Er konnte hören, wie in einem der Nachbarhäuser jemand die Treppe hinunter ging. Und dabei hatte er doch gesehen, dass die Tür geschlossen war!
Der Witz hatte seine Wirkung deutlich verfehlt. Er verzog das Gesicht beinahe gequält.
„Ich sollte besser gehen und dich ein für allemal in Ruhe lassen. Du würdest mir ja doch nicht glauben. Leb wohl.“ Er drehte sich um und ging.
„He! Jetzt lauf doch nicht weg! Das war doch nur ein Scherz.“
Verärgert über sich selbst ging er noch schneller.
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Er hat mir verboten, es meinen Eltern zu erzählen. Es überhaupt irgendwem zu erzählen. Er erpresst mich. Mit Annas Leben. Er darf vor allem nie erfahren, dass ich mich Iris anvertrauen wollte, sonst wird er sie töten. Der Grund, warum es dich nun gibt, liebes Tagebuch, ist, dass ich mich überhaupt keinem anvertrauen kann, ohne ihn in Gefahr zu bringen. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich hätte mich nie tätowieren lassen. Irgendwie hatte ich gehofft, dass Iris es verstehen würde. Dass sie einfach nur zuhören würde und mich nicht so ansehen, wie sie es tat, so vorwurfsvoll. Sie ist so hübsch, mit ihren blonden Haaren und so genau mein Gegenteil, müsste ich es selbst beschreiben. Nicht äußerlich, meine ich. Schließlich bin ich ja auch blond. Ich weiß auch, dass es albern ist, wenn ein Junge Tagebuch schreibt. Aber er lässt mich nicht nach Hause. Wenn ich je einsam war, dann wohl jetzt. In den wahrscheinlich letzten Wochen meines Lebens. Er lässt keine Zweifel daran, dass er mich töten wird, wenn er wieder wegzieht. Und an einem Ort bleibt er sowieso nie lange. Außerdem schlägt er mich. Wann immer es ihm Spaß macht. Ich bin wohl sein Hausangestellter und Prügelknabe in einer Person..
Er ist ein Vampir.
Ich muss ihn Meister nennen. Oder Sir. Immer irgendetwas Höher gestelltes
Es war wie verhext. Bei allem, was er tat, dachte er an sie. Blonde Haare, blaue Augen. So nahe wie vor ein paar Tagen würde er ihr nie wieder kommen. Er würde wahrscheinlich überhaupt niemandem mehr nahe kommen. Aber er schämte sich für seine schroffe Reaktion dem Mädchen gegenüber.
„Chris!“ Der Ruf des Meisters riss ihn unsanft aus seinen Gedanken.
„Komm sofort her.“ Was habe ich nur falsch gemacht?
Kaum, dass er die Zimmertür durchschritten hatte, wurde er an die Wand geworfen. Es setzte Hiebe.
„HABE ICH MICH GESTERN NICHT KLAR GENUG AUSGEDRÜCKT?“
Ein harter Schlag in die Magengrube.
„DU DARFST MEIN ZIMMER NICHT BETRETEN!“
Wiederholung. Als der Vampir schließlich von ihm abließ, sackte Chris zu Boden. Er kroch ein Stück weit, bevor er sich außer Reichweite des Vampirs wähnte.
Er war so kurz davor gewesen, ihr sein scheinbar wichtigstes Geheimnis anzuvertrauen, und sie hatte einen dämlichen Witz gerissen und ihn damit vertrieben. Wenn sie so darüber nachdachte, hätte Iris sich selbst ohrfeigen können. Jetzt wusste sie nur, dass er in der neu gebauten Villa fernab der Skipiste einen Ferienjob hatte. Etwas seltsam war das schon, vor allem, da er erst so schwer verletzt gewesen war, aber das war ja wohl seine Angelegenheit.
Offenbar machte es dem Vampir Spaß, ihn bis zur Bewusstlosigkeit zu prügeln. Das war Chris` erster Gedanke, als er sich draußen in der Hundehütte angekettet wiederfand.
