Читать книгу Wolfsfieber, Dryade-Eismagier - Aline S. Sieber - Страница 7
Prolog
Оглавление2010, Salzburger Land, Österreich
Heute war es endlich soweit. Seit fast einem ganzen Monat hatte er sich schon vorgenommen, ins Tatoostudio zu gehen und heute war er tatsächlich nach der Schule in den Ort gegangen. Letzter Schultag! Fantastisch! Was konnte es noch besseres geben?! Zudem hatte Chris heute die lang ersehnte Erlaubnis seiner Eltern bekommen. Sein Vater würde in etwa einer Viertelstunde hier sein und ihn begleiten. Unter achtzehn bekam man nur in Begleitung eines Erwachsenen ein Tattoo. Ansonsten war das widerrechtlich. Chris war fünfzehn. Er wusste auch schon genau, was für eines er sich wünschte, und wo es sein sollte. Ein silbergrauer Wolf würde bald seinen Rücken zieren. Noch während er in seinen Vorstellungen schwelgte, wie das wohl aussehen würde, kam sein Vater.
Anna wartete ungeduldig auf die letzte Bergbahn. Wieso musste ihre Familie auch da oben wohnen? Und wieso, zum Teufel, waren die verdammten Dinger nicht schneller?
Ihre Mutter war, wie üblich, schon auf der Alm. Ihr Vater brachte ihren Bruder gerade ins Tatoostudio. Sie lächelte kurz. Chris hatte immer schon solche ausgefallenen Ideen. Sie trat in den Schnee. Aber genau deswegen musste sie jetzt allein mit der verdammten Bergbahn fahren. Winterferien. Klasse. Bald würden wieder eine Menge Touristen kommen und die Skihänge bevölkern. Wenn sie dann nach Hause wollte, musste sie noch länger warten. Die Bahn kam schließlich und Anna stieg ein. Die Kühe, die sonst immer oben auf der Alm waren, mussten im Winter zu einem der Bauern ins Tal getrieben werden. Der Winter war dieses Jahr früh gekommen. Chris hatte sie schon vor einigen Wochen ins Tal bringen müssen. Wenigstens hatten sie genug Milch und Käse.
Sein Rücken tat jetzt zwar weh, aber er war im Moment viel zu froh, als dass er dem hätte irgendwelche Bedeutung beimessen können. Da sie bei dem Schnee nicht mit dem Auto fahren konnten, mussten sie die Bergbahn nehmen. Und sie mussten sich beeilen, um die letzte Bergbahn nicht zu verpassen. Danach fuhr nämlich keine mehr. Chris sah auf die Uhr. Es war schon um vier. Eine Stunde später würde es so finster sein, dass man den Abhang nicht mehr sah und seine stillschweigende Existenz nur noch erahnen konnte. Um diese Zeit war es sehr gefährlich, noch einen Schritt vor die Haustür zu setzen.
Oben angekommen gab es erst einmal Abendbrot. Danach zogen sich alle zurück. Das Fernsehen funktionierte sowieso nicht, da der Empfang durch die vielen Berge gestört wurde. Man konnte jetzt nur noch lesen, Irgendetwas spielen oder schlafen. Spätestens 20 Uhr war Nachtruhe und das Kaminfeuer wurde gelöscht. Am nächsten Morgen würden alle wieder früh aufstehen müssen. Denn schließlich mussten die Eltern wie gewohnt zur Arbeit und die anstehenden Arbeiten und auch die Hausaufgaben mussten erledigt werden.
Am nächsten Morgen lief fast alles wie gewohnt. Abgesehen von der Tatsache, dass die Kinder heute zu Hause bleiben konnten. Keiner von beiden hatte wirklich große Lust aufzustehen. Aber sie kamen doch aus den Federn, denn sie konnten ihren Eltern heute etwas von der häuslichen Arbeit abnehmen. Der erste Ferientag sickerte so dahin, zog sich über Mittagessen, Abendbrot und verlosch schließlich mit dem Einsetzen der Dämmerung.
Bei Tagesanbruch war Chris beim besten Willen nicht wach zu bekommen. Nicht einmal, als Anna es mit einem Eimer Wasser und ein paar kräftigen Ohrfeigen versuchte. Die Aufregung war groß. So etwas war noch nie vorgekommen. Mrs. Hill schickte ihren Mann zur Arbeit und beschloss, noch solange zu Hause zu bleiben, bis der Arzt kam.
Der Arzt, ein freundlicher Mann mittleren Alters, kam auch bald. Er hatte gewöhnlicher Weise nicht viel zu tun, denn abgesehen von Gelegenheitskrankheiten gab es nur selten etwas zu kurieren. Größere Fälle, wie Knochenbrüche oder Schlimmeres wurden ins Krankenhaus der nächstgrößeren Stadt überwiesen.
Wie dem auch sei, jedenfalls konnte auch er den Patienten nicht aufwecken, sodass er, abgesehen von ein paar Ratschlägen, unverrichteter Dinge wieder abziehen musste.
Auch Mrs. Hill begab sich schließlich auf Arbeit, denn es hätte ja sowieso Nichts genützt, den ganzen Tag untätig herum zu sitzen, um darauf zu warten, dass ihr Sohn erwachte. Sie ließ Anna die Anweisung da, sie sofort anzurufen, sobald sich etwas tat.
