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Kapitel 2

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In perfekter Gesellschaft

Amy Rowell, 17

Es gongte zum Ende eines langen Schultages. Ich verabschiedete mich von meinen Freundinnen und beeilte mich, zum Bus zu kommen. Dieses Mal versank ich nicht in einer Staubwolke. Noch kein anderer war an der Bushaltestelle zu sehen. „Lieber zu früh als zu spät“, dachte ich und holte den Zettel von Shawn hervor.

Wenn du mal Zeit hast, dann ruf mich

doch bitte hier an: 3780530.

Ich schaltete mein Handy an und fing an zu tippen: 37...

Doch weiter kam ich nicht, denn plötzlich ertönte hinter mir eine mir wohlbekannte Stimme.

„Hey Amy“, brüllte Cole, der schon seit ich denken konnte, in mich verknallt war. Seither verfolgte er mich auf jede Schule. Erst kam er in der achten Stufe auf meine Grundschule und natürlich direkt auch in meine Schulklasse, dann folgte er mir auf die Angel Woods und später auf die Fallen Spirits. Wenn man einmal die Schule gewechselt hatte, glaubt man eigentlich, man hat seine Ruhe, aber Fehlanzeige.

Ich rollte genervt mit den Augen: „Was willst du?“

„Ich wollte dich sehen, Schönheit.“

Schönheit. Schon bei diesem Wort wurde mir speiübel. Wer nannte einen so, außer Möchtegern- Machos?

Ich warf meine Tasche neben mir auf den Boden und setzte mich auf die Bank unter dem kleinen Dach an der Bushaltestelle. Sofort kam Cole angerannt, hob die Tasche auf und stellte sie auf der Bank ab. Das machte er immer. Er hob alles auf, was ich verloren hatte, selbst wenn ich es nur neben mir abgestellt hatte wie die Tasche. Nur Müll ließ er unberührt. Das Wichtigste ließ er liegen, doch all den anderen Kram sammelte er ein. Er war wohl kein Naturfreund, ansonsten würde er den Müll in den Mülleimer schmeißen. Meist nutzte er das Einsammeln, um mit mir ins Gespräch zu kommen. So auch heute. Er setzte sich neben mich und fing an zu reden. „Ich habe dich den ganzen Tag schon gesucht. Gehst du mir aus dem Weg? Weißt du, ich habe es vermisst, deine Grübchen neben deinen Lippen zu sehen, welche heute besonders gut aussehen. Hast du was Bestimmtes mit denen gemacht?“ Ich schob die Augenbrauen zusammen und schaute leicht gequält, fasste mir an die Lippen und stellte fest, dass sie alles andere als toll waren. Ganz rau. Er schien es nicht zu bemerken und redete einfach weiter. „Wirklich. Dein Lachen ist einfach bezaubernd. Und deine Tollpatschigkeit erst. So wie deine Tasche eben.“

Verstand er nicht, dass das Absicht gewesen war?

„Und deine Haare heute. Wow!“

Der Bus trudelte ein. Cole streckte seine Hand aus und strich mir eine Strähne hinters Ohr, die sich aus Rachels schönem Zopf gelöst hatte. Dabei kam er mir bedrohlich nahe. Sein stinkender Atem streifte meine Lippen und bevor etwas Schlimmeres passieren konnte, sprang ich auf, krallte mir meine Tasche und schlüpfte durch die sich gerade öffnende Bustür. Cole war kein Mitfahrer und deshalb blieb er nur verdutzt in derselben Haltung, wie ich ihn zurückgelassen hatte, auf der Bank sitzen und blickte mir hinterher, während sich die Türen schlossen. Seufzend, aber erleichtert, ihn los zu sein, ließ ich mich auf einen der Sitze sinken. Der Busfahrer sah mich durch den Rückspiegel besorgt an. „Alles okay, Kleine?“

Ich nickte nur. Als mein Puls sich langsam wieder normalisierte, zog ich mein Handy wieder heraus und beendete die Einspeicherung.

Shawn Perley

Handynummer: 3780530

Sollte ich ihn anrufen? Ich entschied mich dagegen. Vielleicht würde ich ihn am Abend noch anrufen, oder zumindest eine Nachricht schreiben, damit auch er meine Nummer hatte. Seine stand ja auf dem Zettel.