„Hunde gehören nicht ins Haus!“, war des Meisters erste Regel gewesen. Deswegen hatte er selbst sich hinter dem Haus, uneinsehbar von fast allen Seiten eine Hundehütte bauen müssen, in der er nun Nacht für Nacht schlafen und sich tagsüber aufhalten musste, wenn der Meister ihn aus dem Haus warf. Und damit er auch auf jeden Fall nicht weglief, kettete derselbe ihn an. Außerdem musste er ein Armband aus Eisen tragen, das ihn daran hinderte, sich zu verwandeln. Das meinte der Vampir jedenfalls. Es machte ihm immer noch Angst, dass er fast nichts über das wusste, was er jetzt war. Was auch immer das sein sollte. Er glaubte nicht so recht an die Existenz von Werwölfen, genauso wenig wie er an die Existenz von Vampiren geglaubt hatte. Bis einer versucht hatte, ihn umzubringen. Immerhin spürte er, wie das Armband ihm Tag für Tag mehr die Haut versengte. Ohne sich anzusehen, wusste er, dass sein Bauch über und über violett verfärbt war, von den Schlägen und Tritten seines Dienstherren, dessen liebstes Ziel es wohl war, ihm wehzutun.
„So, Perry, jetzt sieh mal zu, wie du deinen Kopf aus der Schlinge bekommst!“
„Nichts leichter als das, Anton. Mein Blatt schlägt deines um Welten!“
„Woher willst du denn wissen, wie mein Blatt aussieht?“
„Könntet ihr zwei endlich mal aufhören, so laut zu spielen? Ich kann mich kein bisschen konzentrieren!“
„ Aber natürlich, Cinderella. Sonst noch Wünsche? Soll ich dir vielleicht noch einen Kuchen backen?“
„Sie hat Recht. Ihr könntet eine Winzigkeit leiser sein.“
„Ja, ja , Chef. Schon gut.“
„Deine heutige Aufgabe ist es, im Wald Holz suchen zu gehen. Der Schuppen soll voll werden!“
„Ja, Herr.“
Der Junge drehte sich um, ging zum Schuppen und holte sich ein geeignetes Beil. Dann machte er sich auf den Weg in den Wald.
So eine eigenartige Aufgabe! Holz holen! Ob er mich irgendwie auf die Probe stellen will? Dass ich auch auf jeden Fall nicht weglaufe, sonst bringt er mich um?
Etwas an diesen Leuten stimmte nicht. Es war nicht nur so, dass sie im verschneiten Wald campten, statt sich in eine der Pensionen im Tal einzumieten, nein, sie rochen…anders als normale Menschen. Außerdem strahlten sie eine Wildheit aus, die ihm seltsam bekannt vorkam. Wie Raubtiere. Es war komisch genug, dass sie ihn noch nicht bemerkt hatten.
„Cinderella, dreh dich mal unauffällig um. Wir werden beobachtet.“
„Was? Und das sagst du jetzt erst?“ Wie außerordentlich praktisch es doch war, sich auf diese lautlose Weise unterhalten zu können!
„Ich wollte erst einmal warten, ob einer von euch es auch merkt. Außerdem sieht er nicht besonders gefährlich aus.“
„Wo sind eigentlich diese Spinner Anton und Perry? Nie sind sie da, wenn man sie mal braucht?“
„Auf der Jagd. Mein Plan sieht folgendermaßen aus: Wir tun weiterhin so, als hätten wir ihn nicht bemerkt. Wenn er morgen nicht wiederkommt, ist die Sache erledigt. Schließlich hat der Junge ja nur ein paar Touristen gesehen, die im Wald campen.“
„In Ordnung.“
Verdammt! Ich muss noch eine ganze Menge Holz holen. Chris fluchte innerlich. Der Meister würde wütend sein, wenn er erfuhr, dass er nicht genug Holz geschlagen hatte.