In der darauffolgenden Nacht schlich sich Anna in die Küche um etwas zu trinken. Sie wollte gerade das Wohnzimmer durchqueren, als ihr auffiel, dass ihr Bruder nicht auf dem Sofa lag, wo er eigentlich hätte sein sollen. Das Wohnzimmer war leer. Außer ihr war niemand da. Sie sah nach draußen. Es tobte ein Schneesturm. Einer von vielen, die noch kommen sollten.
Southhampton, England, 1840 n. Chr.
Die hölzerne Tür knarrte, als Henry sie öffnete. Vor Tagen hatte seine Familie einen Verletzten im Wald gefunden. Nun weilte der Mann schon seit einer ganzen Woche auf ihrem Landgut in der Nähe von Salisbury. Und bisher war er noch kein einziges Mal aufgestanden.
Seltsam war das schon, besonders da es keine schwerwiegenden äußeren Wunden gab, doch schließlich war der Mann auch sehr blass.
Ihm musste etwas Ungeheuerliches widerfahren sein. Sicherlich hatte er einen Schock.
Jeden Tag versorgte ein anderer den Kranken. Gestern war es Mable, eine der jüngeren Mägde gewesen. Und heute war er selbst an der Reihe, der Sohn des Grafen höchstpersönlich.
Er hob eine Schüssel mit Haferbrei aus seinem Korb.
Die Köchin gab sich große Mühe mit ihren Gerichten, da er den Duft des darin enthaltenen Honigs riechen konnte. Sonst kam so etwas Gutes nur an Sonntagen auf den Tisch.
Die Vögel draußen sangen und er wusste, dass seine Schwester sich mit einem der Knechte in der Nähe der Pferdeställe herumdrückte. Er wusste auch, dass er den beiden Deckung gab. Vermutlich würde diese Beziehung sowieso nicht lange halten. Hoffentlich jedoch hatten die Verliebten Zeit, ihre Affäre selbst zu beenden, denn falls sein Vater Wind davon bekommen sollte, stand ihnen dreien noch einiges bevor. Aber er würde sein Schwester nicht verraten, niemals. Zumindest nicht freiwillig.
Es war ein außerordentlich schöner Tag. Später wollte er noch einmal in die Stallungen gehen, seinen fuchsroten Hengst satteln und einen Ausritt machen. Nicht zum Jagen, denn es widerstrebte ihm, Tiere zu töten, wenn es nicht notwendig war.
Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete der vermeintlich Kranke ihn. Er hatte bei seinem letzten Kampf mit einem Artgenossen viel Blut verloren. Und seit Tagen nichts Ordentliches zwischen die Zähne bekommen. Der Hunger nagte an ihm wie ein wütendes Tier. Diese einfältigen Menschen glaubten ihn versorgen zu müssen. Mussten sie ja auch. Aber in einer etwas anderen Hinsicht.
Und der Junge vor ihm sah zum Anbeißen gut aus. Er machte ein nachdenkliches Gesicht und schien gedanklich irgendwo weit weg zu sein. Eben stellte er den Korb auf den hölzernen Fußboden.
Kurz entschlossen schlug er die Augen auf und stürzte sich auf sein überraschtes Opfer. Er hielt den Jungen fest und durchtrennte seine Halsschlagader mit einer einzigen Handbewegung. Das blutige Messer ließ er zu Boden fallen. Es musste wie ein durch einen gewöhnlichen Menschen verursachter Tod aussehen. Nur dann sah er sich imstande, sein Geheimnis zu wahren.
Der Grafensohn wollte schreien. Er riss Mund und Augen weit auf. Kein Ton drang aus seiner Kehle.
Der Junge machte einen letzten, hoffnungslosen Versuch, sich zu befreien und sackte dann leblos in den Armen seines Mörders zusammen.
Der überlegte es sich im letzten Moment anders. Er trank den Jungen bis auf den letzten Blutstropfen leer und schnitt sich selbst dann die Hand auf. Die Wunde drückte er auf den Schnitt im Hals seines Nahrungslieferanten.
Nach einigen Minuten des Wartens zog er sie wieder fort und ließ die Leiche achtlos fallen.
Dann verschwand er in die Dämmerung.
Gwendolin schritt unterdessen nichtsahnend über den über nun leer erscheinenden Hof. Hinter den Mauern war es noch voller Leben, die Köchin und ihre Mägde nutzten die Zeit, um das Abendessen vorzubereiten. John war wie immer äußerst liebenswürdig gewesen. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass er mehr wollte…
Und das wollte sie nicht. Sie würde diese Affäre beenden und Henry davon in Kenntnis setzen, so wie sie es immer tat. Sie vertraute ihrem Bruder und konnte offen mit ihm reden… und sie hatte ihn seit den Mittagsstunden nicht mehr gesehen.
Sie machte sich auf den Weg zu der kleinen Hütte, in der der Kranke untergebracht war, denn dort hatte sie ihren Bruder zuletzt gesehen. Vielleicht war dieser seltsame Mann ja wach geworden und Henry leistete ihm Gesellschafft.
Inzwischen angekommen, öffnete sie die Tür. Ihr suchender Blick fiel als erstes auf das leere Krankenlager, dann bemerkte sie ihren Bruder. Er lag im hinteren Teil des Raumes auf dem Boden. Seltsam, dachte sie und ging hin, um ihn zu wecken. Sie berührte ihn nur kurz – und er drehte sich um. Zumindest schien es so.
Sie erblickte die starren, weit aufgerissenen Augen und fing an zu schreien.