Bei genauerem Betrachten fiel mir auf, dass Shawn beinahe neben mir wohnte. Von meinem Haus aus dauerte es nicht länger als fünf Minuten, dann wäre ich bereits bei ihm.

Mit leichter Vorfreude stieg ich in der Nähe von unserem Haus aus dem Bus und marschierte geradewegs heim. Dort schlug ich meine Schulbücher auf und vertrödelte mir die Zeit, bis ein normaler Arbeitstag zu Ende war.

Als ich das Auto meiner Mutter in der Auffahrt hörte, wusste ich, der Arbeitstag war vorbei. Ich sprang vom Hocker auf, rannte zur Tür und riss sie auf. Doch als ich meine Mutter mit meinem alten Angel-Woods-Schulpulli, der gerade frisch aus der Wäscherei kam, sah, überlegte ich es mir noch mal anders. Sie blickte auf den Boden und schien mein schwungvolles Türaufreißen nicht gehört zu haben. Ich huschte hinter den Türrahmen, sodass ich im Schatten der Tür stand, damit sie mich nicht sehen konnte.

Einerseits wollte ich sie wegen der Angel Woods ansprechen, doch andererseits sah sie so erledigt mit den Nerven aus, dass ich es einfach nicht übers Herz brachte. Nicht jetzt. Nicht heute. Stattdessen drehte ich mich zum Herd um und tat so, als wollte ich ein Rezeptbuch suchen, um zu kochen.

„Hi Mom. Wie war dein Tag?“

„Sprich mich am besten gar nicht erst an. Ich brauche Ruhe. Wo sind denn die Kopfschmerztabletten?“

„Neben den Tellern, zweites Regal, links. Wie immer.“

Sie rückte einen Stuhl vom Tisch weg, stellte ihre Sachen auf ihn und ging zum Schrank. Sie riss die Tür auf und durchforstete ihn. „Mann, wo sind die dummen Tabletten denn?“ Total genervt knallte sie die Tür wieder zu und stützte die Arme auf die Arbeitsplatte, hielt sich die Schläfen. Beruhigend legte ich ihr die Hand auf die Schulter. „Mom, ich mach das für dich. Warte.“ Ich öffnete mit der anderen Hand wieder den Schrank, kramte etwas darin herum und zog die Schachtel der Tabletten heraus. Dann öffnete ich den Schrank daneben und holte ein Glas heraus. Ich füllte kaltes Wasser hinein und löste eine Tablette darin auf.

„Hier Mom.“ Ich reichte ihr das Glas. Erleichtert nahm sie es entgegen. „Danke Mäuschen. Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Manchmal frag ich mich, was ich nur ohne dich machen würde. Der Arbeitstag war einfach etwas zu viel für mich heute.“ Sie machte eine lange Pause. Langsam ließ sie sich auf einen anderen Stuhl sinken und rieb sich über die Stirn. „Ich habe übrigens deinen alten Schulpulli waschen lassen.“ Sie reichte ihn mir. „Musst du noch Hausaufgaben machen?“

Ich zögerte, bevor ich antwortete: „Das… nein, muss ich nicht, aber ich wollte mich eigentlich noch ein wenig in den Park setzen“, stotterte ich und kratzte mich hinter dem Ohr. Doch wenn meine Mutter nun einen so harten Arbeitstag hatte, konnte ich sie mit dem Haushalt doch nicht allein lassen.

„Dann geh schon. Ich komm hier schon klar.“ Ich legte den Kopf schief und wollte ihr widersprechen. Doch meine Mutter kannte mich einfach zu gut. Immerhin hatte sie mich fast 18 Jahre lang großgezogen. Allein. Jedenfalls größtenteils. Mein Vater Jeffrey, ihre erste große Liebe und erster Ehemann, ist gestorben, als ich gerade mal fünf Jahre alt war. Autounfall. Das hat sie schwer getroffen. Wochenlang hat sie nicht mit mir geredet, sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und mir nur Apfelmus aus der Dose auf den Tisch gestellt. Monate danach hat sie dann das erste Mal wieder mit Arbeitskollegen getroffen. Dort hatte sie dann ihren zweiten Mann kennengelernt, der neu zu ihrer Arbeitsstelle gewechselt war. Markus. Sie war ziemlich zurückhaltend ihm gegenüber. Doch er hatte ihr Herz gewonnen. Nach langer Zeit konnte sie wieder lächeln. Ich freute mich für sie. Vor allem, als er dann auf Ibiza um ihre Hand anhielt. Natürlich sagte sie ja. Doch dann erwischte sie ihn auf seiner Arbeit mit einer seiner Kolleginnen, als sie ihn mit mir zusammen eigentlich gerade abholen wollte. Eng umschlungen und sich küssend. Sie war am Boden zerstört.

