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4. Das Konzentrationslager
Оглавление„Können Sie noch arbeiten? Wenn Sie nicht mehr arbeiten können, ist zu prüfen, ob Sie einen Anspruch auf Sozialhilfe haben. Und wenn Sie noch arbeiten können, dann bekommen Sie Arbeit. Wenn Sie nicht mehr arbeiten können, dann gehen Sie hier durch die Türe links. Und wenn Sie noch arbeiten können, dann gehen Sie hier durch die Türe rechts.“ sagte der Mann im schwarzen Anzug.
Verdammt! Man hat mich reingelegt. Die Tür links war eine Fallgrube. Brutal schlug es mich auf dem Boden auf. Ich kann nur noch schreien vor Schmerzen. Meine Hände hat es zerschmettert. Und meine Knie sind auch zerbrochen. Ich blute. Es ist stockdunkel. Ich kann es gar nicht fassen und sehen, wo ich jetzt bin.
Langsam gewöhne ich mich an diese Dunkelheit und beginne wie in der
Nacht etwas zu erkennen. Ich bin in einem Käfig mit festen Eisengittern gefangen. Hyänen sitzen hier drin, mir ganz nahe, und starren mich an.
Es riecht so verfault. Es riecht nach Blut und Tod. Unzählige Leichen liegen auf dem Boden. Vor Schmerzen verzehrte, buckelige Menschen
stehen an den Gittern und wollen hinaus. Manche liegen gekrümmt. Sie waren sehr erschrocken als ich runter gefallen bin.
Nun begreife ich langsam, wo ich bin.
So wie die anderen bin ich hier in einen großen Hyänen-Käfig runter gefallen und auf dem Boden aufgeprallt. Der Käfig steht in einem dunk-
len Keller. Ich winde mich auf dem Beton liegend hin und her vor
Schmerzen. Wenn ich nur wüsste, wie ich hier wieder raus komme. Fünf
Hyänen glotzen mich in der Dunkelheit an. Es wundert mich. Sie stürzen sich nicht auf mich.
Noch habe ich etwa Glück. Sie sind anscheinend schon so satt. Sie haben
heute schon so viele gefressen, denke ich, dass sie mich momentan noch nicht verschlingen wollen. Aber wenn ich nur wüsste, was ich machen
kann, wenn sie wieder Hunger bekommen und mich fressen wollen. Jetzt habe ich panische Angst.
Im selben Augenblick kommt schon wieder ein Mensch herunter gedon- nert und prallt laut und mit voller Wucht, mit dem Kopf aufschlagend,
auf dem Betonboden auf. Er ist ein junger Mann.
Es hat geknackt als ihm der Kopf zerbrochen ist. Er bleibt liegen und rührt sich nicht mehr. Das Blut läuft aus seinem Kopf. Offensichtlich ist
er tot.
Die anderen Menschen alle, die hier stehen, sie fallen sich vor Angst und
Verzweiflung gegenseitig in die Arme und es geht ein Raunen und Jam-
mern, ein Murmeln und Flüstern durch den Raum. Auch Schreie sind ständig und immer wieder zu hören.
Plötzlich flüstert mich von hinten ein Mann an, durch das Gitter hin- durch, aus der Dunkelheit.
„Sie sind ja nochmal eingesperrt, in einen Käfig.“ sagt er. „Ja.“ sag ich und wende mich zu ihm.
„Und sehen Sie die dicken, fetten Hyänen da in der Nähe, mit ihren gierigen, leuchtenden Augen?“
„Ach je. Ja.“ sagt der Mann. „Sie müssen aus diesem Käfig raus. Ich will
Ihnen dabei helfen.“
„Ja. Aber wie denn? Und wie sind Sie hier rein gekommen in diesen
Bunker? Warum sind Sie nicht auch hier im Käfig?“
„Ich bin die Türe rechts gegangen.“ sagt der Mann. „Das war auch eine
Fallgrube, aber eine mit Rutschbahn. Und wir sind nicht in diesem
Käfig. Aber ich glaube, aus dem Keller kommen wir alle nicht mehr raus. Sie sollen gefressen werden. Und ich soll vielleicht hier arbeiten. Aber ich
will mit Ihnen zusammen flüchten. Wenn es nur irgendwie geht. Das muss doch möglich sein.
Vielleicht finde ich was. Wir überlegen uns eine Möglichkeit.“
Da kommen nun immer mehr Menschen an diesen Käfig ran. Frauen und Männer. Junge und alte. Sehr, sehr viele Menschen, die ich eben
oben noch im hellen Licht gesehen hatte. Sie sind hier alle in der Dun-
kelheit, durch das Gitter hindurch, nur noch als graue Gestalten zu erkennen.
Mit ganz bleichen Gesichtern. Irgendwie sehen sie aus wie Geister und
Gespenster.
Manche jammern und weinen. Viele sind ganz still. Alle sind sie fas- sungslos, dass sie hier sind. Sie können es nicht verstehen.
Fragend, dabei ihre Nasen mit den Händen verdeckend, schauen sie in den Käfig zu uns rein. Hier riecht es nach Tod. Hier liegt so ein sonder-
barer Leichengeruch in der Luft. Wie in einem Leichenhaus. Auf dem
Boden sind Blutlachen. Und ein Haufen Tote liegen hier. Sehr viele
Menschen stehen und knien hier in diesem Käfig. Schweigend. So als schämen sie sich. Manche liegen so wie ich vor Schmerz gekrümmt auf
dem Boden.
Es schlägt bereits der nächste Mensch hier auf dem Boden auf. Merk- würdig. Er war schon tot als er auf dem Boden aufprallte. Wie das sein
konnte, verstehe ich nicht. So wie ein gefüllter, nasser Sack kam er
heruntergesaust. Voll Schreck zieh ich mich auf dem Boden entlang. Ich krieche immer gleich hin zu diesen Toten und schaue sie an.
„Wo bleibt mein Verlobter? Er wollte mir doch gleich folgen. Er ist hier nicht runter gefallen.
Wo ist er?“ frage ich diesen Mann, der mich gerade angesprochen hatte.
„Wer? Ich weiß es nicht.
Ich war schon vor Ihnen in diesem Keller. Ich hatte sie beide ja oben nicht gesehen, zu welcher Türe ihr gegangen seid.“ antwortet er mir. Ich
mache mir jetzt ungeheure Sorgen um meinen Verlobten, was mit ihm sein wird.
Gerade in diesem Moment fällt eine junge Frau herunter. Sie schlägt mit ihren Beinen mit voller Wucht auf dem harten Betonboden auf. Man hat
es gehört, wie ihre Knochen gebrochen sind.
Sie schreit und schreit laut vor Schmerz und vor Entsetzen. „Wo bin ich jetzt? Wo bin ich jetzt?“ schreit sie nur die ganze Zeit aus ihr heraus. Sie
steht unter Schock. „Hat man mich jetzt in eine Grube geworfen? Was
sind das hier für Gitter?“
Eine Hyäne steht auf und kommt langsam angeschlichen. Die leuchten- den, jagd- und fressgierigen Augen werden wie matte Lichter näher
kommend immer größer. Ich bekomme Panik. Ich ziehe mich am Gitter
hoch und will mich auf die linke Käfigseite hin vor ihr in Sicherheit bringen.
Da dreht sich die Hyäne einfach um und setzt sich wieder hin. Und sie schaut mich weiter an, mit ihren dumpf leuchtenden Augen in der
Dunkelheit. Sie sind ganz still hier die Hyänen. Nicht einen Ton geben sie von sich. Wenn ich nur wüsste, ob sie verstanden hatten, was ich eben
mit diesem Mann besprochen habe. Irgendwie habe ich da so ein eigen- artiges Gefühl. Als ob die verstehen was man redet.
Plötzlich höre ich hart aufschlagende, eilige Schritte auf einer Treppe herunter kommen. Zwei Männer in Uniform schubsen daraufhin die
Menschen vor dem Gitter weg. Sie haben Gewehre dabei. Laut ruft einer der beiden, wie ein Feldwebel: „Die Hyänen haben heute schon genug
gefressen. Jetzt muss ich sie wieder alle erschießen. Ihre Leichen werden dann gleich abgeholt, weil ihnen die Organe entnommen werden. Der
Rest wird dann wieder zurückgebracht.“
„Den habt dann ihr hier im Krematorium zu entsorgen. Hände hoch!“
schreit der zweite Uniformierte in die Menschenmenge die er gleichzeitig mit seinem Gewehr bedroht.
Und ohne mich noch richtig anzusehen, schiebt der Erstere den Lauf seines Gewehres durch das Käfiggitter hindurch, zielt auf mich und
erschießt mich. Dreimal schießt er mir in den Kopf. Schnell hatte ich noch in äußerster Panik und Not um Hilfe geschrien. Das hat alles nichts
genützt. Plötzlich bin ich tot.
Aber etwas mir bisher Unvorstellbares ist nun passiert. Ich bin selber total überrascht. Ein Wunder ist geschehen. Ich bekomme alles noch genau so bewusst mit wie vorher. Momentan kann ich es selbst noch kaum glauben. Ich habe genau mitbekommen, dass es drei Schüsse waren, die sich unter Höllenschmerzen in mein Hirn gebohrt hatten, bis die Schmerzen auf einmal weg waren.
Ich hätte gar nicht gedacht, dass das so schön ist, tot zu sein. Denn ich bin gar nicht tot. Nur mein Körper liegt jetzt tot hier auf dem Boden. Aber ich lebe noch. Ja, ich lebe noch. Oh, und wie schön das ist. Ich bin jetzt Geist. Es ist alles noch genau so wie vorher.
Nur bin ich nun einfach ein Geist. Ich stehe plötzlich neben meiner
Leiche.
Die Menschen vor dem Käfig, in höchster panischer Angst ihre Hände hoch haltend, sie sehen mich und die anderen nicht mehr. Sie starren
durch das Gitter hindurch auf den Boden zu meinem Körper und zu den anderen die jetzt gerade alle hier umfallen. Nur unsere Leichen sehen sie.
Die Bedrohten vor dem Käfig haben nur noch Todesangst und stehen unter Schock.
Der Todesschütze ist gerade dabei, alle hier im Käfig neben mir im
Eilverfahren zu erschießen. Ein paar mal muss er nachladen. Das geht alles zack-zack.
Und diejenigen vor dem Käfig taumeln in Todesangst, auch erschossen
zu werden. Manche von ihnen werden ohnmächtig und fallen einfach um. Andere fangen sie manchmal auf und halten sie fest.
Und ich sehe diese Menschen da draußen vor dem Gitter noch so wie ich sie vorher gesehen hatte. Und plötzlich stehen die Erschossenen alle
neben mir hier als Geister. Wir sehen uns.
Wir bewundern uns gegenseitig. Hören tue ich alles noch ganz genau so wie vorher. Ja, ich rieche alles so wie vorher. Und ich fühle noch eben so.
Sogar den Geschmack habe ich noch in meinem Mund.
Ach, und ich fasse durch den Käfig hindurch und ziehe am Ärmel von diesem Schützen, der mich eben erschossen hat. Ich tue das, um zu
prüfen, ob ich jetzt wirklich ein Geist bin. Ich wollte noch versuchen, ihn daran zu hindern, dass er weitere Menschen erschießt. Er merkt es nicht.