Kurz darauf war der ganze Hof auf den Beinen. Alle hatten den fürchterlichen Schrei gehört und wer es sich erlauben konnte, war so schnell wie möglich herbeigeeilt. Für die Köchin und ihre Mägde war das Ganze sogar eine willkommene Ablenkung. Kurzum, jeder der noch gehen konnte, stürmte innerhalb kürzester Zeit auf den Hof hinaus.
Gwendolin hatte derweil den Raum verlassen, so schnell, als wäre ein Schwarm wütender Wespen hinter ihr her. Sie kauerte sich etwas von der Tür entfernt zu einem Knäuel zusammen, aber so dass sie die Tür noch im Blick hatte, als fürchtete sie, es könne jederzeit jemand heraus kommen. Schnell war sie umringt von Menschen, deren Gesichter in ihrem Blickfeld immer mehr zu einer grauen Masse verschwammen. Als man sie fragte, was denn sei, reagierte sie nicht.
Kurz darauf folgte ein weiterer Schrei; eine Magd hatte die Leiche nun ebenfalls entdeckt. Sie wurde hinaus gejagt, um den Ort des Verbrechens besser beobachten zu können. Kurz darauf wurde ein Arzt gerufen.
Der war schnell zur Stelle, da er im umliegenden Dorf einige Behandlungen durchgeführt hatte. Er war kein Quacksalber, sondern ein studierter Mann, konnte aber schließlich nur noch den Tod des Jungen feststellen. Bei der Tochter des Grafen stellte er einen Schock fest, der mit Ruhe und guten Zureden schon wieder vergehen würde.
Die rechtlichen Dinge wurden schnell geregelt. Plötzliche Tode waren nach wie vor keine Seltenheit, schließlich gab es nach wie vor Epidemien und Morde. Der Tod des Grafensohns war ein gutes Beispiel dafür, darin war sich das Gesinde einig.
Das Familiengrab wurde hergerichtet und in Windeseile ein Sarg besorgt. Das bedauernswerte Opfer erhielt eine letzte, heilige Ölung.
Konstantin, der Pfarrer laß die Totenmesse. Er versuchte, den trauernden Verwandten und dem Gesinde klarzumachen, dass der Junge erst gebeichtet hatte – dabei warf er Gwendolin einen besorgten Blick zu, denn er kannte ihr Geheimnis –und seine Seele somit nach einiger Zeit auf jeden Fall den Weg in den Himmel finden würde. Die Gräfin war dennoch außer sich vor Schmerz und ihr Mann kümmerte sich liebevoll um sie. Doch auch ihm war der Schmerz deutlich ins Gesicht geschrieben, von seiner Tochter ganz zu schweigen. Der Sarg würde nun erst einmal ein bis zwei Stunden in der gräflichen Kapelle zum Liegen kommen.
Kurz nach Beendigung dieser Frist kamen zwei Männer in den Gasthof des zur Burg gehörenden Dorfes. Sie setzten sich nieder und tranken zunächst einmal einen Krug Met. Auch, wenn das nur zur Tarnung diente, die sie sich auferlegt hatten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Hast du das gehört? Der Sohn des Grafen wurde ermordet. Sein einziger Sohn.“
„Ja. Der arme Junge. Er war auf jeden Fall hier.“
„Wir sollten nach seinem Opfer sehen.“
„Das hast du Recht. Heute Nacht.“
Die Efeuranken am Eingang waren gerade erst entfernt wurden. Sonst deutete nichts auf eine Einwirkung von menschlicher Hand auf die steinernen Mauern hin. Zwei Gestalten näherten sich mit Bedacht dem Familiengrab. Von nahem sah man, dass es Männer waren. Ohne ein Wort kamen sie auf das steinerne Mahnmal zu. „Memento mori“, stand in Latein über der Pforte. Bedenke, dass du sterben musst. Monsieurs Lippen zuckten. Er hatte schon etliche Jahre als Vampir verbracht und war nicht einmal „gestorben“. Menschen!
Sie öffneten die schweren, hölzernen Türflügel ohne sichtbare Anstrengung.
Es war kalt in der Gruft. Ein eisiger Lufthauch schlug ihnen aus dem Inneren entgegen. Die beiden Fremden störte das nicht. Die Kälte konnte ihnen ohnehin nichts mehr anhaben. Der Sarg war verschlossen, wie es sich gehörte. Blumen schmückten Henrys letzte Ruhestätte. Einer der Besucher trat näher heran.
Mit einer Kraft, die man dem mageren Mann nicht zugetraut hätte, schob er die schwere Steinplatte beiseite. Alles blieb ruhig. Falls sie erwartet hatten, den Toten aus dem Holzkasten springen zu sehen, wurden sie enttäuscht.
Das erste Wort dieser Nacht fiel. „Er scheint tot zu sein.“
„Hoffen wir´s. Aber sicherheitshalber sollten wir morgen noch einmal herkommen. Die Wandlung kann einige Zeit dauern. Vor allem, da wir nicht wissen, wie viel Blut dieser Bastard ihm gegeben hat.“
Es war stockduster. Er war zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren. Seine Augen waren das Einzige, das er bewegen konnte. Selbst sein Verstand schien wie eingefroren. Ein schwaches Geräusch drang an sein Ohr. Dann ein Krachen. Der enge Raum, in dem er sich offensichtlich befunden hatte, wurde schlagartig heller. Gedämpftes Licht drang zu ihm herein und blendete ihn. Jemand beugte sich über ihn. Unendlich zähflüssige Worte drangen wie durch eine dicke Wand zu ihm durch.