„Was soll das? Bin ich dir nicht mehr gut genug?“, brüllte sie ihn an. Markus konnte nichts sagen. Er stand einfach nur da und hatte den Mund offen. Was hätte er auch sagen sollen? Mom hatte ihn beim Fremdgehen erwischt. „Ich... Ich... Ich...“ Er sah ziemlich überfordert aus.

Meine Mutter machte einen Schritt näher auf ihn zu, hob ihre Hand und knallte ihm eine, sodass es im Raum hallte. Tränen stiegen ihr in die Augen, bevor sie aus dem Raum stürmte.

„Christina, jetzt warte doch. Lass es mich erklären.“

„Was willst du denn da erklären? Ich hab es schon verstanden“, schrie sie ihn an. Sie wirkte so verletzlich, so unerfahren, so jung.

„Ich liebe dich doch.“

„Und wer soll dir das jetzt noch glauben?“, weinte sie.

„Bitte, du musst mir vergeben“, wagte er einen schwachen Versuch, sich zu entschuldigen.

Mom schüttelte nur den Kopf und drehte sich um. Ich stand vor ihr und hatte Tränen in den Augen.

„Bitte trennt euch nicht Mama.“

„Amy...“

Ich sah sie mit einem Schmollmund an, dem niemand widerstehen konnte.

„Amy.“ Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. „Amy, alles okay bei dir?“

Ich drehte mich um und war wieder zu Hause. Bei meiner Mom. Ohne Markus oder meinen Vater.

„Möchtest du heute noch los?“

„Was?“, verwirrt sah ich sie an. Um was ging es noch mal? Ach ja. Der Park. Irgendwie fühlte ich mich schlecht, dass ich überhaupt damit angefangen hatte.

„Ach du, lass mal.“

„Ach Mäuschen. Mir geht’s gut. Mach dir keine Sorgen. Seit du auf der neuen Schule bist, bist du kaum noch rausgekommen. Geh mal etwas unter Leute. Hab Spaß. Ich will dich nicht vor acht Uhr wieder zu Hause sehen.“ Sie schob mich zur Tür und öffnete sie. „Tschüss.“

Dann schloss sie die Tür wieder hinter mir zu und ließ mich wortwörtlich im Regen stehen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie es zu regnen begonnen hatte. Ich griff neben mir in unseren Korb, in dem sich unsere Regenschirme stapelten.

Am liebsten wäre ich wieder hineingegangen, um mich noch etwas zurechtzumachen, doch Mom hätte es wohl eher nicht erlaubt, dass ich noch mal schnell ins Bad gehuscht wäre. Sie würde nur denken, ich würde mich vor einem Leben außerhalb meines Zimmers drücken. Vielleicht hatte sie damit auch recht. Seit Papas Tod hatte ich nur wenige Freunde. Auf der Angel Woods war mein bester Freund ein Fünftklässler gewesen. Sein Name war, auch wenn es noch so lustig klingt, Anthony. Anthony Sucker. Wenigstens hatte sich das bis jetzt geändert. In der zwölften Klasse wäre das nun wirklich etwas zurückgeblieben. Nicht, dass es schlecht wäre, einen so jungen Kumpel zu haben, aber ich wollte dann doch lieber richtige Freunde haben, Freunde in meinem Alter, die ich nun ja auch hatte.

Ich spannte meinen Regenschirm auf und trat in den Regen hinaus. Langsam schritt ich die Einfahrt hinunter und marschierte dann schnurstracks los, in die Richtung des Parks.

Ich wusste nicht, wie ich mir die Zeit bis um acht Uhr vertreiben sollte. Selbst wenn unser Stadtpark noch so schön war, viel gab es dort nicht, was man machen konnte.

Ich ging die Straßen entlang. Es war bereits etwas später und die Luft wurde kühler. Ich zog meine Jacke enger zu. Der Himmel schimmerte rötlich und sah ungemein romantisch aus. Grinsend überquerte ich die Straße und bog in die Straße ein, die auch auf Shawns Zettel stand.