„Du hast also eine Gruppe Touristen entdeckt, die im Wald ihr Quartier aufgeschlagen haben? Und deswegen habe Ich jetzt zu wenig Brennholz? Komm mit in den Schuppen.“ Vampire mochten es gern warm. Es ärgerte ihn, jetzt nur wegen der Unfähigkeit des Wolfs auf diesen Luxus verzichten zu müssen.
Dort angekommen schleuderte der Vampir den Jungen auf den Boden, ohne seine Kraft auch nur im Geringsten abzudämpfen. Er konnte hören, wie eine der Rippen des schwächeren Wesens brach. Das bereitete ihm nur zusätzliche Befriedigung. Dann nahm er sich eine Peitsche, die dort an der Wand hing und schlug auf den Jungen ein. Chris hatte sich auf den Bauch gedreht, damit dieser nicht zerfetzt wurde. Die gebrochene Rippe brannte wie Feuer. Bitte nicht noch ein Schlag! Ihm schossen die Tränen in die Augen. Wenn du noch einmal zuschlägst, schreie ich…
„Aufstehen!“ Der Meister blickte kalt auf ihn hinab. Langsam arbeitete er sich hoch. Zu langsam. Er sah nicht, wie sein Dienstherr ausholte sondern spürte nur noch den heißen Schmerz.
„Jetzt geh zu deiner Hütte! So. Hinlegen.“ Er wurde angekettet, dann drehte der Andere sich um und ging ins Haus.
Seine Gedanken waren dunkel und rachsüchtig. Er würde weder vergessen noch vergeben.
Wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Aber nein, ich liebe ihn nicht. Genauer gesagt hasse ich ihn sogar. Ich freue mich schon darauf, ihn zu quälen, ihn zu töten…
Aber Touristen im Wald? Camping? Das werde ich mir auf jeden Fall einmal anschauen. Vielleicht haben die Wölfe seine Anwesenheit bemerkt und sind deswegen her gekommen. Oder gar meine eigene? Wenn sie mich suchen, verschwinde ich. Für alle Fälle. Aber vorher werde ich den Jungen töten.
Erst als er hörte, wie der Schlüssel in der Tür umgedreht wurde, wagte Christian es, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Liebes Tagebuch,
Ich hasse mich, dafür, was aus mir geworden ist.
Ich hasse ihn, weil er mich schlägt. Er tut mir weh. Heute hat er mir sogar eine Rippe gebrochen. Und ich muss gehorchen, weil er mich töten wird, und Anna auch, wenn ich nicht gehorche.
HERR, wenn du mich nicht heilen kannst, dann mache, dass er mich schnell tötet, um alldem ein Ende zu bereiten. Ich bitte Dich darum. Und wenn nicht: lass meine Eltern und Anna meinen Tod überwinden, schenke ihnen neue Hoffnung. Amen.
In seinem Haus darf ich Deinen Namen nicht erwähnen, bitte sieh mir nach, wenn ich nicht oft genug bete.
Am nächsten Morgen zerrte ihn der Vampir unsanft aus der Hundehütte. Zufrieden beobachtete er sein Werk. Sein Gefangener war immer noch schwach. Der Silberring unterdrückte die Lykantrophie. So schnell würden die Wunden des Jungen also nicht heilen. Er lächelte. Das gefiel ihm sogar sehr. Aber er musste unbedingt wissen, was es mit den Fremden im Wald auf sich hatte. Er hatte da so ein unangenehmes Gefühl..
„Du wirst die Touristen beobachten. Berichte mir alles, was sie tun!“
„Ja, Sir.“
Am dritten Tag seiner umfangreichen Aufgabe wurde er entdeckt. Inzwischen wusste er, wie auch sein Meister, dass die geheimnisvollen Fremden Werwölfe waren…wie er selbst.
„Sind wir so interessant?“ Erschrocken fuhr er herum. Er war so auf das Beobachten fixiert gewesen, dass er nicht gemerkt hatte, wie der Mann sich von hinten näherte. Es war einer aus der Gruppe, der, den sie Anton nannten.
