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Kapitel 4

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Gespräch für die Zukunft

Shawn Perley, 24

Es war irgendwie peinlich, wie wir nicht redeten. Aber das musste man ja auch nicht immer. Ich schob meinen Lieblingskitsch-Film ein. Before Sunrise. Ein echter Klassiker der 90er-Jahre. Den muss man gesehen haben. Ich ging zu Amy zurück und setzte mich ganz dicht an sie ran. Bei ihr erfüllte sich mein Körper mit Wärme, mit Glück. Unsere zufälligen Berührungen elektrisierten mich. Es war ein befremdliches Gefühl. Ich kannte sie schließlich gerade einmal seit heute Morgen und doch war es ein schönes Gefühl. Ich hatte es schon seit so vielen Jahren nicht mehr gespürt.

Ich musste sie einfach fragen, ob sie mit mir mal auf ein Date gehen möchte. Doch ich schätze, es war noch viel zu früh. Wir sollten uns erst mal etwas kennenlernen.

Amy rutschte nicht weg, als ich meinen Arm um die Sofalehne legte. Ich kratzte mich am Nacken. Ich war leicht nervös. Amy ging es anscheinend nicht anders. Angespannt tippte sie sich auf ihre Beine. Mein Arm auf der Sofalehne wanderte schrittweise näher an ihre Schulter heran, bis er auf ihr lag. Amy grinste verhalten. Sie legte vorsichtig ihren Kopf auf meine Schulter. So sahen wir beide schweigend den Film an. Niemand rührte sich.

Als der Film vorbei war, blickte ich auf sie herab. Ihre Augen waren fest verschlossen. Friedlich atmete sie in mein Shirt. Ich strich ihr eine Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht hinter das Ohr. Sie seufzte tief.

Ich zog meinen Arm zurück und legte ihren Kopf auf die Lehne. Dann stand ich auf und schaltete den Fernseher aus

Da klingelte ein Telefon. Es war nicht mein Handy und auch nicht mein Festnetz. Es kam aus Amys Jackentasche. Zögernd holte ich das klingelnde Gerät aus der Jacke, die auf dem Sofa lag und wollte es eigentlich ausschalten, als mein Blick auf den Bildschirm fiel. Es stand in kalligrafischer Schrift Mama darauf. Vielleicht sollte ich sie nicht wegdrücken, da sie bestimmt nicht umsonst um kurz vor zehn Uhr anrief. Deshalb rüttelte ich an Amys Arm. Diese murmelte etwas Unverständliches und rümpfte die Nase.

„Amy, deine Mutter.“

Sie stöhnte nur verschlafen. Ich legte das Handy in ihre Hand.

„Was?“, maulte sie unverständlich.

Genauso unverständlich für mich war das, was ihre Mutter sagte, da ich sie durch den Hörer nicht verstehen konnte.

„Ja, ich übernachte jetzt kurzfristig bei Melanie… Ich habe eben vergessen, dich anzurufen. Ist doch nichts dabei… Ich hatte doch gesagt, dass ich zu Melanie gehe und dann ist es eben ein wenig länger geworden. Sonst bist du nie so eine Helikoptermutti… Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber das brauchst du wirklich nicht. Ich bin gut aufgehoben. Und jetzt lass mich bitte schlafen. Ich bin müde. Ja, ich bin pünktlich zum Mittagessen zu Hause… Okay. Gute Nacht.“

Amy schmiss ihr Handy neben sich aufs Sofa. Ich war mir nicht sicher, ob ich es so gut fand, dass sie ihre Mutter belog, doch ich wollte sie jetzt auch nicht belehren. Das musste sie mit ihrer Mutter klären.

Binnen weniger Sekunden war Amy wieder eingeschlafen. Das war wohl wirklich ein anstrengender Tag für sie gewesen. Also schob ich meinen Arm unter ihren Kopf und den anderen unter ihre Beine, hob sie hoch und trug sie in mein Schlafzimmer. Dann zog ich die Bettdecke über sie, schaltete das Licht aus und machte die Tür hinter mir zu.

Gerne würde ich ja ihre Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass Amy bei mir übernachtete, doch ich kannte ihre Nummer nicht. Doch wecken wollte ich Amy auch nicht, da sie so friedlich schlief.

Ich ging zu der Kommode, die im Flur stand, und holte eine frische Bettdecke heraus. Diese bezog ich und kramte nach einem Kissen. Beides schmiss ich aufs Sofa, richtete es zurecht und ging schlafen.

***

Der Wecker meines Handys klingelte. Verschlafen haute ich auf mein Handy, doch es gab keine Ruhe. Langsam öffnete ich ein Auge, um auf den Bildschirm zu schauen. Es war sechs Uhr in der Früh. Ich schaltete den Wecker aus und danach mein Handy. Ich wollte Amy nicht wecken. Gähnend erhob ich mich vom Sofa und rieb mir über die Augen. Gestern war es wirklich zu spät geworden. Kein guter erster Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch in einer neuen Stadt. Wenn ich jetzt auch noch zu spät kam, konnte ich den Job, den ich wirklich gebrauchen konnte, vergessen.

Schlaftrunken schlich ich ins Badezimmer. Fix sprang ich unter die Dusche. Das Wasser drehte ich ganz warm. Es entspannte meinen Nacken, der vom Schlafen auf dem Sofa ganz verspannt war. Es floss mir über die Schulter, über die Beine und dann in den Abfluss, wo es sich vermutlich mit anderem Wasser wieder verband.