Lustig, wie ich hier schon häufiger vorbeigegangen war und ihn nie getroffen hatte. Mochte auch daran liegen, dass er ja auch gerade erst hierhergezogen war.

Für einen Moment blieb ich stehen und betrachtete den Himmel, als mich plötzlich eine Stimme aus dem Staunen riss.

„Amy. Was machst du denn hier?“ Erschrocken drehte ich mich um. Da stand Shawn vor mir.

„Ich... äh…“ Verlegen zeigte ich mit dem Daumen hinter meinen Rücken, „… war auf dem Weg zum Park.“

„Wirklich? Da soll es um die Uhrzeit richtig schön sein. Ich war bisher aber noch nicht dort.“ Er grinste schief. „Dann wünsche ich dir noch ganz viel Spaß.“ Er reichte mir seine Hand und ich nahm sie schüchtern entgegen. Er wandte sich zum Gehen und auch ich wollte mich wieder auf den Weg machen. Doch ich blieb stehen. Ich biss mir auf die Lippe. Gerne würde ich ihn etwas näher kennenlernen. Und wann, wenn nicht jetzt? Sollte er ein gruseliger Psychopath sein, konnte ich immer noch schnell wegrennen, solange wir draußen waren.

Ich drehte mich wieder zu ihm. „W-willst du vielleicht mitkommen?“

Überrascht sah er mich an, aber dann nickte er. „Warum nicht? Ich habe nichts mehr vor heute.“

Ich lächelte verhalten.

Wir gingen nebeneinander her. „Was hast du gemacht? Du warst ja auch gerade unterwegs“, wollte ich vorsichtig wissen.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ich war ebenfalls etwas spazieren. Heute Abend ist es etwas kühler als am Tag und da wollte ich das schöne Wetter noch etwas ausnutzen. Warum fragst du?“

Auch ich zuckte mit den Schultern. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dich zu sehen. Dich überhaupt noch mal zu sehen. Da war ich einfach überrascht. Keine Ahnung.“

Shawn sah in mein Gesicht. Das sah ich aus dem Augenwinkel. Ich blickte zu Boden. „Das heißt, du wolltest mich nicht anschreiben?“

Ich biss mir erneut auf die Lippen. „Na ja, doch. Irgendwann. Ich… Ich… Irgendwie hab‘ ich mich noch nicht getraut“, murmelte ich in meine Jacke hinein.

Er schmunzelte. „Mach dir keine Gedanken. Ich wüsste auch nicht, ob ich einem Wildfremden gleich auch meine Nummer geben würde. Ist schon in Ordnung. Vielleicht sieht man sich so ja trotzdem öfter mal. Wenn du ja anscheinend in der Nähe wohnst.“

Ich wehrte ab. „Nein, so meinte ich das nicht. Eigentlich finde ich dich ganz nett. Jedenfalls das, was ich von dir kenne.“ Ich sah in an. „Echt nett.“

„Immerhin etwas.“ Er lachte ein kurzes Lachen. „Du bist auch ganz nett. Wirklich jetzt.“

Wir bogen in einen Schotterweg ein, der direkt zum Park führte.

„Amy, ich will dich wirklich zu nichts drängen. Es ist okay, wenn du mir nicht schreiben willst. Fühl dich echt nicht gezwungen. Ich respektiere das.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich werde dich anschreiben. Versprochen.“ Und das meinte ich ganz ernst. Er war mir sympathisch und wieso sollte man nicht noch eine sympathische Person auf seiner Liste der Freunde haben? Vor allem, da ich für eine so lange Zeit kaum welche hatte.

„Das freut mich. Also, Amy, erzähl‘ mir etwas von dir. Also mehr als nur das übliche Geplänkel. Wer bist du?“, fragte er so plötzlich, dass ich mich ganz überrumpelt davon fühlte.

„Ich? Was interessiert dich denn?“

„Weiß nicht. Deine Hobbys, Zukunftspläne, Lieblingstiere?“ Er grinste sein typisches Grinsen, das mir schon am Morgen aufgefallen war. Scheinbar lächelte er oft auf diese ganz bestimmte Weise. Ich konnte es nicht erklären, aber man wollte sofort mitlächeln.