„Ich kann sein Herz wieder schlagen hören.“
Wieder verdunkelte sich alles, als sich noch eine weitere Gestalt über ihn beugte. Hände kamen ihm entgegen und er wurde hochgehoben. Sein Kopf fiel zurück. Die offene Wunde klaffte den beiden Männern entgegen. Das verursachte schreckliche Schmerzen. Seine Augen blieben geöffnet, verdrehten sich jetzt jedoch so, dass man nur noch das Weiße sehen konnte. Seine Wahrnehmung versagte und es wurde wieder dunkel.
„Das ist grausam.“
Monsieur fand kaum Worte, um ihre Entdeckung zu beschreiben. Der Junge war so schwach, dass er keinen Finger rühren kann, nahm sonst aber alles war. Sein Kamerad half ihm weiter.
„Er wäre irgendwann gestorben. Aber du hast Recht. Sein Herz schlägt wieder. Was willst du tun?“
„Wir müssen ihn mitnehmen.“
Henry erkannte nur an den ab und zu in ihnen vorbei wischenden Schatten, dass sie die Gruft wohl verlassen haben mussten. Das ganze Szenario verschwamm vor seinen Augen, als man ihn erneut hochhob. Er war diesen Männern absolut ausgeliefert. Eine Hand hielt seinen Kopf, damit er nicht wieder zurückfiel. Was hatten diese Männer vor? Dann kam er auf einer weicheren Stelle zu liegen, als sie der Sarg geboten hatte. Sein Mund wurde geöffnet und etwas Warmes, eisenhaltiges floss hinein. Blut. Woher er dieses Wissen nahm, wusste er nicht. Es schmeckte nicht einmal schlecht.
Die Hand veränderte ihre Position, damit das Blut nicht wieder durch den Schnitt entwich, der sich quer über seine Kehle zog. Die Männer sahen zu, wie sich der Schnitt langsam schloss.
Immer mehr gaben sie ihm zu trinken, bis sie sicher sein konnten, dass er mehr als nur überleben und nicht mehr aufgrund eines einzigen Schrittes zusammenbrechen würde. Aber sie waren auch nicht so dumm, ihm mehr zu geben als sie selbst bereits getrunken hatten. Schließlich hatten sie den Jungen nicht gekannt, als er noch am Leben gewesen war. Nach seinem Untod würde er womöglich ein völlig Anderer sein.
Veränderungen
Silbergraues Fell, das sich nur schwach vom Hintergrund abhob. Die Schwärze der Höhle um ihn herum. Das Toben des Schneesturms außerhalb. Alles fühlte sich an wie ein Traum. Aber es konnte keiner sein. Er konnte die Muskeln unter dem Fell spüren. Und fühlen, wie er ein- und ausatmete. Er fuhr sich mit der Zunge über seine Reißzähne, bleckte sie. Er hatte Hunger. Und er hatte nicht vor, sich die Beute entgehen zu lassen, Schneesturm hin oder her.
Mit diesen letzten Gedanken sprengte er hinaus.
Er war weg! Im ganzen Haus hatten sie Christian nicht finden können. Und es war ebenso unmöglich das Haus zu verlassen, denn der Schneesturm hatte zwar nachgelassen, tobte aber immer noch. Und die Telefonleitung war tot. Sie waren vollkommen hilflos. Selbst wenn sie jemanden erreichen konnten, würde niemand es wagen, bei diesem Sturm auszurücken. Sie mussten warten – und hoffen, dass er irgendwann zurückkam.
Sein Maul war blutig. Die Jagd war erfolgreich gewesen und er hatte einen Hasen gefangen. Einen Teil des Fleisches hatte er als Vorrat vor der Höhle vergraben. Man konnte ja nie wissen, ob die Jagd in den darauf folgenden Tagen genauso erfolgreich verlaufen würde. Es war nicht gerade leicht, beim Schneetreiben draußen etwas zu erbeuten.
Anna schnallte sich gerade die Skier an, als ihr Vater aus dem Haus kam.
Hoffentlich nervt er jetzt nicht!
Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich mit irgendwelchen Fragen abzugeben. Anscheinend war ihr das anzusehen, denn ihr Vater hielt sie nicht auf, sondern ermahnte sie nur, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein. Ganz genau wusste sie selbst nicht, was sie eigentlich tun wollte, aber sie wollte die Umgebung auf jeden Fall nach Spuren ihres Bruders absuchen, denn inzwischen war sie sich sicher, dass er irgendwo hier draußen war. Wenn sie ihn fand, würde sie ihm ordentlich die Meinung sagen. Was bildete er sich ein, so einfach mitten in der Nacht während eines Schneesturms zu verschwinden?!
Die Landschaft sah aus wie immer: unnahbar und über alle Maßen schön und gleichzeitig auch etwas unwirklich. Der Schnee reflektierte das Licht der Sonne und blendete jeden, der keine Skibrille trug.
Die Loipe war kaum noch zu sehen, man konnte ihre Umrisse nur schemenhaft erahnen. Aber solange sie nicht wusste in welche Richtung Chris gegangen war, würde sie den Spuren derselben folgen.
Aus dem Dickicht heraus beobachtete er das Mädchen. Irgendwie kam sie ihm seltsam vertraut vor, doch bis jetzt hatte er so viel Abstand gehalten, dass er ihr Gesicht noch nicht hatte betrachten können.