Und ich betaste den Lauf des Gewehres, vorne am Ende, wo so viele
Kugeln eben raus kamen, die uns alle gerade erschossen haben, und fühle, dass der Lauf noch sehr heiß ist. Und ich befühle meinen Körper,
der hier tot liegt, an der Stirn. Ich fühle wie er langsam kalt wird. Jedoch
fühle ich mich vollkommen leicht. Und es ist angenehm, diesen schwe- ren, materiellen Körper endlich los geworden zu sein. Die körperlichen
Schmerzen waren auf einmal weg. Ja, ich bin froh.
Oh, Gott, wie schön das ist. Es ist so wunderbar, tot zu sein. Ich kann jetzt nicht nur hören, was die Menschen vor dem Käfig reden. Ja, ich bin nun auch ganz verblüfft über etwas Neues. Denn ich kann sogar ihre Gedanken wahrnehmen. So als ob ich sie in meinem eigenen Kopf verstehen würde. Jedoch gesondert von meinen eigenen Gedanken. Das ist unglaublich und jetzt ganz neu für mich. Ich kann tatsächlich ihre Gedanken erfassen. Solange ich will. Wenn ich nicht mehr will, dann kann ich die Erkennung ihrer Gedanken ausschalten, so als würde ich einfach weghören.
Der Mann der mir helfen wollte, er steht jetzt absolut unter Schock. Er zittert und bebt am ganzen Körper. Mit leiser, gebrochener Stimme sagt
er zu den uniformierten, bewaffneten Männern: „Warum tun Sie so
etwas? Warum haben Sie sie alle und diesen netten Mann erschossen? Er hatte ihnen doch gar nichts getan.“
„Er wollte nicht arbeiten.“ bekam er zur Antwort. „Ich habe den aus- drücklichen Befehl, dass ich alle erschießen muss, die nicht arbeiten
wollen. Und Sie da, junger Mann, Sie werden sich nach den weiteren
Befehlen richten müssen, die jetzt dann gleich auf Sie zukommen.“
Die fünf Hyänen stehen in diesem Augenblick nun gleichzeitig auf und heben ihre schauderhaften Köpfe hoch. Darunter kommen fünf ganz
normale Gesichter uniformierter Frauen zum Vorschein. Die Masken legen sie auf den Boden. „Wir haben jetzt Mittagspause.“ sagen sie
gemeinsam zu den beiden Männern mit den Gewehren, wie in einem
Chor, während sie die Reißverschlüsse ihrer Tierkostüme öffnen und aus ihnen hervor schlüpfen, ziehend an den Ärmeln und Beinen. Dann
schließen sie die Gittertüre des Käfigs auf und gehen, ohne uns noch
weiter zu beachten, davon.
Die Tür lassen sie offen. Denn hier drinnen liegen nur noch Tote, mei- nen sie. Ach, und wenn sie sie wieder zu gemacht hätten, dann würden
wir eben einfach durch das Gitter hindurch schweben.
Der Todesschütze und der Mann der mir Hilfe anbot, kommen nun herein. Sie wissen es nicht, dass wir als Körper und Geister getrennt hier
sind und dass wir nicht tot sind, nur unsere Körper hier tot liegen. Wir stehen alle nun lediglich als Geister hier, die sie aber selbstverständlich
nicht sehen können.
Der andere Uniformierte bedroht diejenigen außerhalb des Käfigs noch immer mit seinem Gewehr. Er hat alles im Griff, so meint er jedenfalls.
Da bricht dieser freundliche Mann der mir helfen wollte, zusammen. Er
wirft sich über meinen toten Körper, drückt ihn ganz fest und herzlich, als ob er mich verloren hätte, als ob ich tot wäre. Und er sagt zu mir,
nicht ahnend, dass ich als Geist daneben stehe: „Kommen Sie gut in den
Himmel! Kommen Sie gut in den Himmel! Mein lieber Freund. Sie waren so ein guter Mensch. Das hatte ich eben gemerkt. Wir haben uns doch gerade kennengelernt. Und jetzt sind Sie schon tot.“ Plötzlich duzt er mich. „Komm gut in den Himmel! Komm gut in den Himmel! Gott nimmt
Dich sicher auf. Freund. Du kommst bestimmt ins Paradies. Du warst so lieb. Gott hat Dich selig im Frieden und lieb im Himmel.“ Ich kann seine
Gedanken wahrnehmen und weiß daher, dass er es tatsächlich ehrlich
meint. Wir hatten uns gerade angefreundet und wir mögen uns.
Der Mörder, der mich gerade erschossen hat, er sagt: „Muss das sein? Reiß dich doch mal ein bisschen zusammen! Ist doch vollkommen
lächerlich, was du hier abziehst. Hier wird nicht gejammert. Jeder
kommt mal dran. Du auch. Da hilft dieses ganze Winseln und Flennen nichts.“
Bebend vor Trauer, Angst, Verzweiflung und Leid wehrt sich der liebe
Mann von diesem brutalen, uniformierten Mörder ab, indem er ihm mit der Faust an den Stiefel schlägt.
Hierauf haut der Massenmörder ihm einen sehr heftigen Tritt in die
Seite neben dem Bauch rein.
So dass der mir beistehende Mann unter nach Luft ringenden Stoß- schreien sich vor Schmerzen auf dem Boden windet und krümmt.
Mit den Worten „Das hast du nun davon. Du Schwuchtel.“ grinst ihn
der Massenmörder zynisch an.
Der mich auf seine Weise liebende Mann beginnt zu weinen und plötz- lich sagt er zitternd und mit zärtlicher leiser Stimme, mich festhaltend,
neben meiner Leiche kniend: „Lieber Freund, ich muss jetzt für Dich
beten. Ja. Ich muss jetzt für Dich beten.“ Und dann betet er ein ´Vater unser` für mich:
„Vater unser.
Der Du bist im Himmel. Geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe.
Wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung.
Sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit. In Ewigkeit.
Amen.“
In diesem Moment kommt eine Truppe uniformierter Männer mit Särgen aus Metall in totaler Hektik lärmend angerannt. Sie kommen mit einer Geräuschkulisse herbeigeeilt, die sich geradezu so anhört als ob eine Kanone einen knallenden Schuss nach dem anderen abgibt. Mit den Särgen hauen sie so herum, dass es metallisch so laut kracht, dass uns Geistern fast auch noch die Trommelfelle dabei zerplatzen.
Diese Bestattungsbeauftragten stellen die Särge neben die toten Körper auf den Boden und öffnen sie. Sie sind mit Eiswürfeln gefüllt. Sie schub- sen den trauernden Mann von meinem toten Körper weg. Zwei von ihnen packen ganz schnell meine Leiche. Der eine nimmt sie an den Schultern und der andere umgreift meine ehemaligen Beine. Sie legen meine Leiche auf die Eiswürfel und schließen den stählernen Sarg sofort wieder. Genauso machen es die anderen mit den noch weiteren Leichen. Sodann eilen sie mit den Särgen auch schon wieder weg.
„Ihnen werden sofort ihre sämtlichen Organe für Transplantationen entnommen.“ „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ „Sonst beginnen sie zu faulen.“ sagen sie mit höhnischem Gelächter, unsere toten Körper in den Särgen abtransportierend. Und schon ist auch meine Leiche weg.
Mir ist klar, dass meine Organe jetzt jemandem eingepflanzt werden, der nicht sterben will, weil er nicht weiß, wie schön und wunderbar es ist, tot zu sein. Weil er nicht ahnt, dass man dann ja als Geist weiterlebt. Damit können die Händler mit den Organen ´natürlich` noch ein sehr großes Geschäft machen. „Sogar meine Leiche wollen sie noch verwerten.“ denke ich und bin am Überlegen, wie ich das noch verhindern könnte. Noch bin ich aber mit meinen Möglichkeiten, welche ich nun als Geist habe, nicht ganz vertraut. Ich muss mich erst an mein neues Dasein gewöhnen.
Der Mörder mit dem Gewehr, durch welches ich anscheinend getötet wurde, bedroht damit nun den anderen Mann, der für mich betete, und
kommandiert ihn damit irgendwohin. Dieser neue Freund dreht sich
eigenartiger Weise noch nach mir um, so als fühlte er, dass ich noch als
Geist hier stehe. Sie verschwinden in der Menge vor dem Käfig und ich sehe ihnen hinterher.
Der zweite uniformierte Schütze zielt mit seinem Gewehr auf die Men-
schenmenge vor dem Gitter-Käfig, gleichzeitig laut schreiend: „Marsch! Los geht es! Abmarsch! Alle hier lang! Marsch!“ Alle folgen nun dem
Massenmörder und dem Für-Mich-Betenden. Eigentlich will ich fast mit
ihnen mit schweben, doch ich muss erst mal zur Besinnung kommen. Als Geist ist es mir klar, dass ich jederzeit dem Für-Mich-Betenden wieder begegnen kann, wenn ich es will. So auch dem Massenmörder und allen anderen. Aber ich muss jetzt überlegen, was ich mit meinem Geisterleben anfange, wie es weitergehen soll.
Nun fühle ich mich als Geist hier unter den anderen Geistern irgendwie verloren und verlassen. Ich kenne die anderen Geister nicht. Einsamkeit
überkommt mich. Ich will jetzt nur noch meinen Verlobten suchen. Erst
jetzt wird mir klar, dass einzig und allein mein Wille mir den Weg weist. Denn ich muss die Treppe, welche nach oben führt, nicht mehr suchen,
sondern allein mein Wille und mein Geist weist mir den richtigen Weg. Wie automatisch gehe ich zu dieser runden Wendeltreppe aus Beton und
gehe schwebend hinauf.
Die ganze Zeit über wusste und fühlte ich, dass mein Verlobter noch lebt. Aber was mit ihm geschehen ist, das will ich jetzt mit eigenen Augen
sehen. Mir ist auch klar, dass er sich in einer ganz schwierigen Situation
befindet und dass ich ihm dringendst beistehen muss. Er ist gerade in fürchterlichster Not, das weiß ich.
Nur kurz kann ich daher noch überlegen, ob ich auch etwas unterneh- men soll, was meine Organe betrifft. Denn ich will nicht, dass mein
Herz, oder etwas anderes von mir, einem Nazi und einem Faschisten eingepflanzt wird. Der dann mit meinem Herz etwa seine Lebenszeit
noch verlängern will, damit er sich noch weiter von Gott fernhalten kann. Da wird mir aber klar vor Augen, dass sich mein Herz, oder ein
anderes Organ von mir, mit seinem Körper ohnehin nicht verbinden lässt.
Es wird eine abstoßende Reaktion geben und er wird sterben. Dann wird er allerdings auch ein Geist sein.
Mir selbst stelle ich nun die Frage, was es mit so einem Geisterleben überhaupt auf sich hat.
Ob das schon das Ende ist, oder ob dann nochmal etwas anderes kommt. Vielleicht wird ja die Seele nochmal neu geboren und bekommt wieder
einen Körper, erhoffe ich zu erahnen.
Während ich die Treppe hinauf schwebend gehe, kommt mir ein heller
Engel entgegen.