„Also schön. Ähm… Wo fang ich da am besten an? Ich gehe gerne schwimmen, allerdings ist es mir jetzt in dieser Jahreszeit schon fast zu kalt dafür. Dafür steige ich dann auf Schlittschuhlaufen um. Das ist beinahe genauso gut. Meine Lieblingstiere? Ich mag so ziemlich alle Tiere, allerdings könnte ich mich bei normalen Haustieren nicht entscheiden, ob ich jetzt lieber eine Katze hätte oder einen Hund. Und was ich in der Zukunft machen möchte, weiß ich noch nicht.“ Ich seufzte. „Vielleicht werde ich erst mal ein Jahr ins Ausland gehen und mir Europa ein wenig angucken. Wie ist es bei dir?“

„Was meinst du? Die Lieblingstiere oder meine Pläne? Zu Letzterem habe ich morgen ein weiteres Bewerbungsgespräch. Und ich hatte einmal eine Katze. So etwas Ähnliches zumindest.“ Letzteres sagte er mehr an sich selbst gerichtet als an mich. Was meinte er damit? Doch bevor ich fragen konnte, sagte er stolz: „Ich habe mich als Hotelfachmann beworben. Das ist mein Traumberuf, seit ich klein war. Es ist cool, das endlich auch hauptberuflich zu machen.“

„Wow, das ist toll, wenn man genau weiß, was man machen will“, meinte ich.

„Na ja, ich bin jetzt 24, da sollte man schon langsam einen Plan fürs Leben entwickeln, finde ich. Ich kann ja nicht bis ans Ende meines Lebens meinen Eltern auf der Tasche liegen. Vor allem, weil sie eine ganze Zeit lang kaum Geld hatten.“ Er stockte, nur für einen Augenblick. „In meiner Familie war jemand gestorben, um den wir uns schon eine ganze Weile kümmern mussten. Die Person war nicht die Einzige und… Egal. Das erzähl ich dir wann anders.“ Seine Stimme hatte eine seltsame Klangfarbe angenommen und ich wollte ihn nicht bedrängen. Leise meinte ich: „Ich kenne das. Als… als ich fünf Jahre alt war, ist mein Vater verstorben. Es war so plötzlich. Niemand hatte damit gerechnet. Von jetzt auf gleich war er einfach weg. Ich habe stundenlang geweint und auch jetzt, wenn ich darüber rede, könnte ich schon wieder heulen.“ Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. „Gott, das ist so dämlich.“

Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Nein, das ist nicht dämlich. Ihr standet euch sehr nah, nicht wahr? Da ist es okay, wenn die Gefühle mit einem durchgehen. Du solltest dir keine Vorwürfe machen.“ Er klang so, als sei ihm genau das passiert. Er verstand meine Gefühle. Was war ihm widerfahren?

Ich nickte stumm. „Ein Gutes hatte das alles. Meine Mutter und ich sind näher zusammengerückt. Sie ist alles, was ich habe. Ich bin froh, dass ich sie habe.“

„Das ist das Wichtigste. Ich habe mit meinen Eltern schon seit langer Zeit keinen wirklichen Kontakt mehr. Aber manchmal ist das vielleicht einfach so.“

Ich sah ihn an. „Das tut mir leid.“

Abwehrend schüttelte er den Kopf. „Schon gut. Ich komm‘ damit klar.“ Er lächelte schmal. Ein gezwungenes Lächeln. Irgendetwas belastete ihn.

Shawn Perley, 24

Wie sie über ihren Vater sprach, kam mir sehr bekannt vor. Ich hatte Selbiges mit einer mir sehr wichtigen Person durchlebt. Sie war mein Alles. Ohne sie war ich nichts.

Es war, als wären Amy und ich auf einer Wellenlänge. Ich fühlte mich ihr verbunden. Sie hatte in ihrem noch recht jungen Leben einiges erleben müssen, so wie ich. Niemandem wünschte ich, ein Elternteil zu verlieren. Das war bestimmt schrecklich.

Um die Stimmung ein wenig zu lockern, fragte ich Amy noch ein paar Dinge wie „Was sind deine Lieblingsfilme?“, „Kochst du gerne?“, „Welche Musik hörst du an?“

So verging der Abend wie im Fluge. Es wurde langsam dunkel und erst jetzt fiel mir auf, dass wir sogar bereits am Park vorbeigelaufen waren.

„Vielleicht sollten wir uns langsam mal auf den Rückweg machen“, schlug ich vor. Amy brummte zustimmend.