Was sie jedoch tat, gefiel ihm immer weniger. Je weiter sie in sein Revier vordrang, desto größer wurde sein Unmut. Egal, wer das nun war, er konnte nicht dulden, dass sie ihm womöglich die Beute verjagte.
Anna schrak zusammen, als sie im naheliegenden Gebüsch ein Rascheln hörte. Besonders beweglich war sie mit Skiern jedoch nicht, sodass sie sich nicht drehen konnte, um nachzusehen. Das Geräusch wurde lauter und sie hörte, wie jemand – oder etwas – durch die Sträucher schlich.
Sie war stehen geblieben, in der Hoffnung, dass er vielleicht das Interesse an ihr verlieren könnte. Eine Weile lang stand sie einfach da und hörte auf das Rascheln. Ihr stockte der Atem, als ein silbergrauer Wolf aus dem Gebüsch trat.
Es gab bekanntlich keine Wölfe in ihrer Gegend. Aber trotzdem stand jetzt einer vor ihr, wenn sie nicht den Verstand verloren hatte. Wie war das möglich?
Meistens jagten Wölfe in Rudeln, dieser hier schien jedoch allein zu sein. Entweder hatte er also sein Rudel verloren, oder war ein Einzelgänger.
Er kam immer näher, den Blick unverändert auf sie gerichtet. Das Einzige, das sie veranlasste sich nicht sofort umzudrehen und so schnell wie möglich von hier wegzukommen, waren seine Augen. Bisher hatte sie noch nie von einem Wolf mit grünen Augen gehört oder gelesen. In ihrer Bekanntschaft gab es nur drei Menschen mit grünen Augen: Chris, einer der Lehrer aus der Schule und ihre beste Freundin. Sie verwarf den Gedanken wieder. Wie seltsam, einen Wolf mit einem Menschen zu vergleichen! Sie schüttelte den Kopf.
Der Wolf bleckte die Zähne und knurrte sie an, was sie wiederum zum Anlass nahm, um sich umzudrehen und so schnell wie möglich auf dem Weg zurückzukehren, auf dem sie gekommen war.
Er sah dem Mädchen noch eine Weile nach, bevor er wieder im Gebüsch verschwand und zu seiner Höhle zurückkehrte. Dort angekommen, grub er den Rest der gestrigen Jagd aus und machte sich daran, ihn zu verspeisen.
Die Spuren waren frisch. Der Wilderer war erstaunt, ausgerechnet hier, am anderen Ende der Welt, Wolfsspuren zu finden. Wölfe waren selten geworden und ihr Fell ließ sich für umso mehr verkaufen. Wenn sie doch irgendwann einmal ausstarben, dann konnte man vorher wenigstens ordentlich Nutzen daraus ziehen.
Er würde es seinem Freund berichten. Morgen schon konnten sie auf Wolfsjagd gehen. Aber nicht, ohne vorher genügend Fallen und Fangeisen aufgestellt zu haben. So war es lediglich eine Frage der Zeit, bis der Wolf ihnen in die Falle ging. Betäubungsfeile sowie Fangeisen lagen ja bereit. Höchstwahrscheinlich war der Wolf nur ein Einzelgänger, aber man konnte ja nie vorsichtig genug sein. Einzig und allein die Öffentlichkeit durfte nichts davon mitbekommen, denn sonst würden schon bald Reporter den Wald unsicher machen, um möglichst gute Fotos zu erhaschen.
Die Gegend hier roch erstaunlich gut. Er fand auch den Geruch des Mädchens wieder. Ähnliche Gerüche waren überall zu entdecken. Er musste in die Nähe ihrer Behausung gekommen sein. Im frisch gefallenen Schnee fanden sich noch keine Fußspuren, also mussten die Menschen noch im Haus sein. Er hielt Sicherheitsabstand zu dem Gebäude, und versuchte, sich möglichst nicht bemerkbar zu machen. Dieselbe Vertrautheit, die er bereits am Tag zuvor während der Begegnung mit dem Mädchen verspürt hatte, stieg in ihm auf. Es schien so, als ob er dieses Gebäude mit den seltsamen Gegenständen und den Menschen bereits kennen würde, als habe er jeden Winkel dieses Platzes zur Genüge erforscht.
Um das Haus herum wimmelte es nur so von den Bauen der verschiedensten Tiere, die von der Wärme und den Essensresten angezogen worden.
Es war Zeit, jagen zu gehen.
Die Spuren des vergangenen Tages waren durch den Wind der Nacht bereits zugeweht. Die Wilderer waren jedoch so erfahren in ihrem Gewerbe, dass sie die Stelle bereits gekennzeichnet hatten. Zu ihrem Pech fanden sie im näheren Umkreis keine weiteren Hinweise auf den Verbleib des Raubtieres.
Sie teilten sich auf, um eine weitere Fläche absuchen zu können. In der Nähe eines Wohnhauses nahe dem Skihang wurden sie erneut fündig. Die Fußspuren führten zu einer Höhle, die jedoch für einen Menschen zu eng war.
Anna seufzte, während sie an ihrem Schreibtisch über ihren Hausaufgaben saß. Wenigstens die waren noch dieselben.