Er wendet sich mir sehr freundlich und liebevoll zu, so als begrüße er mich in einer neuen Welt. Er streicht mir zart mit seiner reinen edlen
Hand über den Kopf. Und er sagt sehr bedächtig und höflich zu mir:
„Kind Gottes, Du hast heute um 18:00 Uhr bei Gott eine Audienz. Bitte sei pünktlich. Zur Zeit sterben so viele. Gott hat eine Audienz nach der
anderen. Es soll besprochen werden wie es mit Dir weitergeht.“ Der
Engel mit den gelblich schimmernden Haaren und mit einem weißen Gewand bekleidet, legt seine Hände aufrecht wie zum Gebet zusammen und er schwebt wieder davon. Gerne hätte ich mich noch bei ihm be- dankt.
Ach, ehrlich, ich bin jetzt so froh, dass ich tot bin. In so einer Gesell- schaft, wie wir es materiell hatten, wollte ich ohnehin nicht mehr leben. Meine Familie hatte ich schon verloren, weil sie sie umgebracht haben. Nur um meinen Verlobten mache ich mir nun die größten Sorgen.
Ich muss zusehen, dass ich jetzt schnell zu ihm komme.
Wo wird wohl meine Familie jetzt sein, denke ich. Vielleicht begegnen wir uns ja bald wieder.
Wie ist das mit dem Himmel, frage ich mich. Ich dachte immer, er ist wo
anders, eben im Himmel. Erst jetzt wird es mir klar, dass er auch hier ist. Es ist also alles eins, der Himmel und die Erde.
Das Diesseits und das Jenseits sind tatsächlich ein und das selbe. Ich kann es selber noch kaum glauben. Der Unterschied ist nur, dass man im
Jenseits Geist ist. Das Jenseits ist aber auch hier. Sowohl der Himmel als auch die Hölle sind auf der Erde. Denn sie sind das Jenseits das hier auf
der Erde ist. Es ist die geistige Welt. Die Welt, in der die Seele eines jeden
Menschen weiterlebt.
Der Himmel ist also nicht irgendwo da oben und die Hölle ist nicht irgendwo da unten, sondern beide sind unter uns Menschen hier auf der
Erde in der geistigen Welt, wo es nach dem Tod weitergeht. Zumindest kenne ich es momentan noch nicht anders.
Während ich noch weiter diese endlos lange Treppe hinauf schwebe, wundere ich mich, dass ich jetzt ganz alleine bin und niemandem mehr
begegne. Ich hoffe nur, dass die anderen Geister von da unten sich auf den gleichen Weg hierhin begeben und nicht länger da unten noch auf
irgend etwas warten.
Als ich oben ankomme wo eine Tür auftaucht, muss ich durch diese
Türe hindurch schweben, denn öffnen kann ich sie jetzt natürlich nicht mehr. Da ich aber durch sie nur zu schweben brauche, ist es doch gar
kein Problem. Da bin ich nun wieder in diesem riesigen, fensterlosen
Saal mit dem weißen Marmorboden. Genau am anderen Ende komme ich hinein. Also auf der anderen Seite, gegenüber der Seite wo der kleine
Mann mit dem schwarzen Anzug ist. Noch immer steht eine ewig lange
Schlange bunter Menschen vor ihm. Es sind neue, die noch nicht da waren, als wir hier warteten.
Zu meiner Überraschung werde ich gerade auch damit verwundert, dass hier der ganze Saal voller Geister ist. Zuvor hatten wir ja nur den
schwarzen Mann und die wartende Menschenschlange gesehen. Ansons-
ten war der Saal leer. Doch nun stehen hier im Saal überall Geister. Der ganze Saal ist voll. So wie bei einer Demonstration oder bei einer Politik- Veranstaltung. Sie haben alle ganz andere Gewänder an. Offensichtlich sind sie aus den unterschiedlichsten Zeit-Epochen.
Sie beachten sich gegenseitig und dennoch ist jeder für sich. Ich merke, dass sie alle sehr sensibel und empfindsam sind. Nur weil ich jetzt selbst ein Geist bin, kann ich sie alle sehen.
Als mich die Geister kommen sehen, da grüßen sie mich. Sie lächeln mir sehr bedächtig, friedlich, lieb und freundlich zu. Es ist so als sagten sie
im Stillen alle gleichzeitig zu mir: „Willkommen im Himmel.“
Langsam wird mir klar, dass es sich bei den vielen Geistern hier um die
Verwandtschaft und um die Ahnen der Erschossenen handelt. Sie sind schnell hier her gekommen, um ihre Kinder ins Jenseits abzuholen. Ich
schaue mich um, ob ich jemanden von ihnen erkenne. Doch leider ist
niemand dabei, der mir bekannt wäre. Ich vermisse meine Familie und sehne mich nach meinen Angehörigen. Gleichzeitig denke ich, es wird
wohl einen Grund geben, warum sie noch nicht hier sind und mich abholen. Es ist mir klar, dass alles seinen richtigen Sinn so hat wie es jetzt
im Jenseits ist.
Unbedingt will ich nun ganz schnell zu meinem Verlobten. Da schwebe ich den ganzen Saal entlang. Erst jetzt nehme ich es richtig bewusst wahr,
dass da hinter diesem schwarzen Mann noch eine dritte Türe in der
Mitte ist. Ich weiß was mit meinem Verlobten geschehen ist. Gott ermög- licht es mir, dass mir die Vergangenheit vor die Augen geführt wird, bei
der ich selber nicht anwesend war.
Der kleine Mann im schwarzen Anzug hatte ihn davon abgehalten, mir zu folgen. Während ich in diese Fallgrube fiel, packte er meinen Verlob-
ten und hat ihn durch die Türe in der Mitte gestoßen. Dahinter ist ein
sehr großer, weiß getünchter Warteraum mit blauem Filzboden. Unzäh- lige graue Sitzbänke aus Metall stehen hier. Die Lehnen der Bänke sehen
aus wie Gitter. Nur ein paar Menschen sitzen auf diesen Bänken. Sie halten Wartenummern in ihren Händen und sie warten. So auch mein
Verlobter. Er wartet schon die ganze Zeit über. Seit man uns getrennt hat, wartet er.
Während ich an dem Mann mit dem Einheitsgesicht und mit dem schwarzen Anzug vorbei schwebe, denke ich: „Ich will jetzt zu meinem
Verlobten. Ich will jetzt zu meinem Verlobten.“
Und schon sitze ich plötzlich neben ihm auf dieser Wartebank. Er weiß nicht, dass ich körperlich tot bin. Er wird es möglicherweise auch nie
erfahren.
Da kann ich nur hoffen, dass es ihm der liebe Mann, der für mich gebetet hatte, oder jemand anderes, falls sie uns zuvor erkannt hatten, irgendwann mal erzählen könnte, wenn dieser Mensch dann auch möglichst noch so weit gekommen ist.
Doch als ich neben meinem Verlobten sitze, da ist es so als ob er mit mir rede. Ich höre ja seine Gedanken, die sagen: „Wo bist Du nur? Warum sind wir nicht mehr zusammen? Was war hinter der Türe links? Mich hat dieser verfluchte Mann hier rein gestoßen in diesen Warteraum. Ich wollte sofort wieder hinaus und Dir durch die Türe links folgen, aber die Türe hier in der Mitte war von innen verschlossen. Man kann überhaupt nicht mehr hier raus. Hier ist man eingeschlossen.
Ein paar Menschen kamen noch hinterher, denen es dann genau so erging. Ein paar waren schon da als ich rein kam. Jetzt sitzen wir hier
und warten, weil wir nicht wissen, wie wir da wieder raus kommen. Was
haben die denn mit uns vor? Und wie wird es Dir wohl gehen?“
In diesem Moment wird wieder gerade einer durch die Türe hier rein gestoßen, der sich dann gleich umdreht und wieder hinaus will. Doch
die Türe ist von innen verschlossen.
„Was soll das?“ sagt er. „Warum schubst man mich da rein? Warum kann man dann nicht mehr raus? Was ist überhaupt hier zu Gange? Ich glaub´s
ja nicht. Wie kann man so etwas tun?“
„Wir wissen es auch nicht. Wir verstehen es ebenso wenig. Wir warten nun auch ab, was noch geschieht. Sie müssen sich eine Wartemarke
ziehen. Sie werden dann aufgerufen.“ geben ihm diejenigen, die hier
sitzen, mit ein paar leisen, schwachen Stimmen zur Antwort.
„Ich mache mir unendlich Sorgen um Dich. Wo Du nur bist? Wie wer- den wir denn wieder zusammenkommen?“ denkt mein Verlobter. „Ich
sitze hier neben Dir. Ich bin bei Dir.“ versuche ich ihm telepathisch zu
vermitteln. Irgendwie ist es auch so als hätte er es verstanden, denn er fühlt sich innerlich mir sehr nah. Jetzt merke ich erst richtig, wie sehr er
mich liebt. Er ist tief in seinem Herzen ganz fest mit mir verbunden. Er hat mir nie etwas vorgemacht. Ich wusste es schon immer, dass ich ihm
vertrauen konnte. Doch nun kann ich es auch in seinen Gedanken hören und mit ihm gemeinsam fühlen.
Da öffnet sich nun hier eine andere Türe in einer Reihe mit einigen
Türen. Ein weiterer Mann mit einem Allerweltsgesicht wie der draußen vor der Menschenschlange, jedoch ein sehr junger Mann, in einem
grauen Anzug, tritt heraus. Er wirkt sehr zielstrebig und auf Business
bedacht.
Er ruft: „Die Nummer 9 kann eintreten.“ Es ist die Nummer die mein
Verlobter in seiner Hand hält. Wir stehen also auf und gehen zusammen
mit diesem jungen, grau gekleideten Mann in diesen Raum hinter dieser
Türe.
Dort ist ein sehr großer, kantiger, länglicher Konferenz-Saal mit einem langen, breiten, dicken, rechteckigen, massiven Tisch. An ihm sitzen viele
solche grau gekleidete junge Männer die irgendwie alle gleich aussehen. Hinter jedem von ihnen stehen Geister von alten Männern in braunen
Uniformen mit Hakenkreuzen auf den Oberärmeln. Diese Geister der alten Uniformierten sind ständig damit beschäftigt, von hinten den
jungen dynamischen Männern etwas zuzuflüstern.
Einer von den jungen Herren steht sofort auf und kommt uns mit einer aufgesetzten Freundlichkeit entgegen. Er findet jedoch keine Worte der
Begrüßung, weil er das offensichtlich für überflüssig erachtet. Er ergreift
gleich sehr befehlend das Wort, als mein Verlobter und ich vor dieser
Versammlung hier stehen.
Ohne Gruß sagt er zu meinem Liebsten: „Wir sind hier das Institut für
Arbeitszuweisung.
Wir brauchen noch einen Chauffeur für einen schwulen Minister. Wir hatten dich draußen im Saal schon über eine Kamera beobachtet. Du
bist noch sehr jung und du siehst gut aus. Wir sind nämlich auch schwul.“ Alle anderen lachen daraufhin sehr spöttisch, hämisch und laut.
Die alten Geister lachen noch argwöhnischer und schreiender mit ihnen mit. Doch nur ich kann die alten Geister hören und sehen.