„Denkst du etwa, wir haben nicht bemerkt, dass du uns seit drei Tagen fast ununterbrochen beobachtest?“
„Ich…“
Der Wolf schnitt ihm das Wort ab. „Spar dir die Mühe. Das kannst du uns erklären, wenn wir alle beisammen sind.“
Chris versuchte ihm mit einem Schritt rückwärts auszuweichen, doch kaum einen Meter entfernt sackte er mit einem Fuß im Schnee ein.
Als der Mann seinen Oberkörper packte und ihn heraus zog, brach der Knöchel. Der Junge konnte nur mühsam einen Schmerzensschrei unterdrücken. Der Werwolf sah ihn prüfend an, packte dann seinen Kopf und schlug diesen an den nächsten Baum. Chris verlor das Bewusstsein.
„Du hast ihm den Knöchel gebrochen.“ Der Vorwurf in ihrer war unüberhörbar.
„Früher hätte man einen feindlichen Spion auf der Stelle erschlagen.“
„Wir leben aber Jetzt!“
Der Junge stöhnte. Wie auf ein Zeichen sahen nun beide auf ihn herunter. Während sein Blick sich aufklärte erkannte Chris, dass es wiederum Anton und Cinderella waren, die ihn anstarrten. Der Mann ging in die Knie und lehnte sich auf seinen Oberkörper, sodass ihm die Luft knapp wurde. Die gebrochene Rippe bohrte sich tiefer in sein Fleisch. Er fuhr zusammen.
„Wer hat dich geschickt?“
Es war genau wie kurz vor dem Schuss. Chris wusste, dass er nichts sagen durfte, denn ansonsten gefährdete er nicht nur sein Leben sondern auch Annas. Vielleicht würden ihn auch diese Leute töten, wenn er nicht antwortete. Aber er konnte nicht.
„Darf ich … nicht sagen.“
„Lass ihn in Ruhe.“ Diese Stimme kannte er noch nicht. Der Junge wandte den Kopf. Sie gehörte zu demjenigen der Männer, der am Wenigsten sagte, aber immer so leise, dass er es nicht verstand, und den alle anderen dennoch besonders achteten. Er schien hier so etwas wie der Anführer zu sein.
„Wann hast du dich zum ersten Mal verwandelt?“ Adrian beobachtete, wie die Augen des Jungen groß wurden. Der Kleine war ein Wolf, ganz eindeutig, aber trotzdem…irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Allein die Tatsache, dass der gebrochene Knöchel noch nicht wieder verheilt war, war seltsam. Hätte er ihm die Jacke ausgezogen, er war sich sicher, dass noch weiteren Verletzungen zum Vorschein gekommen wären. Der Vampir war nicht zimperlich und er war sich im Klaren darüber, dass dieser Welpe das wusste. Das blaue Auge des Jungen zeugte davon. Normalerweise hatte jeder Werwolf einen extrem beschleunigten Heilungsprozess, von dem im Fall des Jungen aber keine Rede sein konnte. Vielleicht arbeitete er mit dem Vampir zusammen.
Aber genau der war es doch, der allen Wölfen den Gar ausmachen wollte!? Dieser Welpe konnte unter keinen Umständen freiwillig hier sein.
Er winkte die anderen zu sich heran und begann, ihnen seinen Plan im Bezug auf den Vampir zu erklären. So laut, dass der Junge es mithören musste.
Dieser Ferienjob scheint ja eine wahre Goldgrube zu sein! Wenn mein kleiner Bruder es nicht einmal mehr für nötig hält, ab und zu nach Hause zu kommen..
Anna war langweilig. Alle ihre Freunde waren entweder verreißt, auf den Höfen ihrer Eltern beschäftigt oder hatten selbst einen Ferienjob und einfach keine Zeit dafür, sich mit irgendwem zu treffen. Außerdem wollte sie nicht jedem hinterher telefonieren, nur weil der selbst zu faul war, um sie anzurufen.