Inzwischen waren schon zwei Tage vergangen, ohne eine Spur ihres Bruders zu entdecken. Erst heute Morgen waren ihre Eltern in die Stadt hinunter gefahren, um festzustellen, ob dort eine Spur von ihm zu finden war. Vergeblich. Es schien fast, als habe es nie einen Jungen mit Namen Christian Hill gegeben, als habe ihn der Erdboden verschluckt.
Das Haus schien ihn förmlich anzuziehen. Diese Nacht hatte es nicht geschneit, weswegen die Spuren des gestrigen Tages noch gut zu erkennen waren. Neben seinen eigenen Fußspuren nahm er noch die eines Menschen wahr. Hatten sie ihn entdeckt?
Die Tür des Hauses öffnete sich. Das Mädchen trat hervor. Einem Impuls folgend trat er aus dem Dickicht und ging auf sie zu. Sie wich zuerst zurück, stieß dann aber mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre linke Hand umklammerte etwas. Er stupste die Hand mit der Schnauze an, um zu zeigen, dass er ihren Inhalt sehen wollte. Sie öffnete zögernd die Hand. Es war eine Kette. Ein Anhänger aus Holz geschnitzt, der einen Wolf darstellen sollte. Der Anhänger, den er ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Er blickte sie an. Anna. Seine Schwester. Dann sah er an sich hinunter. Fell. Nur silbergraues Fell. Wie war es möglich, dass er überhaupt in diesem Körper steckte? Was, wenn es ihm nie wieder gelingen würde, sich zurück zu verwandeln? Hatte sie ihn erkannt?
Um sicherzugehen, nahm er ihr den Anhänger mit den Zähnen behutsam aus der Hand, legte ihn auf den Boden und hob ihn mit der Pfote wieder auf, um ihn ihr hinzuhalten.
Ihre Augen wurden groß. Dann nahm sie die Kette wieder in die Hände und hauchte: „Chris?!“
Sie hatte ihn verstanden. Er jubelte innerlich.
Es war ihr beinahe unmöglich, den Wolf, der sie aus seinen grünen Augen hoffnungsvoll ansah, mit ihrem Bruder in Verbindung zu bringen, aber ein kleiner Teil ihres Gehirns sagte ihr dennoch, dass es ihr Bruder war, der vor ihr stand. Aber das konnte doch nicht wahr sein! Wieso sollte Christian plötzlich im Körper diese imposanten, bedrohlichen Raubtieres stecken?
Der Wilderer war für einen Moment sprachlos. Anscheinend hatte der Wolf dieselbe Stelle zweimal hintereinander aufgesucht. Aber noch wunderlicher war, dass diese Stelle nicht unbewohnt war: Dort stand ein Haus! Er schlich so leise wie möglich noch etwas näher heran. Ein Zweig knackte. Der Wolf drehte ruckartig den Kopf und preschte davon.
Der Mann verdaute das Bild, das er eben gesehen hatte. Vor dem Haus stand ein Mädchen. Sie hielt eine Kette in der Hand, ihre Augen folgten dem Wolf. Dem Wolf, der vor ihr gesessen und seine Schnauze an ihrer Hand gerieben hatte.
Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte ihn. Es ging von seinem Hinterlauf aus. Er wandte den Kopf, um diesen zu begutachten. Rotes Blut tropfte in den weißen Schnee.
Er war in eine Falle getappt. Wenn er den Hinterlauf jetzt bewegte, riss er das Fleisch nur noch mehr auf.
Er musste es trotzdem versuchen. Der Mann, den er vorhin gerochen hatte, war keiner aus dem Dorf, folglich wusste er nicht, was ihn erwartete, wenn er ihm in die Hände fiel. Aber etwas Zeit müsste ihm noch bleiben, da ein Mensch unmöglich im Winterwald genau so gut rennen konnte, wie ein Raubtier. Vorausgesetzt, er konnte sich befreien.
Etwas stach ihn unangenehm auf der linken Seite. Er vermutete einen Ast, doch als er den Kopf drehte, bemerkte er den kleinen roten Pfeil, der in seiner Seite steckte.
Kurz darauf begann sich alles zu drehen, bis es schließlich schwarz wurde.
Die beiden Männer betrachteten das reglose Raubtier, dessen Fell ihnen auf den Schwarzmarkt sehr viel Geld einbringen würde. Aus Erfahrung wussten sie, dass das Fell sich am besten erhielt, wenn sie es dem Tier lebend abzogen. Das war der einzige Grund dafür, dass der Wolf noch am Leben war. Aufgrund des Betäubungsmittels würde er jetzt noch eine Weile schlafen.
Weiter unten am Berghang lag eine Scheune, die seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wurde. Dort würden sie ihn töten, nachdem sie mit ihm fertig waren.
Anna schnallte gerade ihre Skier an, als ihr Vater aus dem Haus trat. Die Spuren ihres Bruders hatte sie zuvor beseitigt.
„Morgen, Papa!“
„ Guten Morgen, Anna! Wo willst du denn hin?“
„Ich gehe nur mal schnell einkaufen.“
„Was fehlt uns denn?“
„Wurst, Toilettenpapier, und unser Brotkorb ist auch fast leer.“
„Hast du genug Geld mit?“
„ Ja.“
„Okay, dann bis später!“
Sie fuhr den Berg hinunter, einen Weg den sie schon so oft zurückgelegt hatte, dass sie ihn auswendig kannte.
Als sie zur alten Scheune kam, hielt sie an. Wieso war dort Licht? Das Gebäude war schon so einbruchgefährdet, dass es gefährlich war, es zu betreten. Sie schnallte die Skier ab und schlich sich so gut es ging näher heran. Dann lugte sie vorsichtig um die Ecke.