Der Wortführer fügt hinzu: „Ja. Wir sind auch schwul. Wir wollten dich von deinem Verlobten weg bringen. Wir wollen dir zu einer Karriere
verhelfen. Nur, damit du es gleich weißt, wir töten alle, wenn sie uns nicht mögen.“ Daraufhin lachen die anderen wieder so schäbig, verach-
tend und verhöhnend. Die Alten hinter ihnen lachen fast noch zynischer und böser. Krächzend und militärisch lachen sie alle zusammen, die
jungen Herren und die alten Geister hinter ihnen.
Dabei klopfen die alten braunen Geister den jungen Herren auf die
Schultern.
„Nimmst du also den Job an? Sonst bist du schneller wieder bei deinem schwulen Verlobten als du denkst. Aber im Jenseits. Denn dein Verlobter
ist vielleicht bald tot.“ fügt der junge Mann im grauen Anzug hinzu,
wobei die anderen schon wieder so schrill und bitterböse lachen.
„Ja.“ antwortet daraufhin mein Liebster, denn er hat Angst, dass ich wirklich bald tot sein würde. Nicht wissend, dass ich es körperlich
gesehen schon bin. Und weil er weiß, dass, wenn er ´Nein` sagen würde,
er dann selber bald tot ist.
„Den Führerschein hast du schon gemacht. Das wissen wir.“ sagt der junge, graue Wortführer.
„Wir wären dann soweit mit dir fertig. Mehr gibt es nicht mehr zu reden. Du gehst jetzt dort durch diese Türe hinaus. Da ist jemand der dich zu einem Lift bringt. Er fährt mit dir hinauf und führt dich dann vor das Haus. Dort wartet nämlich schon der Minister in seiner Limousine auf dich.
Du beginnst jetzt sofort mit deiner Arbeit. Wir hoffen, dass du deinen
Job sehr gut machst und alle Wünsche des Ministers erfüllst.“ fügt der
Wortführer im grauen Anzug hinzu, mit dem Finger auf die Tür zeigend. Die anderen brechen zusammen mit den Geistern schon wieder in ihr
Gelächter aus, das sich anhört wie Sirenen.
Diese Räume hier sind alle mit Video überwacht. Deshalb werden wir direkt an der Tür abgeholt, als mein Verlobter und ich hinaus gehen. Ein
genau so aussehender junger Mann in einem grauen Anzug wie die
Herren im Konferenzsaal, empfängt uns vor der Tür, wobei er gleichzei- tig sagt: „Komm mit!“
Das ist alles. Mehr sagt er nicht. Er führt uns zum Lift. Im Fahrstuhl
drinnen merken wir, dass in seiner Jackentasche eine Pistole steckt. Wir fahren etwa fünf Minuten lang hinauf.
Es kommt uns wie eine Ewigkeit vor. Dann führt uns dieser graue Mann hinaus auf die Straße wo eine sehr schwere, große, schwarze Limousine
steht.
Als wir auf die Straße hinaus gehen, wird es uns erst wieder klar, dass wir aus dem Eingang des Jobcenters hinaus kamen. Genau da, wo wir
morgens rein gegangen sind, als wir noch in der Hoffnung waren, für
uns die richtige Arbeit zu finden. Wir drehen uns kurz um und sehen die große Eingangstüre, über der geschrieben steht ´Arbeit macht frei`.
Das Haus sieht bei Tageslicht sehr neu und modern aus.
Als wir über die Straße in Richtung des schwarzen Wagens gehen, kommt gerade vor uns ein alter Obdachloser vorbei, in krummer,
gebückter Körperhaltung. Er schleppt ein paar Plastiktüten voller leerer
Flaschen mit sich. Während dem Gehen schimpft er ständig vor sich hin:
„Ganz Deutschland ist eine einzige Nazi-Brut. Ganz Deutschland ist eine einzige Nazi-Brut.“ Genau in diesem Moment fährt einer mit dem Auto
vorbei, der vorne über die Motorhaube eine deutsche Flagge gespannt
hat. Und auf seiner Autoantenne wedelt eine zweite deutsche Fahne im
Fahrwind hinterher.
Mein Verlobter spricht den alten Obdachlosen an: „Was ist denn los? Warum schimpfen Sie so?“ Daraufhin schreit ihn der alte Obdachlose an:
„Ach! Lass mich in Ruhe! Als Kind war ich im KZ und es hört nicht auf! Diese gottlosen Säue machen immer weiter!“ Wie rennend zieht er dann
weiter. Die Tüten packt er fest und die Flaschen klirren darin.
„Los! Zum Wagen!“ brüllt jetzt doch der junge Mann im grauen Anzug. Seine Pistole hat er in der Jackentasche schon in die Hand genommen. In der Limousine sitzt vorne auf dem Beifahrersitz ein junger Mann, der genau so aussieht wie die Herren, mit denen wir es eben zu tun hatten. Der Mann, der uns zu dem Wagen geführt hat, öffnet die Fahrertüre des Autos, während er gleichzeitig zu meinem Verlobten sagt: „Steig ein! Hier hast du deinen Job.“ Daraufhin dreht sich diese graue Person der Arbeitszuweisung weg und geht. Mein Verlobter setzt sich auf den Fahrersitz neben den Minister. Ich schwebe in den Wagen hinein und muss mich hinten neben einen alten Geist in brauner Uniform, der Hakenkreuze auf den Oberärmeln hat, setzen.
Der Minister empfängt meinen Verlobten mit den Worten: „Guten Tag. Ich bin der Minister für Arbeit, Soziales, Wohlfahrt und Demokratie. Ich
beglückwünsche dich zu deinem neuen Job. Fahr mich jetzt zum Haus
der Tagungen!“
Daraufhin fahren wir in der Stadt herum. Die Straßen sind nass von einem Nieselregen. Es ist sehr kalt heute. Nebel hängt in der Stadt. Alles
ist grau in grau. Mein Verlobter hat ´Haus der Tagungen` in das Naviga-
tionsgerät eingegeben und der Computer weißt ihm nun den Weg. Fahren tut mein Verlobter wie ein Profi, das wusste ich ja. Es wird kein
Wort mehr geredet. Der Minister schweigt. Er sitzt nur still da.
Da sagt plötzlich in Gedanken der Alte hinten zu dem Minister vorne, der sich als sein Sohn zu erkennen gibt: „Junge, hast du die Pistole
bereit? Falls der Kleine hier mal frech wird.“ „Ja, Vater. Sie ist im Hand-
schuhfach.“ antwortet der Minister gedanklich an den Alten in der
Uniform hinten. Der Minister mit dem Vater hier kann jederzeit die
Pistole ziehen und meinen Liebsten erschießen, wird mir nun klar. Obwohl es mich irgendwie nicht überrascht, bin ich dennoch vollkom-
men entsetzt. Das will ich jetzt auf keinen Fall. Obwohl wir dann wieder zusammen wären im Jenseits.
Nein, ich überlege. Ich muss das unbedingt verhindern, dass mein
Verlobter erschossen wird.
Wir können nämlich auch in Liebe so zusammen sein wie wir es jetzt sind, also als Mensch und als Geist. Denn dann kann wenigstens er noch
mechanische Bewegungen ausführen. Was ich ja leider nicht mehr kann, weil ich mit der materiellen Welt nicht mehr in direkter Verbindung
stehe. Und ich kann ihm aber die geistigen Anleitungen dafür geben. So gesehen sind wir doch dann erst das ideale Paar.
Ich beginne nun Pläne zu schmieden, was wir als solches Team von
Körper und Geist zusammen alles bewirken können. Außerdem wüsste ich nur zu gerne, was Gott nun mit uns vorhat.
Ich bin schon so gespannt auf den Termin bei Gott. Die Audienz bei Gott ist um 18:00 Uhr. Und ich weiß noch nicht mal wo sie sein soll. Jetzt haben wir kurz nach 11:00 Uhr Mittag.
Wir fahren vorbei an großen, mächtigen Gebäuden. Da und dort hat sich jemand noch mit seinem Hund auf die Straße hinaus gezwungen, an
diesem trostlosen Novembertag, um ihn schnell mal um den Block zu
führen. Der eine und andere hat sich Schutz suchend vor dem Regen irgendwo unter einen Balkon gestellt um hastig eine Zigarette zu rau-
chen.
Der Minister hat eine Akte aus seiner Tasche raus genommen und blättert jetzt darin herum.
Er liest sie nicht. Nur die Blätter sieht er schnell durch. Der alte Geist in
der braunen Hakenkreuz- Uniform, der neben mir hier im Wagen sitzt, er hustet plötzlich ganz fürchterlich laut und ächzend. So als würde ihm
etwas im Hals drin sitzen, das ihm die Luft abschneiden wolle. Hustend und bebend wirft es ihn auf dem Sitz auf und ab, wie wenn er Hoppe-
Hoppe-Reiter macht. Man hat den Eindruck, am liebsten würde er aus dem Auto springen und fliehen.
Ja, auch Geister husten, wenn es psychosomatisch ist.
Der Minister macht die Akte wieder zu und tut sie wieder in die Tasche rein. Wir sind jetzt im Regierungs-Viertel angekommen. Wir fahren an
noch größeren und mächtigeren Gebäuden vorbei, bis wir schließlich am
Haus der Tagungen ankommen. Hinter einem schweren Eisentor stehen zwei vollkommen durchnässte Polizistinnen. Jede hält ein Maschinen-
gewehr im Arm, so als wäre das Gewehr ihr kleines Kind. Das Eisen- Gitter-Tor schiebt sich automatisch auf die Seite und wir fahren in den
Vorhof, auf einer schmalen Straße bis vor das Haus der Tagungen.
Die Polizistinnen winken dabei mit ihren Maschinengewehren. Sie drehen sie so in der Weise seitlich weg, dass es aussieht, als würden sie
gleichzeitig ihre Jacken öffnen. Anscheinend stehen sie schon stunden-
lang ohne Schirm in diesem Nieselregen und nassen Nebel.
Irgendwie tun sie mir in diesem Moment sehr leid. Sie holen sich den
Tot, das ist mir klar. Da helfen ihnen auch die Maschinengewehre nichts.
„Hier zur Garage rechts.“ sagt der Minister vorne zu meinem Verlobten. Als wir dann mit der Limousine davor stehen, geht hier nochmals
automatisch ein ganz und gar metallenes Tor nach oben und verschwin-
det. Wir fahren hinein. Sofort führt die schmale Straße nach unten in eine Tiefgarage. Es ist sehr dunkel hier. Gut, dass mein Verlobter im
Nebel das Licht des Wagens schon eingeschaltet hatte.
„Du kannst zur Tagung mitkommen. Ich lade dich ein. Auch Gäste sind willkommen. Jedoch nur mit Einladung. Und die hast du ja jetzt von mir.“ sagt der Minister zu meinem Verlobten.
Sofort sage ich per Telepathie zu meinem Verlobten: „Bedanke Dich herzlich für die Einladung und geh mit!“
„Herzlichen Dank für die Einladung. Sehr gerne komme ich mit.“ sagt
mein Verlobter nun zu dem Minister im grauen Anzug. Wir steigen alle vier aus dem Wagen aus. Auch wenn man nur zwei Personen von den
Vieren sehen kann.