Auf halbem Wege zu meiner Straße entwich Amy ein seltsames Geräusch. Ich sah zu ihr herüber. Ihre Lippen bibberten. War es wirklich so kalt? Es fiel mir nicht auf. Aber ich hatte wahrscheinlich auch etwas mehr an als sie in ihrem knielangen Kleid und ihrer dünnen Jeansjacke.

„Willst du meine Jacke haben?“, fragte ich gönnerhaft.

„Wenn es dir nichts ausmacht.“

Ich schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Du frierst. Das sehe ich doch.“

Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. Dankend lächelte sie mich an.

„Und Hunger hätte ich auch“, gab sie zu, als wir in meine Straße einbogen. Ich zögerte. „Also, ich habe noch Pizza in meinem Gefrierfach. Allerdings weiß ich nicht, ob es deine Mutter erlauben würde, wenn du noch bei mir zu Abend isst.“ Das war so ziemlich das Einzige, was ich wirklich gut kochen konnte. Ofen warm, Pizza rein, fertig. Oder so ähnlich.

„Ich denke nicht, dass sie etwas dagegen haben wird. Wir haben schließlich noch nicht acht.“ Wieso um acht? Amy gähnte herzhaft.

Plötzlich raschelte es hinter uns.

Auf einmal spürte ich ein seltsames Unbehagen. Als würde mich irgendjemand beobachten. Wir gingen weiter und ich zeigte ihr, wo ich wohnte.

Immer wieder drehte ich mich um und stellte sicher, dass sich wirklich niemand vor uns versteckte.

Ich räusperte mich, rückte meinen Kragen zurecht und lief etwas schneller. Plötzlich raschelte es hinter uns im Gebüsch. Wer war da? Oder war es nur ein Tier? Aber das konnte ich mir nicht vorstellen.

„Hallo? Ist da jemand?“ Auch Amy drehte sich immer wieder um und blickte in die Dunkelheit. Im schummrigen Licht der Straßenlampen konnte man kaum etwas erkennen.

Schwer atmend legten wir noch einen Schritt zu. Halb rennend kamen wir an meiner Hausreihe an: 4, 6, 8... Da war sie, die Nummer 10.

Es raschelte erneut. Wir drehten uns abrupt um. Jemand streckte aus einer Hecke einen Fuß hervor. Darauf folgten Hände, Arme und Kopf, bis er vor uns stand. Ein blonder Junge mit grünen Augen.

„Sag mal, spinnst du, Cole. Bist du uns etwa gefolgt?“, schnaubte Amy hysterisch.

„Das... ist ein freies Land. Ich kann tun und lassen, was ich will. Und außerdem, wer kann einer so hübschen Dame denn nur widerstehen?“ Er ignorierte meine Anwesenheit.

Amy verdrehte die Augen. „Cole, geh jetzt bitte.“

Doch Cole bewegte sich keinen Zentimeter. „Ähm… Amy hat dich um etwas gebeten.“

„Hey du. Wer bist du? Lass ja die Finger von meiner Amy, verstanden? Ich warne dich. Wenn du ihr nur einmal zu nahekommst, breche ich dir die Nase.“ Auf einmal sah er mir fest in die Augen, als wäre ich erst jetzt, wie aus dem Nichts aufgetaucht.

„Jetzt mal langsam Cowboy“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Hab ich dir irgendetwas getan?“

„Ja. Du hast Amy dazu gedrängt, mit dir herzukommen, damit du sonst noch was mit ihr machen kannst.“

„Okay. Alles klar. Ich bitte dich jetzt ganz höflich, mein Grundstück zu verlassen.“ Als Cole sich nicht von der Stelle rührte, fügte ich noch hinzu: „Ansonsten muss ich mich gezwungen fühlen, die Polizei zu verständigen.“

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schritt Cole langsam rückwärts in Richtung Straße, zeigte mit seinen Fingern aber noch auf seine Augen. „Wir sehen uns wieder.“

Kopfschüttelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Amy.

Ich merkte, dass Amy in diesem Moment nichts sagen konnte. Deshalb ging ich zur Haustür und schloss sie auf. Ich machte eine Geste, um sie hineinzubitten.

Wir gingen die Treppen hinauf und ich schloss meine Wohnungstür im ersten Stock auf.

Mit einer weiteren Geste bedeutete ich ihr, einzutreten und dem Flur zu folgen. Zögerlich ging sie durch ins Wohnzimmer.

Verfolgt von der Vergangenheit

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