Das Bild, das sich ihr bot, war erschreckend:
Zwei grimmig aussehende Männer knieten um ein am Boden liegendes Fellbündel herum. Nein, das war kein Fellbündel, sondern ein Tier. Ein großes Tier mit silbergrauem Fell. Christian! Er war doch nicht etwa…? Nein, sie weigerte sich, das zu glauben!
Sie räusperte sich, und die Männer drehten sich um.
„Das Haus ist einsturzgefährdet. Haben Sie das Schild an der Tür nicht gelesen?“
Sie tat so, als bemerke sie den Wolf nicht.
Klaus stieß seinen Kollegen mit dem Ellenbogen an. Dann raunte er ihm zu:
„Das ist das Mädchen, das oben in der Hütte wohnt. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe.“
Zu dem Mädchen gewandt sagte er:
„Lassen wir das. Wir können auch gleich aufs Ganze gehen. Wir haben den Wolf und sind in der Überzahl. Was willst du?“
„Ich will, dass Sie meinen …. den Wolf freilassen!“
Beide Männer glaubten, sich verhört zu haben. Dann brach der Größere in schallendes Gelächter aus.
„Kleine, entweder bist du ein Naturfreak oder vollkommen durchgeknallt.“
Anna hatte große Mühe, ruhig zu bleiben.
„Lassen Sie den Wolf frei!“
Nur mühsam gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Das Betäubungsmittel war immer noch in seinem Blut, und es war stark. Sein verletztes Bein pochte unangenehm, aber er wusste, dass er das ganze Ausmaß der Schmerzen erst dann zu spüren bekommen würde, wenn er vollkommen wach war. Sein Mund war so trocken, als wäre er gerade durch eine Wüste gelaufen.
Außer den beiden Männern war noch eine andere Person anwesend. Der Geruch war ihm vertraut wie kaum ein zweiter. Es war Anna.
Die Männer waren gefährlich. Was also wollte sie hier?
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag. Sie war seinetwegen hier! Verdammt. Er musste unbedingt verhindern, dass die beiden Wilderer ihr etwas taten.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Chris sich bewegte. Erleichterung durchströmte sie. Er lebte also noch!
„Du solltest besser von hier verschwinden, Mädchen. Weißt du, wir haben beide Waffen, und wenn dir der Wolf so wichtig ist, dann können wir ihn auch genau so gut gleich erschießen. Wenn du dann zur Polizei gehst, kannst du ihn sowieso nicht mehr retten. Es kommt doch öfter vor, dass Raubtiere Menschen anfallen, nicht?“
„Angenommen, er hätte Sie angefallen, wieso haben Sie dann nicht gleich die Polizei verständigt? Und wieso würden Sie dann Waffen mit sich herum tragen?“
„Hau einfach ab!“
„Klaus? Ähm ich glaube, das solltest du dir mal anschauen!“ Der zweite Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
„Was? Wo ist der Wolf?“ Ruckartig wandte der Größere sich um. Dann kam er mit schnellen Schritten auf Anna zu, packte sie am Arm und zischte ihr hasserfüllt ins Gesicht:
„Wo ist der Wolf?“
„Vielleicht dort, wo er ursprünglich sein sollte?“ Aus einer der dunkelsten Ecken der Scheune, hinter einem der alten Kistenstapel trat ein Junge hervor. Er war jünger als das Mädchen und sah ihr dennoch verblüffend ähnlich.
Chris achtete darauf, dass sein verletzter Fuß im Dunkel blieb, denn dieser hätte ihn womöglich verraten. Er stützte sich schwer auf die Kisten, um das Gleichgewicht zu halten. Noch immer hielt das Betäubungsmittel seine Schmerzen in Grenzen. Aber das würde nur noch ein paar Sekunden lang so bleiben, wenn er die Lage richtig einschätzte.
Er sah Anna in die Augen und versuchte ihr so klar zu machen, dass sie fliehen sollte, sobald er die Aufmerksamkeit beider Männer auf sich gelenkt hatte.
Danach musste er wieder den Größeren anschauen, der jetzt auf ihn zukam.
„So? Dann sag mir doch bitte, wo das deiner Meinung nach ist?“
„In seiner natürlichen Umgebung. Aber davon scheinen Sie ja nicht sehr viel zu halten.“
„Hör mal zu, Junge. Siehst du diese Waffe hier? Das ist eine Spezialanfertigung für die Jagd. Wenn man damit schießt, erzeugt das keinen Laut. Ich könnte dich also hier und jetzt töten.“
Chris sah, wie Anna sich aus dem Gebäude schlich. Sie würde Hilfe holen. Ein Teil seiner selbst schrie ihm in Todesangst zu, dass er es ihr gleich tun müsse, nur um in Sicherheit zu sein. Er kämpfte mit Gewalt dagegen an. Er durfte gegenüber dem Anderen keine Schwäche zeigen, da dieser sie sofort ausnutzen würde. Außerdem war ihm das sowieso unmöglich. Mit diesem Fuß würde er nach den ersten paar Schritten zusammenbrechen. So starrte er nur auf den Lauf des Jagdgewehres.
„Ich gebe dir zehn Sekunden Zeit. Dann schieße ich. Also überlege dir gut, was du sagst!“
Der zweite Mann erblasste, dann wandte er sich an seinen Freund.