Mein Verlobter drückt auf den Knopf des Schlüssels und der Wagen verschließt sich.
„Gib mir den Autoschlüssel!“ sagt der Minister. Mein Verlobter über-
reicht ihn dem Minister. Zu meinem Entsetzen muss ich als Geist dabei zuschauen wie der Minister absichtlich bei der Schlüsselübergabe die
Hand meines Verlobten zärtlich berührt. Dabei hat er zudem die Worte hinzugefügt: „Du bist ein netter Typ. Mit dir kann ich mir noch mehr
vorstellen.“
Mein Verlobter gerät etwas in Verlegenheit und kann nichts darauf antworten. Nur mit einem kleinen Lächeln bedankt er sich bei dem
Minister.
„Halte Dich an ihn ran! So eine Chance hatten wir noch nie. Jetzt kön- nen wir die Welt verändern.“ sage ich telepathisch zu meinem Verlobten.
„Genau das werde ich tun.“ antwortet er mir im Geiste, während wir schon im Fahrstuhl des Hauses der Tagungen sind und nach oben in die
vierte Etage fahren. Der Minister stellt sich im Lift drinnen so unver- schämt nahe an meinen Verlobten ran, dass ich mich am liebsten körper-
lich dazwischen stellen würde. Es bleibt mir nichts anderes übrig als mich als Geist zwischen die beiden zu stellen. Genau in diesem Moment
tritt nun der Minister einen Schritt zurück und hält wieder einen an- ständigen Abstand zu meinem Liebsten ein.
Es ist so schrecklich, weil der alte Geist in der braunen Uniform in solchen Momenten jedes mal ganz fürchterlich zu Keuchen beginnt. Er
hustet und hustet und hustet und hustet und hustet und hustet...
Als wir oben aus dem Fahrstuhl aussteigen, kommt uns ein ganz intensi- ver Geruch in die Nase. Es riecht ganz vehement nach Malzkaffee. Und
es wimmelt hier nur so von Menschen und alten Geistern auf dem Flur,
der sich offensichtlich vor einem Tagungsraum befindet. Hier sind auch
Frauen in grauen und in blauen Anzügen. Viele Herren in grauen Anzü- gen. Manchmal kann man die Frauen und Männer kaum unterscheiden.
Und ebenso viele alte Geister in den braunen Uniformen, mit Haken-
kreuzen auf den Oberärmeln, sind hier. Ein paar einzelne Frauen befin-
den sich unter den alten Geistern. Sie tragen schwarze Kostüme, also schwarze Jacken und Röcke, und weiße Blusen. Sie waren in ihrem vorigen körperlichen Leben die Leichenfrauen der Soldaten, falls die noch aus dem Krieg zurück gekommen sind.
Der Minister geht zielstrebig genau da hin wo der starke Duft nach Malzkaffee herkommt. Wir drei weiteren in seiner Begleitung folgen ihm. Es erstaunt mich in der Tat, dass er tatsächlich eine Tasse mit Malzkaffee eingießt und diese meinem Liebsten überreicht, bevor er sich selber eine Tasse Malzkaffee füllt. Das hätte ich gar nicht mehr gedacht, dass man einem Minister noch so viel Anstand zumuten kann, dass er erst seinem Chauffeur eine Tasse Malzkaffee anbietet, bevor er sich selber eine nimmt. „Wenn du Milch und Zucker willst, das steht hier.“ sagt er zu meinem Verlobten und zeigt dabei mit der Hand in Richtung der Milch und dem Zucker.
„Ja. Danke. Gerne.“ sagt mein Verlobter und er bedient sich. Jetzt stellt sich doch glatt so unverschämt der alte hustende Geist, der verstorbene Vater des Ministers, mit seiner braunen Uniform und den Hakenkreuzen auf den Oberärmeln, sehr breitbeinig mit seinen Stiefeln vor mich hin und bedient sich mit dem Malzkaffee. Und er lässt sich Zeit. Und er lässt mich hinter sich warten.
Langsam werde ich etwas ungeduldig. Denn auch so ein Geist wie ich bekommt mal Durst. Endlich ist der alte braune Herr da fertig und schlürft schon seinen Malzkaffee in seiner geistigen Welt. Nun kann ich mich endlich bedienen. Der alte, verstorbene Vater des Ministers hat einmal an seiner Tasse getrunken und schon hat er wieder ganz fürchter- lich zu Husten angefangen.
„Wenn er doch nur endlich ersticken würde.“ denke ich dabei. Da kommt mir nun ein ganz neuer Gedanke. Ich frage mich, was wohl sein wird, wenn man als Geist stirbt. Natürlich trinken wir keinen materiellen Malzkaffee, sondern einen geistigen. Wie wäre es, wenn es in der geisti- gen Welt auch keinen Malzkaffee mehr gäbe, beginne ich zu überlegen. Dann könnte es wohl auch keinen materiellen geben.
In diesem Moment erschallt plötzlich ein lauter Gong und alle strömen sie in den Tagungsraum hinein. Und wir bewegen uns mit dieser Men- schenmenge einfach mit, so wie in einem Fluss.
Die Tassen mit dem Malzkaffee trinken wir noch schnell aus und stellen dann die leeren Tassen auf die Tischchen die uns im Vorbeigehen gerade
nützlich entgegen kommen.
Als wir in dieser Masse von Menschen so dahintrotten, fällt es sehr auf, wie viele bewundernde Blicke der Staatsangestellten um uns herum auf
meinen Liebsten fallen, weil er so schön ist. Langsam werde ich etwas
nervös. Fragend fallen die Blicke gleichzeitig auch immer wieder auf den Minister neben ihm. Der merkt es auch. Und er beginnt sich so richtig darin zu weiden.
Denn er fühlt es, dass in den Blicken die Frage liegt, ob mein Verlobter nun der neue Freund des Ministers ist.
Drinnen in diesem Tagungsraum sieht es ähnlich aus wie in einem
Hörsaal. Der Saal ist sehr groß.
Er hat ausnahmsweise Fenster, kommt mir in den Sinn. Die Stuhlreihen sind kegelförmig nach oben gehend angeordnet, so wie auch im Parla-
ment. Damit jeder der Teilnehmenden alles gut überblicken kann. Unten
steht in der Mitte ein länglicher Tisch. Er ist dafür gut, wenn auf ihm etwas
demonstriert werden soll. Daneben steht ein Rednerpult mit einem
Mikrofon.
Da ich um meine Ohren herum Sprachen sämtlicher Nationalitäten zu hören bekomme, wird mir nun klar, dass es sich hier wohl um eine
internationale Tagung handeln muss. Die Teilnehmenden, so wie wir vier im Beisein des Ministers, nehmen alle jetzt Platz in diesem Podium.
Der Vater des Ministers setzt sich neben ihn. Ich setze mich neben meinen Verlobten.
Es sind unzählige Plätze hier. Die Damen und Herren aus der gesamten
Welt setzten sich in die Sitzreihen, wobei sie jedes mal einen Platz neben sich frei lassen. Man könnte meinen, das tun sie, um sich nicht zu nahe
zu kommen. Doch sind selbstverständlich diese freien Plätze für die
Geister bestimmt.
Den Ministern der Welt ist das nicht bewusst. Aber die Geister haben es schon so eingerichtet.
Hier sitzen nun also viele junge Herren mit grauen Anzügen und ein
paar Damen mit ebensolchen grauen, beziehungsweise mit ein paar blauen. Mein Verlobter und ein paar weitere Gäste sehen anders aus.
Deshalb fallen die hier auch etwas auf. Man sieht das nicht so gerne. Mein Verlobter hat es daher mit eigenartigen Blicken zu tun. Ich bin aber
froh, dass er damit ganz gut zurecht kommt. Es stört ihn wenig, wenn ihn andere blöd anschauen.
Ja, und was die Geister betrifft, so bin ich hier unter den männlichen der einzige, der keine braune Uniform mit Hakenkreuzen anhat. Am liebsten
würden sie mich deshalb, so wie es auch der Alte schon die ganze Zeit über im Wagen wollte, zermalmen. Doch Geistern ist es nicht mehr
direkt möglich, dass man sich gegenseitig etwas tut, weil man eben nur noch Geist ist. Als Geist hat man keine direkte Verbindung mehr mit der
materiellen Welt. Diese Geister können mir daher auch nicht mehr
schaden. Aber meinem noch körperlich lebenden Verlobten können sie schaden.
Die alten Geister mit den braunen Hakenkreuz-Uniformen setzen sich also neben die Minister und Abgeordneten aus der ganzen Welt. Und die
Geister der Leichenfrauen finden auch irgendwo ihre Plätze, als endlich die Tagung beginnt.
Ein alter, kleiner, dicker, runder Mann in einem braunen Anzug, die schwarzen Haare mit Pomade streng nach hinten frisiert, kommt unten
durch eine Seitentüre herein. An der Hand hält er eine größere, sehr dürre und hagere, weißhaarige Frau mit Dauerwelle, in einem bräunli-
chen Kostüm. Sie klappert mit Stöckelschuhen hinter ihm her, so als kann sie nicht mehr so schnell gehen als ihr Mann.
Sie stellen sich neben das Rednerpult und verneigen sich etwas vor den
Zuhörern im Tagungsraum, bevor er sich vorstellt: „Guten Tag, meine
Damen und Herren. Seien Sie alle Willkommen. Ich bin nur der Vorred- ner. Ich bin ein pensionierter Staatsanwalt. Ich und meine Frau, wir sind
gekommen um Ihnen allen zu sagen, dass wir heute eine Tagung abhal- ten, bei der es um die neuen Arbeitsregelungen und Arbeitsgesetze, im
Sinne des Wirtschaftswachstums, geht. Wir wollen, dass die Menschen arbeiten und nicht als Sozialschmarotzer herum hängen. Das muss sich
alles ändern. So kann es nicht mehr weiter gehen. Folgendes Beispiel will ich euch vorführen.“
Er geht an die Tafel und zeichnet auf sie mit Kreide ein Boot. In das Boot hinein zeichnet er drei Strichmännchen.
Gleichzeitig erklärt dieser Mann da an der Tafel: „Also, so wie Sie es alle ja schon kennen, sitzen hier drei Angestellte in einem Boot. Ihre berufli-
che Aufgabe ist es, das Boot gemeinsam zu rudern und zu steuern. Das geht eine Weile gut. Doch dann fängt plötzlich einer damit an, dass er
Drogen nimmt. Er da nimmt Drogen.“ sagt er, mit dem Finger auf den dritten Mann im Boot zeigend, und fährt mit seiner Rede fort: „Der
nimmt also Drogen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass er dann nicht mehr so viel Kraft hat und nicht mehr so gut rudern kann. Er fällt also
aus. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass dann die anderen beiden für ihn mit rudern müssen, wenn sie ebenso schnell ans Ziel kommen
wollen als wenn sie noch zu dritt rudern würden. Deshalb ist der hier für diesen Betrieb nutzlos geworden.
Den kann man also vergessen.“ sagt er, während er den Dritten im Boot mit einem Kreuz durchstreicht.
In diesem Moment steht einer der jungen Minister auf und geht nach vorne, vorbei an diesem Redner, suchend nach der Ausgangstüre.