„Nein!“ Adrian wandte sich um. Na also. Der Junge sah ihn an. „Sie dürfen das Haus nicht angreifen!“
„Ach nein? Warum denn nicht?“
„Er tötet meine Schwester, wenn Sie das tun.“
Das war es also. Der Vampir erpresste den Jungen damit, dessen Schwester zu töten. Und wahrscheinlich auch ihn selbst. Dieser Welpe wurde praktisch von einem ihrer Widersacher gefangen gehalten. Das konnte noch sehr nützlich sein.
„Du willst mir weismachen, dass du es geschafft hast, dir auf dem Rückweg den Knöchel zu brechen und deswegen erst so spät kommst?“
„Ja Herr. So ist es.“ Die Lüge kam Chris erstaunlich leicht über die Lippen. Inzwischen wusste er, dass der Vampir ihn töten würde, wenn er erzählte, dass einer der Werwölfe ihm - absichtlich oder nicht - den Knöchel gebrochen hatte, dass sie nun von ihm wussten und einen Plan aushackten, den Vampir zu vernichten. Dass sie mit ihm gesprochen hatten.
Er glaubte noch immer nicht, dass er bei dem ganzen nicht von irgendwem umgebracht wurde, aber inzwischen wollte er nicht mehr sterben. Es gab schließlich Dinge, für die sich zu leben lohnte. Zum Beispiel seine Familie. Oder Iris.
Wenn das Ganze hier vorbei war und er noch lebte - für den Fall das das jemals eintreten sollte - konnte er sich von den Wölfen zeigen lassen, wie er seine Kräfte kontrollieren musste und dann wieder in sein vorheriges Leben zurückkehren.
Dennoch war er erstaunt, dass sein Peiniger ihm zu glauben schien.
Er lügt. Wieso nur überraschte ihn diese Erkenntnis nicht? Einem Werwolf zu glauben war Irrsinn. Aber andererseits hatte ihm der Junge nun endlich einen Grund gegeben, ihn zu töten. Das war doch mal etwas Gutes!
Diese Hundehütte war zu eng, zu klein und verdammt kalt. Außerdem tat ihm alles weh. Jemand lief dort draußen an der Wand entlang. Der Vampir? Wohl kaum. Der würde sich nicht die Mühe machen, sich anzuschleichen, wenn er ihn erneut verprügeln wollte.
„Chris?“
Er zog sich soweit es ging ins Innere zurück. Niemand, absolut niemand durfte ihn hier finden!
„Ich bin`s, Cinderella. Ich weis, dass du da drin bist. Wie hat er reagiert?“
Erleichtert stieß er die Luft aus.
„Ich weis nicht, ob er es geglaubt hat, aber ich bin zumindest noch am Leben, also kann er nicht allzu viel mitbekommen haben.“
„Adrian? Der Junge scheint bis jetzt soweit wie möglich außer Gefahr zu sein.“
„Gut. Lassen wir ihn in dem Glauben.“
Endlich wandte er sich ihr zu. Seine Augen glänzten, ein Umstand, der sie beunruhigte.
„Du willst ihn nicht sterben lassen, oder? Er ist einer von uns.“
„Ich habe nicht vor, ihn sterben zu lassen, aber ich glaube, dass unser Freund ihn auf jeden Fall töten will. Und was die Tatsache angeht, dass er angeblich einer von uns ist… ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas stimmt da nicht. Nimm zum Beispiel seinen Heilungsprozess. Der scheint mir ja noch der eines Menschen zu sein.“
„Du glaubst, er ist nach wie vor ein Mensch.“
„Nicht wirklich.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber durch ihn haben wir nun die Gelegenheit, diesen verdammten Vampir endlich zu töten.“
Unsanft wurde er von einem Fußtritt aus dem Schlaf gerissen.