„Bist du wahnsinnig? Du bist gerade im Begriff, einen Menschen zu töten!“
„10.“
„ Der Wolf kann noch nicht weit sein.“
„ 9.“
„ Wir könnten ihn noch einholen!“
„8.“
„ Vor allem, da er verletzt ist!“
„7…6…5…4…3…2…1. Deine Antwort, Junge!“
Chris schüttelte stumm den Kopf. Es gab nichts, was er entgegnen konnte. Und eine gute Lüge fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
Der Mann schoss. Entgeistert sah sein Kumpan zu, wie der fremde Junge rückwärts zu Boden fiel.
Anna hörte den Schuss trotz der Versicherung des Wilderers und begann, zu rennen. Es durfte noch nicht zu spät sein!
Das Schneemobil der Pistenwache raste den Berg hinauf, wobei der Fahrer versuchte, auch noch das Letzte aus dem Fahrzeug heraus zu holen. Hinter diesem tauchten auch noch andere Pistenfahrzeuge aus dem Nebel auf, der zu dieser Tageszeit stets noch im Talkessel hing. Anna war mithilfe ihrer Skier so schnell den Berg hinunter gefahren, wie sie konnte, um dann gleich ins Polizeipräsidium zu rennen und den Vorfall zu melden. Natürlich sprach sie nicht von ihrem Bruder in der Rolle des Wolfes, erwähnte auch die vorherigen Begegnungen nicht, aber ansonsten blieb sie bei der Wahrheit. Das musste ausreichen. Wölfe standen ja schließlich unter Naturschutz. Chris war in Gefahr, verdammt! Sie wünschte, das Schneemobil wäre schneller, die Strecke kürzer – alles, nur um schneller zu ihm zu gelangen!
Die Strecke bis zur alten Scheune war nicht sehr weit, aber da erst die Schneemobile startklar gemacht werden mussten, hatte es doch etwas länger gedauert.
Der Mann, der neben dem Jungen kniete, fühlte dessen Puls.
„Er lebt noch. Ich habe daneben geschossen. Aber schau dir mal seinen Fuß an. Sieht so aus, als wäre er erst kürzlich in eine unserer Fallen getreten.“
„Wie kommt es dann, dass wir es nicht erfahren haben? Außerdem ist keiner so unvernünftig und geht in dem Aufzug, “ er deutete auf die kurzen Kleider des Jungen, „nach draußen. Was machst du da?“
„Ihn fesseln. Das Mädchen hat inzwischen sicherlich Hilfe geholt. Ohne eine Geisel kommen wir hier nicht mehr raus.“
„Und was willst du dann machen, wenn wir so weit weg sind, dass sie uns nicht mehr einholen können? Abgesehen davon, dass er sowieso mit größter Wahrscheinlichkeit erfriert?“
„Ihn zurücklassen.“
„Dann stirbt er!“
„Das ist mir vollkommen egal.“
„Verlassen Sie mit erhobenen Händen das Gebäude! Sie sind umstellt! Wenn Sie sich jetzt stellen haben Sie bessere Chancen in einem fairen Prozess!“
„Du gehst zuerst. Und vergiss nicht: ein Fehler und du bist tot!“ Mit diesen Worten stieß der Größere den Jungen durch die Tür, durch die er ihm sofort folgte, die Pistole an dessen Schläfe gepresst. Sein Kumpan tat es den beiden gleich. Auch er war jetzt bewaffnet.
Sie hatten dem Jungen die Hände vor dem Körper zusammen gebunden, dann war er erwacht.
Ihr Gefangener konnte durch seine Verletzungen kaum laufen oder sich selbst aufrecht halten. Es war ihm unmöglich zu fliehen.
Die beiden Wilderer hatten seinen Namen gar nicht erst wissen wollen, für den Fall, dass sie ihn doch eigenhändig töten mussten.
Anna stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus, als sie ihren Bruder erblickte. Chris war nur noch ein Schatten seiner selbst. Gesund wäre er eher gestorben als sich von jemandem stützen zu lassen, jetzt aber hielten ihn nur noch die Wilderer. Auf seinem hellen T – Shirt hatte sich ein immer größer werdender, rostroter Fleck gebildet und wenn er seinen rechten Fuß belasten musste, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Er stürzte beinahe und der Mann hinter ihm fing ihn auf. Er legte seinen freien Arm um den Hals des Jungen. Wenn er jetzt fiel, erwürgte er sich selbst.
„Der Junge ist verletzt! Haben Sie das zu verantworten?“
„Teilweise. Aber darauf muss ich keine Antwort geben, wissen Sie. Datenschutz.“
„Ich könnte Ihnen beiden freies Geleit zusichern, wenn Sie ihn hier lassen.“
„Und wer sagt mir, dass Sie Ihr Wort halten? Keiner. Der Junge ist unsere lebende Versicherung dafür, dass wir hier weg kommen.“
„Dann geben Sie ihm bitte wenigstens meine Jacke!“
„Habe ich eine Garantie darauf, dass die nicht verwanzt ist? Nein. Es bleibt dabei!“
Der Ganove zog den Jungen an sich, gerade als dessen Beine unter ihm wegsackten, schob dessen gefesselte Arme um seinen Hals und ging los, immer weiter hinaus in das Schneegestöber. Die verängstigte Menge wich schweigend zurück, denn niemand bezweifelte, dass er seine Geisel letztendlich doch töten würde, sobald sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu bot.