Da sagt dieser betagte Vorredner zu diesem jungen Minister, während die alte Frau grinsend neben ihnen steht: „Wo wollen Sie denn jetzt plötzlich hin? Was ist los? Haben Sie einen Zahnarzttermin?“
Da zeigt der junge Minister mit seinem Finger hin zu dem durchgestri- chenen Männchen im Boot und sagt: „Ich bin der.“
Daraufhin verlässt dieser schöne, sportliche, männliche, langhaarige und
blondgelockte Minister, der aussieht wie ein Engel, den Raum.
Der pensionierte Staatsanwalt hat in das Boot nur drei Strichmännchen hinein gezeichnet.
Man muss sich die ganze Zeit fragen, mit was sie überhaupt rudern
sollen. Offensichtlich ist der alte Staatsanwalt schon ausgefallen bevor er in der Pensionierung war.
Dafür hat er keine Drogen gebraucht. Er kann nicht einmal Strichmänn- chen mit Rudern zeichnen.
Die weiteren Zuhörer haben nicht so viel Mut wie der blonde Engel. Sie ziehen nur schweigend ihre Köpfe ein und lassen den Redner fortfahren.
„Meine Damen und Herren, haben Sie mich verstanden? Wir brauchen radikale Reformen in der Arbeitswelt. Nein, so kann es nicht mehr
weitergehen. Diesen Sozialschmarotzern muss endlich der Garaus gemacht werden. Mir haben im Urlaub in Spanien Taschendiebe die
Brieftasche aus der Jacke gestohlen. Ich hatte überhaupt nichts bemerkt. Es ist nur noch so ein Gesinde unterwegs.
Man kann sich bald nicht mehr auf die Straße trauen. Schauen Sie doch mal nach Amerika!
Da muss auch jeder selber zusehen wie er zu Rande kommt. Da kann auch keiner beim Staat betteln gehen, so wie man es bei uns so gerne tut.
Wenn er in Amerika nicht für sich selber sorgen kann, dann wird er eben erschossen. Das ist dann sein eigenes Problem. In Skandinavien, da
haben sie nicht so viel Einwohner wie wir hier in Deutschland. Da können sie sich einen Sozialstaat noch besser leisten. Aber wie, bitte-
schön, wie sollen wir hier in Deutschland, mit den vielen Einwohnern, noch einen Sozialstaat finanzieren? Der Staat wird zunehmend überfor-
dert.“
Schweigend, ganz still und leise, hört ihm das ganze Podium zu. Die ausländischen Zuhörer haben Kopfhörer auf, weil ihnen alles Gespro-
chene gleich in ihre Muttersprache übersetzt wird. Und ich erlebe nun
schon wieder ein Wunder, nämlich, dass ich auch die fremdsprachlichen
Gedanken der Anwesenden hören und verstehen kann.
Die große Uhr, die da vorne an der Wand hängt, zeigt nun schon auf
13:00 Uhr.
Ich denke an meinen Termin der Audienz bei Gott um 18:00 Uhr, wäh- rend ich die Gedanken der Zuhörer höre: „Was ist das denn für ein widerlicher, dämlicher Teufel da vorne mit seiner Alten?“ „Diese alte Kanalratte redet voll Stuss. Warum muss ich mir so was anhören?“ „Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich will nachhause zu meinen Kindern.“
„Meine Verlobte wartet alleine zuhause auf mich und ich sitze hier und muss da mitleiden. Das darf doch nicht wahr sein.“ „In meinem nächs-
ten Leben werde ich bestimmt nicht mehr Minister. Da tun einem ja nur
noch die Ohren weh.“
Doch alle hören sie schweigend zu. Nicht einmal ein Murren ist zu vernehmen. Auch nicht ein Seufzer. Nein, so wie in einer Mai-Andacht
sitzen sie alle hier und hören diesem Redner da vorne zu, so als ob da ein
Priester reden würde.
„Soweit zum Thema des heutigen Tages. Wählen Sie einfach die richtigen
Parteien, die die Sozialschmarotzer ächten und ausrotten! Was wir brauchen, ist eine Förderung der Wirtschaft. Das kann es mit der arbeits-
losen Bevölkerung nicht geben. Wenn einer keine Arbeit findet, dann soll er sich eben eine suchen. Sie werden es schon wissen, welche Parteien die
richtigen für ein starkes Deutschland sind. Wir sind eine Weltwirt- schaftsmacht. Das werden sicher auch die ausländischen Minister so
sehen und mir zustimmen. Ich bedanke mich herzlich.“ sagt dieser
Vorredner neben seiner Frau.
„Und jetzt stelle ich Ihnen den Hauptredner und neuen Anführer der
Arbeiterbewegung vor.
Sie sollen sehen, dass es doch noch vernünftige, arbeitende Menschen in diesem Land gibt, welche uns allen einen Weg in die Zukunft weisen
können für die ganze Welt.“ ruft er nun ganz laut in das Publikum hinein.
Siehe da, wer nun seitlich durch eine Türe in Erscheinung tritt. Ich erkenne ihn wieder. Ich stand schon direkt vor ihm.
Mit Erstaunen muss ich feststellen, dass jetzt genau dieser kleine Mann im schwarzen Anzug hier auftaucht, der vorher die bunten Menschen zu
den Türen links und rechts gehen ließ, wenn er sie nicht durch die Tür in der Mitte geschoben hat.
Hinter ihm folgt ihm der Geist Adolf Hitler, der im Gleichschritt stamp- fend mit ihm mitmarschiert und gleichzeitig seinen rechten Arm nach
oben hält. Der Geist Hitler trägt genau die selbe Uniform wie die Geister die im Publikum sitzen.
Angekommen beim Redner-Pult, neben dem Vorredner und seiner Frau, drehen sich die beiden gleichzeitig zum Publikum. Hierbei legt der
Mann im schwarzen Anzug seine braune Ledertasche auf den Tisch,
während er sagt: „Grüß Gott, meine Damen und Herren. Freut mich, dass ihr alle gekommen seid.“
Und Hitler neben ihm hält seinen rechten Arm noch immer hoch und ruft dabei: „Heil! Heil! Heil!“ In diesem Moment stehen alle Geister in
den braunen Hakenkreuz-Uniformen im Podium ganz zackig auf, so als wären sie noch jung, und rufen ihm laut und ihn so richtig anfeuernd
zu: „Heil Hitler! Heil Hitler! Heil!“ Mit dem Jubeln nicht aufhören wollend, setzen sie sich wieder hin.
Bevor nun der sogenannte Hauptredner im schwarzen Anzug etwas sagen kann, hat der Geist Hitler schon das Wort ergriffen: „Kameraden,
seid still und hört mir zu! Wenn ich rede, seid ihr still!“
Der Hauptredner sagt: „Verbündete aller Nationen, ich bitte Sie um
Ruhe und Aufmerksamkeit. Ich habe es nicht gerne, wenn keine Ruhe herrscht während ich rede.“
Da ruft Hitler neben ihm seinen Kameraden zu: „Wir sind Arbeiter, damit es den Bürgern gut geht.“ Der Hauptredner sagt: „Wir alle arbei-
ten doch nur dafür, dass es den Bürgern gut geht.“
Hitler schreit nochmal, aber lauter: „Wir sind Arbeiter, damit es den
Bürgern gut geht.“
Und er fügt hinzu: „Auch wenn wir wenig dafür bekommen, sollen wir doch froh sein, dass wir für die Bürger arbeiten können.“
Der Hauptredner sagt ins Mikrofon: „Wir alle bekommen nie genug und
sind gemeinsam froh, dass wir für die Bürger in der Gesellschaft in bester
Weise sorgen.“
Hitler schreit weiter: „Wir sind Arbeiter der Bürger. Dadurch helfen sie uns ja gerade, dass wir an Macht gewinnen.“
Der Hauptredner sagt: „Wir sind den Bürgern gegenüber verpflichtet. Die Bürger sind es doch gerade, die uns versichern, dass wir einen festen
Bestand an Sitzen im Parlament haben.“
Hitler ruft zu seinen Kameraden ins Podium: „In meinem körperlichen
Leben haben mir die Bürger auch geholfen. Das wisst ihr genau so gut wie ich. Und ich bin der Führer der Arbeiter und Soldaten geworden.“
Der Hauptredner sagt: „Alle die mich kennen, wissen was die Bürger für uns tun. Und ich bin der neue Anführer der Arbeiterbewegung gewor-
den. Mein Ziel ist es, dass ich auch der oberste Befehlshaber des Militärs werde.“
Hitler schreit ganz laut: „Die Bürger danken es mir noch heute.“
Der Hauptredner sagt: „Sie alle hier und alle Bürger der Gesellschaft werden es mir danken.“ Hitler schreit weiter ganz laut: „Kameraden, wir
sind Arbeiter, damit es den Bürgern gut geht.“ Der Hautredner sagt ins
Mikrophon: „Meine Damen und Herren, Sie und ich, wir wissen, wem gegenüber wir verpflichtet sind.“
Hitler schreit: „Die Macht gehört dem Staat. Der Staat bin ich. So ist es in den Gesetzen fest verankert.“
Der Hauptredner sagt: „Das Grundgesetz steht uns ständig nur im Weg. Wir müssen endlich eine Gesetzeslage schaffen, die es möglich macht,
dieses haarsträubende Grundgesetz zu umgehen. Der Staat trägt Verant- wortung.“
Hitler ruft in die Menge: „Die Zwangsarbeit muss wieder eingeführt werden.“
Der Hauptredner sagt: „Der Kündigungsschutz muss beseitigt werden. Sowie strengere Arbeitsmaßnahmen unbedingt vorherrschen müssen.“
Hitler schreit: „Die Bundesrepublik ist nur eine Notlösung. Das Dritte
Reich soll die nächsten tausend Jahre weiter felsenfest und unbesiegbar bestehen.“
Der Hauptredner sagt ins Mikrofon: „Die Bundesrepublik ist dabei, sich
zu stabilisieren und zu festigen. Wir wollen auch in den nächsten tau- send Jahren beweisen, dass wir eine Weltwirtschaftsmacht sind. Weltweit
tragen wir militärisch große Verantwortung.“
Hitler schreit weiter: „Das ist alles nur der Tatsache zu verdanken, dass wir Arbeiter für die Bürger arbeiten. Wir Arbeiter wären nichts ohne die
Bürger. Und die Bürger wären nichts ohne uns Arbeiter. So war es schon
immer. Und es wird immer so sein.“
Der Hauptredner sagt: „Die Solidarität der Arbeiter mit den Bürgern hält den Staat aufrecht. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.“
Hitler schreit ganz laut: „Wir sind Arbeiter, damit es den Bürgern gut
geht.“
Der Hauptredner sagt: „Wir alle arbeiten doch nur dafür, dass es den
Bürgern gut geht.“ Hitler schreit: „Ich, der Führer und der Vorsitzende der NSDAP, der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei, weiß
was ich euch sage. So war es schon damals und so ist es noch heute. So wird es immer sein. Wir sind Arbeiter, damit es den Bürgern gut geht.“
Der Hauptredner sagt ins Mikrofon: „Als Anführer der neuen Arbeiter- bewegung und als Verfasser des neuen Sozialhilfegesetzes weiß ich,
wovon ich rede. Die alten Probleme sind heute noch die gleichen. Daran wird sich nichts ändern. Wir alle arbeiten doch nur dafür, dass es den
Bürgern gut geht.“
Hitler schreit ganz laut: „Wir wussten es schon immer, was richtig ist.“ Der Hauptredner sagt: „Auf unseren Plänen der vergangenen Zeiten
basiert die Zukunft.“ Hitler schreit: „Kameraden, gestern ist morgen.“
Der Hauptredner sagt: „Die Zukunft das sind wir. Wir alle. So wie wir es schon immer waren. Wir.“ Hitler schreit wieder zu den Kameraden: „Wir sind Arbeiter, damit es den Bürgern gut geht.“
Der Hauptredner sagt: „Wir alle arbeiten doch nur dafür, dass es den
Bürgern gut geht.“
Hitler schreit noch lauter: „Kameraden, lasst uns erneut beginnen, auf das Beste für das Wohl der Bürger zu arbeiten und zu kämpfen!“
Der Hauptredner wendet sich an das Publikum: „Freunde, lasst uns
gemeinsam und stark für das Wohlergehen der Bürger kämpfen!“ Hitler: „Für ein unerschütterliches tausendjähriges Reich!“
Hauptredner: „Für weltweite, vorherrschende Wirtschaftsmacht
Deutschlands.“
Hitler stimmt singend die ersten Worte und Töne der Nationalhymne an: „Deutschland. Deutschland über alles....“ Seine Kameraden stehen
wieder alle auf und singen weinerlich mit, wie in der Kirche bei einer
Trauerfeier. So als wollten sie einen Kranz niederlegen.