„Steh auf!“
Da er den Tonfall kannte, kam er so schnell er nur konnte auf die Beine, vergaß dabei aber
seinen verletzten Knöchel und knickte zur Seite weg. Der Vampir knurrte animalisch, packte
den Jungen und stapfte mit seiner Last ins Haus.
Dort angekommen, warf er ihn auf den Boden, nahm eine bereitstehende Eisenstange und drückte Handgelenke und Hals des Jüngeren fest auf den Boden. Er wusste, dass das diesem Schmerzen bereiten musste und setzte noch einen drauf, indem er die Stange so hoch schob, dass der Welpe unweigerlich keine Luft mehr bekam. Bevor er jedoch ohnmächtig werden konnte, zog der Vampir die Stange mit einem Ruck weg.
Er schlug seinem noch benommenen Gegenüber ins Gesicht, sodass er hören konnte, wie Ober.- und Unterkiefer hart aufeinander schlugen.
Dann zog er den Jungen auf die Beine. Chris machte diesmal nicht den Fehler, seinen gebrochenen Knöchel zu belasten. Dazu kam er auch gar nicht, denn sobald er nur halbwegs oben war, packte sein Peiniger seine Schultern und stieß ihn mir aller Macht von sich. Der Junge flog durch die Wand und blieb auf der anderen Seite regungslos liegen. In Sekundenschnelle war der Vampir bei ihm und rammte ihm die Faust in den Bauch.
„Du wirst dir wünschen, nie geboren wurden zu sein. Das passiert, wenn man versucht, mich zu hintergehen!“
Anna hatte nun endgültig genug. Sie würde lieber bei irgendeiner ihrer Freundinnen übernachten, als noch länger allein zu Hause zu sitzen. Die Erlaubnis ihrer Eltern hatte sie ja, also musste sie sich nur noch auf den Weg machen.
Nachdem er die Hände und Füße des bewusstlosen Jungen an einen seiner Holzstühle gefesselt hatte, weckte er ihn mit einer Ohrfeige. Der Stuhl fiel beinahe um. Der Vampir wartete, bis der Junge vollends wach war und holte dann zwei Benzinkanister aus einem Schrank.
„Weißt du, was das Gute an diesem Haus ist?“, fragte er im Plauderton. Als er keine Antwort erhielt, zuckte er mit den Schultern und beantwortete seine Frage selbst.
„Es ist absolut schalldicht. Niemand wird dich schreien hören.“
Erst in diesem Moment wurde Chris klar, dass er nun sterben würde. Der Vampir hatte vor, das Haus nieder zu brennen und er selbst würde in den Flammen umkommen. Währenddessen ging sein Widersacher gemächlich zum Wasserhahn und fühlte den größten der Töpfe mit Wasser. Er kehrte zu dem Jungen zurück und goss ihm das kalte Nass über den Kopf. Dann riss er, für den Jungen völlig unerwartet, dessen Kopf an den Haaren zurück und fauchte ihm ins Ohr: „Du wirst sehr langsam und qualvoll sterben. Und währenddessen werde ich deine Familie töten.“
Ein Laut der Verzweiflung entwich Chris durch den Knebel hindurch. Seine Eltern und Anna würde er nie wieder sehen. Er hatte ihnen nicht einmal Lebewohl sagen können. Alles tat ihm weh, besonders der blutende Rücken. Es fühlte sich an, als hätten tausend Höllenteufel dort einen Tanz veranstaltet. Er beobachtete den Vampir, als dieser Benzin im ganzen Zimmer verteilte. Er hasste den Geruch der Flüssigkeit, der ihm nun in die Nase stieg. Dann kam der Vampir als hätte er die Gedanken des Jungen geahnt, zu ihm und umriss den Stuhl mit dem höchst entzündbarem Stoff. Dann zog er eine Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche, entzündete ein Streichholz und ließ es vor den Augen des Jungen auf den benzingetränkten Teppich fallen, der sofort Feuer fing.
Danach war er in Sekundenschnelle verschwunden.