Der Hauptredner ruft ins Publikum, wie nach einem gewonnenen
Fußballspiel: „Deutschland. Deutschland. Deutschland...“ Die deutschen
Minister schließen sich ihm im Chor an.
Die ausländischen Minister schweigen jedoch dabei wie Gräber.
Der Vorredner, der noch immer neben seiner Frau steht, und nun auch nur Zuhörer war, ergreift wieder das Wort als die Deutschland-Rufe
wieder abklingen und der Applaus der Deutschen leise wird: „Meine
Damen und Herren, wir bedanken uns herzlichst bei diesem jungen, so viel Hoffnung für die Zukunft erweckenden, geistreichen Hauptredner.
Somit erwarten wir auch schon den viel bewunderten Abschlussredner,
der sogleich hier in Erscheinung treten wird. Ach, da ist er ja schon. Grüße Sie.“
Ein Arzt im weißen Kittel tritt jetzt aus der Seitentüre hervor. Ein Arzt mit einer großen Horn-Brille auf der Nase. Er hat einen schwarzen
Schlapphut auf. Auch er hat eine braune Ledertasche dabei. Aus ihr entnimmt er ein in durchsichtiges Plastik gegossenes Gesicht einer
Leiche.
Nein, das darf nicht wahr sein. Jetzt könnte ich aber wirklich böse werden. Ach, wenn ich doch als Geist noch böse werden könnte, denke
ich nur noch. So gerne will ich diesem Arzt hier nun etwas antun.
Denn es ist mein Gesicht, das er da gerade aus seiner Tasche gezogen hat und dem Publikum vorführt. Ja, mein Gesicht. Vormittag wurde ich
erschossen. Und nun nachmittags, muss ich hier bei einer Tagung mitansehen, wie sie mein Gesicht schon in glasklares Plastik gegossen
haben und es als Anschauungsmaterial verwenden. Gleichzeitig weiß ich
nicht mehr, wie ich jetzt meinem Verlobten noch helfen soll, der gerade neben mir einen totalen Nervenzusammenbruch bekommt.
Die Minister klatschen und applaudieren auch noch dabei, als dieser
Arzt mein Gesicht aus seiner Tasche zieht, es ihnen demonstrativ ins
Publikum entgegen hält und im selben Moment sagt: „Guten Tag, meine
Damen und Herren. Wir begrüßen Sie.“ Was soll auch noch dieses ´wir`
heißen, denke ich voller Wut. Dieser verrückte Arzt meint wohl, dass das
Gesicht meiner Leiche die Minister hier mit ihm zusammen grüßen will. Mein Verlobter ist aufgesprungen. Er hat sich die Hände vor sein eigenes
Gesicht gehalten.
Der Minister hat ihn, über den Geist des Alten hinweg, von hinten gepackt und ihn wieder auf den Sitz zurück gezogen. Mein Liebster ist
nieder gesunken und hat krampfartig zu weinen begonnen. Er hält sich noch immer sein Gesicht mit den Händen bedeckt, so als habe er eben
etwas gesehen das er nie habe sehen wollen. In seine Hände hinein weinend sitzt mein Verlobter nun hier.
Der Minister hat ihm ins Ohr geflüstert: „Reiß dich zusammen! Sonst geschieht es dir genau so!“ Alle anderen hier bemerken das gar nicht. Sie
beachten es nicht. Sie schauen nur zum Redner vorne.
„Weiß Du nun, was man mit mir gemacht hat? Jetzt siehst Du, dass ich sozusagen tot bin.“ flüstere ich telepathisch zu meinem Liebsten neben
mir. Er nickt mit dem Kopf.
„Ich wäre so gerne noch bei Dir.“ sage ich leise zu ihm im Geiste.
Er senkt seinen Kopf nach unten und weint dabei in seine Hände. „Wir können jetzt körperlich nicht mehr zusammen sein. Aber das Wunder,
das Du noch nicht kennst, ist, dass man nach dem Tod als Geist weiter-
lebt. Das wusste ich auch vorher nicht. Ich bin als Geist bei Dir. Hier direkt. Ich sitze neben Dir.“ versuche ich ihm tröstend zu vermitteln.
Er fängt sich nun tatsächlich etwas. Er zwingt sich selber, dass er die
Fassung bewahrt.
Wenn er könnte, will er eigentlich wieder aufspringen und nur noch schreien. Er weiß nicht mehr, wie er sich noch auf diesem Platz hier
halten soll, aber er tut es. Das höre ich in seinen Gedanken. Er denkt, dass er auch sterben will. Doch ich sage leise zu ihm: „Warte! Ich habe da
schon einen besonderen Plan im Kopf. Ich will aber meine Audienz bei
Gott abwarten. Ich will wissen was Gott mit uns vorhat. Verzweifle nicht! Es hat alles irgendwie einen Sinn. Du wirst es sehen.“ hauche ich ihm
leise ins Ohr. Er weint nun still in sich hinein.
Ich weiß, dass er total durchdrehen würde, wenn ich nicht hier wäre.
„Ach, mein Gott Vater im Himmel, ich brauche Deinen Rat. Ich bin so froh, wenn ich endlich die Audienz bei Dir habe.“ denke ich, wobei mir wieder meine restlichen Organe einfallen.
Jetzt will ich wissen, was sie mit meiner Leiche und mit den Leichen der weiteren Erschossenen gemacht haben.
„Wir haben heute wieder jede Menge frischer Organe gewonnen.“ sagt
der Arzt da vorne.
„Dabei helfen uns die Sozialschmarotzer.“ ruft er laut, während er mein
Gesicht in die Höhe hält.
„Und morgen werden wir weiter so verfahren.“ fügt er hinzu.
„Sie alle hier brauchen sich keine Sorgen dahingehend mehr machen, dass Sie bald sterben würden. Wir können Ihnen jede neue Organver-
pflanzung garantieren. Sie können das jetzt alles auch schon im Katalog bestellen. Wenn Ihnen Ihre Nase nicht mehr gefällt, dann bestellen Sie
sich eben einen neue, schönere Nase. Und wenn Sie einen neuen Penis brauchen, weil der alte zu klein oder auch schon zu impotent ist, dann
bestellen Sie sich eben einen neuen Penis. So wie wenn Sie ein Auto wären, können wir Ihnen jedes Ersatzteil anbieten. Wir tauschen sämtli-
che Organe aus. Herzen, Lungen, Nieren, Lebern, Mägen, Bauchspei- cheldrüsen, Hirne, Prostata und Geschlechtsorgane, wie Penis und
Vagina, alle Sinnesorgane, wie Augen, Ohren, Zungen und Haut. Glied- maßen verpflanzen wir selbstverständlich auch. Wenn es um Schönheit
geht, dann suchen Sie sich natürlich das schönere Teil aus. Nur bei den
Hirnen ist es ein bisschen schwierig, weil man da schon bedenken soll, wer es vorher gehabt hat. Deshalb führen wir genaue Karteien über die
Menschen, denen wir die Organe und Körperteile entnehmen.“
Er legt nun mein Gesicht auf den Tisch. Er öffnet seine Ledertasche wieder und zieht eine Pistole heraus. Mir wird jetzt klar, dass er mein
Gesicht zusammen mit einer Pistole in seiner Tasche hatte.
„Bei den Hirnen haben wir immer das Problem, dass wir so viel Kugeln erst heraus popeln müssen, wenn den Leuten in das Hirn geschossen
wurde.“ sagt er, während er mit der Pistole in das Publikum zielt und die
Minister erschreckt. Dann legt er die Pistole auf den Tisch neben mein
Gesicht.
„Meine Damen und Herren.“ sagt er nun sehr bestimmt und überzeugt in das Publikum hinein.
„Ich kann Ihnen allen eins wirklich garantieren. Nämlich, dass wir das
Leben fest im Griff haben.“
Er fährt mit seiner Rede fort: „Die neuen Arbeitsgesetze kommen uns sehr entgegen. Diejenigen, die nicht arbeiten wollen, können wir jetzt
endlich massakrieren, wenn sie nicht vorher in der Armut von selber
eingehen. Und wenn einer meint, er braucht die ganze Zeit nichts anderes tun als mit
dem Motorrad herum zu rennen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit auch sehr, dass er sich bald zu Tode rennt. Gerade diese jungen, knacki-
gen, frischen Motorradfahrer haben die besten Organe. Aber insgesamt brauchen wir uns um die Organgewinnung heute keine Sorgen mehr
machen.
Die Älteren und die kranken Leute, die am Leben hängen, die dafür ständig in bester Ordnung gelebt haben, sie danken uns diese neuen
Möglichkeiten so sehr.“
Er fügt hinzu: „Billig sind diese Organverpflanzungen natürlich nicht. Ein gutes Herz muss eben auch was wert sein. Und wir leisten wirklich
gute Arbeit, wenn es um die Verpflanzung von Körperteilen geht. So haben wir zum Beispiel auch schon so manchem alten Opa, der im Bett
mit seiner Frau nicht mehr konnte, mit einem neuen jungen Penis zu einem mit Sex erfüllten Leben im Alter verholfen. Ich könnte Ihnen
unendlich viele Beispiele aufzählen, wie sehr wir der Menschheit welt- weit mit den Leichenorganen helfen. Wichtig ist, dass der Hirntod der
Leichen noch nicht eingetreten ist, wenn ihnen die Organe entnommen werden. Denn dann können wir immer davon ausgehen, dass die Organe
der, ich sag mal ´Fast-Toten`, noch gut funktionieren. Das ist wie bei den
Autos. Wenn so ein altes Auto vor Rost schon auseinander fällt, dann kann man die Ersatzteile natürlich auch nicht mehr brauchen.“
Mit seiner Rede anscheinend nie enden wollend fährt er fort: „Meine
Damen und Herren, den Katalog der Leichenteile habe ich Ihnen selbst- verständlich mitgebracht. Er wird im Anschluss an Sie verteilt. Wenn Sie
was brauchen, dann bestellen Sie doch einfach! Das geht auch per
Internet. Wir haben alles immer für Sie bereit. Machen Sie sich keine
Sorgen! Die Organe gehen uns sicher nicht mehr aus. Dafür sorgen wir.“ Er redet und redet und redet und redet und redet und redet....
Während dem Reden hat er den Katalog der Leichenteile aus seiner
Tasche gezogen und ihn, demonstrativ darin blätternd, zum Publikum hin gehalten. Mir wird klar, mit was allem zusammen mein Gesicht in
seiner Tasche war, und wohl auch wieder da hinein kommt bevor er geht.
Er hat doch noch nie daran gedacht, wie es für ihn wäre, wenn ein anderer sein Gesicht in eine Tasche steckt, muss ich mich jetzt fragen.
Und mich überkommt eine ungeheure Wut.
Langsam kommt er zum Schluss: „Aufgrund dieser heutigen Veranstal- tung hier, anlässlich dieses Vergnügens, das ich mit Ihnen heute haben
durfte, können wir Ihnen selbstverständlich auch Rabatt anbieten. Wir
warten nur noch auf Ihre Bestellungen. Gönnen Sie sich doch eine neue
Nase!
Der eine oder andere will vielleicht auch gerne einen neuen Penis. Manche Frau vielleicht auch eine neue Vagina, wenn die alte zu sehr
verkrampft. Meine Damen und Herren, schämen Sie sich nicht! Bestellen
Sie! Wir stellen Sie unter Garantie zufrieden.“
Nicht enden wollend redet er weiter: „Verstehen Sie, meine Damen und
Herren? Wir sind auch immer sehr froh, wenn wir die Leichenteile wieder los geworden sind. Allzu lange können wir sie nicht frisch halten.
Irgendwann läuft auch bei den Organen das Haltbarkeitsdatum ab. Dann
haben wir uns die viele Arbeit, sie den Leichen zu entnehmen, umsonst gemacht. Doch auch wir wollen von etwas leben. Mit der vielen Haut,
die immer übrigbleibt, da können wir wenigstens noch etwas anfangen. Da machen wir jetzt Lampenschirme daraus. Einer unserer Mitarbeiter
hat sich darauf spezialisiert und damit seine neue Existenz begründet. Hierfür haben wir eine extra Broschüre, welche ich Ihnen zusätzlich
gerne mit nachhause geben darf, damit Sie dann bei ihm auch bestellen können.“
So als wäre es seine letzte Rede, fährt er fort: „Also, meine Frau und ich, wir haben unsere Wohnung auch schon mit ein paar von diesen schönen
Steh-Lichtern aus Menschenhaut ausgestattet. Wir freuen uns jeden
Abend, wie sehr menschlich diese Lampen leuchten.
Sie sind momentan schon der Renner. Mein Kollege freut sich, dass er mit seinem Geschäft so einen guten Erfolg erzielt. Die Lampenschirme
aus Menschenhaut sind deshalb schon teurer geworden als die Lampen- schirme aus Schlangen- oder Krokodil-Haut. Wie Sie alle wissen, wird
der Preis immer durch die Nachfrage bestimmt. Und aufgrund der hohen Nachfrage sind die Preise für diese Lampen aus Menschenhaut
schon sehr gestiegen. Drum, meine Damen und Herren, bestellen Sie schnell, bevor die Preise noch weiter in die Höhe gehen! Bestellen Sie,
bevor Ihnen so ein Lampenschirm aus Menschenhaut zu teuer wird und
Sie ihn sich nicht mehr leisten können!“
Er kann nicht aufhören zu reden: „Das Kuriose ist, dass die Herzen jetzt schon billiger sind als so ein Lampenschirm aus Menschenhaut. Aber, Sie
wissen das auch, die Wirtschaft steckt immer voller Wunder. Da wird sich noch einiges tun auf diesem Markt. Und mit diesen neuen Möglich-
keiten der Organverpflanzungen erwachsen die höchsten Dimensionen für die Menschheit. Bald haben wir alles so weit, dass diejenigen die es
sich leisten können, dann auch nicht mehr sterben brauchen. Erforder- lich hierfür sind private, teure Versicherungen. Die gesetzlichen Kassen
übernehmen solche Leistungen im Regelfalle nicht. Und irgendwo her müssen wir ja schließlich die Organe auch bekommen. Wenn keiner mehr sterben würde, dann wäre das alles nicht möglich.“ ergänzt er mit einem etwas schrillen Gelächter.
So als wären es seine letzten Atemzüge redet er weiter und weiter: „Ja, da wird sich noch einiges tun. Wie sich die Preise für die einzelnen Leichen- teile entwickeln, werden wir sehen. Wir können es noch nicht vollkom- men überblicken, wie die Bedarfe steigen werden. Mittlerweile können wir nur sagen, dass zu unserer Überraschung, die Penis sehr gefragt sind. Wir hätten es auch nicht geglaubt, aber so viele Polizistinnen und Solda- tinnen, also die so genannten Flintenweiber, die lieber ein
Mann sein wollen, sie lassen sich so oft einen Penis annähen.“ erzählt er mit einem aus ihn heraus quellenden Lachen, das er offensichtlich
unterdrücken wollte, es ihm aber nicht mehr gelang.
Mit einem Stoßseufzer, als sei er kurz vorm Tod, fügt er hinzu: „Wir wissen nur, dass alles teurer werden wird. Daher kann ich Ihnen, meine
Damen und Herren, nur raten, dass Sie gleich bestellen. Sie alle haben sicher das eine oder andere Leiden. Das muss heute nicht mehr sein. Das
haben sie uns zu verdanken. Bestellen Sie sich einfach die neuen Körper- teile, die sie, individuell auf sie zugeschnitten, brauchen! Den Rest
erledigen wir. Sie alle sollen lange leben und von Ihrer Pensionierung mal noch was haben. Damit Sie Ihr Leben lang nicht umsonst gearbeitet
haben. Keiner will vorher sterben. Keiner. Und dafür sorgen wir, dass es auch keiner mehr muss.
Dank der Wissenschaft haben wir endlich dem lieben Gott ein Schnipp- chen geschlagen.“
Jetzt tut er so als würde er gleich zusammenbrechen und fängt tatsäch- lich vor Rührung zum Weinen an. Unter Tränen beendet er seine Rede in
vollster Ergriffenheit. So als wäre er gerade noch dem Tod entkommen, seufzt er, während er sich die Augen wischt: „Meine Damen und Herren,
ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“
Mit Hilfe Gottes weiß ich, dass man ihm selber schon ein junges Herz eines verunglückten Motorradfahrers eingepflanzt hat, nachdem er den
dritten Herzinfarkt gehabt hatte, weil er nie mit dem Arbeiten und mit
dem Reden aufhören konnte.
Er nimmt nun mein Gesicht, während ihm immer noch die Tränen kommen. Und ich muss es zu meinem Entsetzen mitansehen, wie eine
seiner Tränen auf mein Gesicht fällt. Er packt alles wieder in seine Ta-
sche, mein Gesicht, die Pistole, den Katalog der Leichenteile und die
Broschüre der Lampen aus Menschenhaut. Mir wird ganz schlecht. Ich will nur noch hier raus und meinen Liebsten mitnehmen. Er sitzt hier
ganz zusammen gekauert und hält sich die Hände vor die Augen. Er wollte das alles nicht mehr sehen. Ich als Geist habe aber alles ganz genau beobachtet.
Ich muss ganz genau wissen was da los ist. Trotzdem ist mir übel. Ich will dennoch nun unbedingt sehen und wissen wo das ist und wie es da
zugeht, bei dieser Leichenverwertung. Ich will da hin. Ich will sehen was
man da mit meinen Organen tut.
Während dieser Redner da alles wieder in seine Tasche gepackt hat, sind schon einige Service-Angestellte hier mit ganzen Stapeln von Katalogen
und Broschüren auf den Armen aufgetaucht, die sie nun an sämtliche
Zuhörer verteilen. Der pensionierte Staatsanwalt mit seiner alten Frau, der junge dynamische Anführer der neuen Arbeiterbewegung und Hitler
schütteln jetzt dem Arzt die Hände, nachdem der Applaus etwas ab- klingt. Alle Zuhörer nehmen dankend die Kataloge und Broschüren
entgegen. Langsam beginnt die gesamte Menschenmasse sich hier in
Richtung Ausgang zu bewegen, zaghaft, so als würde draußen der Tod schon auf sie warten.
Meinen Arm lege ich um die Schultern meines Verlobten. Er fühlt es,
dass ich als Geist bei ihm bin. Während wir mit der Menge in Richtung
Ausgang des Tagungsraums torkeln, flüstert der Minister meinem am
Boden zerstörten Liebsten in das Ohr: „Wir nehmen wieder den Wagen. Wir fahren zum nächsten Termin.“ Zaghaft und leise nickt mein Verlob-
ter daraufhin nach unten blickend.
Als wir vorne am Pult und an den Rednern vorbeikommen, sehe ich, wie der Hauptredner gerade seine auf dem Tisch liegende, braune Lederta-
sche öffnet, da er seinen Katalog der Leichenteile und seine Broschüre
der Lampen aus Menschenhaut hinein stecken will. Dabei ist eine Pistole ein bisschen heraus gerutscht. Schnell hat er sie zusammen mit dem
Katalog und der Broschüre wieder hinein geschoben. Der pensionierte
Staatsanwalt mit seiner Frau, der ärztliche Abschlussredner und Hitler haben ihm dabei auch zugesehen. Alle lächeln sich zu und bestärken sich
gegenseitig im Gemeinschaftsgeist. Sie verabschieden sich so in der Weise
als würden sie niemals auseinander gehen.
„Aha. Auch er hatte eine Pistole dabei.“ denke ich. Eingequetscht in diese
Menschen- und Geistermenge hier, würde ich mich etwas überflüssig fühlen, wenn nicht mein Verlobter auch da wäre. Ich wanke hin und her,
mich fragend, was ich jetzt tun soll. Soll ich meine Organe einfach dem
Schicksal überlassen und bei meinem Liebsten bleiben, oder soll ich mir das nun ansehen, was mit meiner Leiche geschieht, frage ich mich.
„Eine Weile werde ich Dich wohl mit dem Minister und seinem Vater
alleine lassen können?
Wir sehen uns ja bald wieder. Ich muss mich jetzt doch um meine restlichen Körperteile kümmern, weil ich wissen will was mit ihnen geschieht.“ flüstere ich meinem Verlobten zu.
„Ich hoffe, Du kommst gut alleine mit dem Minister und seinem alten
Geist hier zurecht. Ich passe aus der Ferne auf Dich auf. Sei stark, mein
Liebster! Sei stark! Halte durch! Ich liebe Dich.
Ich bin immer bei Dir. Auch aus dem Weiten bin ich bei Dir. Ich werde immer bei Dir sein.
Sei ganz stark! Ich küsse Dich.“ hauche ich ihm ins Ohr und küsse ihn dabei. Irgendwie merkt er es.