Eine ganze Weile stand ich einfach nur so, mit der Hand gegen die Duschwand gestemmt, da. Gedankenverloren starrte ich an den Duschkopf. Wie sehr ich doch diese Situation kannte. Es war wie früher, als meine Eltern in dem Haus meiner Kindheit noch neben dem Bad in ihrem Schlafzimmer schliefen. Meine damalige Freundin in meinem.

Als ich mit dem Duschen fertig war, schlich ich mich zurück in mein Zimmer. Meine Haare waren noch nass. Meine Freundin Josephine, genannt Josey, schlief immer noch. Ich beugte mich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ein Wassertropfen löste sich aus einer Strähne. Er tropfte ihr direkt auf die Stelle an der Wange, die ich gerade geküsst hatte. Sie lächelte in ihren Träumen. Erneut küsste ich sie. Dieses Mal auf die Stirn. Sie hielt meine Hand fest. Ich küsste sie auf die andere Wange und auf die Nase. Schief grinsend öffnete sie ihre Augen.

„Guten Morgen, Süßer“, murmelte sie. Jetzt gab ich ihr einen Kuss auf den Mund. Sie löste ihren Griff um meine Hand und schlang ihren Arm um meinen Hals. Ich lächelte sie an, als wir wieder auseinandergingen. Sie lächelte ebenso.

„Auch guten Morgen.“

Ich ging von dem Bett herunter und hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie und ich zog sie mit einem Schwung hoch.

„Komm, es gibt Frühstück.“

„Okay, warte kurz. Ich zieh mich noch schnell an.“ Sie schaute mich noch einmal verliebt an, bevor sie sich umdrehte und sich aus meinem Kleiderschrank ein ihr viel zu großes T-Shirt herauszog. Sie streifte es sich über.

„Gut, wir können los.“

Hand in Hand gingen wir in die Küche. Ich legte ihr meinen Arm um die Schultern.

„Willst du ein Spiegelei essen?“, fragte ich sie, während ich einen der Küchenschränke öffnete.

„Deine sind eh die besten“, schmeichelte Josey und ich spürte, wie ich rot anlief.

Aber da fiel mir was ein. Meine Eltern sollten vielleicht auch mitessen.

Ich löste mich von meiner Freundin und gab ihr noch einen Kuss.

Ich klopfte an die Tür meiner Eltern. Als sie nicht antworteten, schob ich vorsichtig die Tür auf. Tief und fest schliefen sie. Mein Vater hatte eine Hand über Moms Taille gelegt. Am liebsten hätte ich sie jetzt nicht geweckt, doch es war immerhin schon zehn Uhr.

„Mom, Dad? Frühstück.“

Mom sank noch weiter in ihr Kissen. Ich glaube, ich war der einzige Sohn, der seine Eltern wecken musste, da sie ansonsten nicht aus den Federn und in die Gänge kommen würden.

„Wir kommen gleich.“

„Wollt ihr auch ein Ei?“

„Ja. Ein extra großes, bitte“, brummte mein Vater.

Ich nickte und überließ meine Eltern sich selbst.

Dann ging ich zurück in die Küche. Dort kramte ich in einem der unten gelegenen Schränke herum und suchte nach einer Pfanne.

„Denkst du, dass wir auch einmal so nebeneinanderliegen werden? Unser Kind weckt uns und wir werden zusammen alt und grau?“, fragte ich Josey.

„Ich halte das für unwahrscheinlich, aber wer weiß schon, was die Zukunft bringen wird.“

Meine Eltern kamen in die Küche geschlurft und meine Katze saß plötzlich neben mir. Ich füllte ihre Futterschüssel nach und widmete mich wieder dem Ei.

Ich schlug ein paar Eier auf und gab sie in die Pfanne.

„Stark gewürzt oder eher mild?“, fragte ich.

„Wie du es lieber magst, Schatz“, antwortete meine Mom.

Also holte ich Salz, Pfeffer und Paprika heraus und verstreute es über die Eier, welche in der Pfanne verschmolzen.

„Setzt euch schon mal hin.“

„Wir decken gerne auch den Tisch. Du musst nicht alles für uns machen. Wir haben selbst noch Hände.“ Meine Eltern holten Teller und deckten den Tisch für drei Personen. Danach steckten sie drei Toasts in den Toaster.

Als das Ei fertig und der Toast aus dem Toaster gesprungen war, stellte ich die Pfanne auf den Tisch und rückte den Stuhl, auf den ich mich gesetzt hatte, an den Tisch.

„Was hast du heute so vor?“, fragte mich mein Vater.

„Weiß noch nicht. Ich glaube, ich bleib heute zu Hause. Und ihr?“

„Wir müssen noch einkaufen. Wir haben schon wieder kein Essen im Kühlschrank. Und danach wollten wir noch zu deiner Tante. Willst du nicht mit? Sie würde sich sicherlich freuen, dich mal wieder zu sehen. Du warst immerhin schon lange nicht mehr bei ihr.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, lasst mal, aber richtet ihr einen lieben Gruß aus.“ Innerlich fand ich das schon ziemlich gut. Dann hatte ich ja den ganzen Tag für mich.

„Viel Spaß“, meinte ich.

Wir aßen unser Frühstück und meine Eltern verschwanden wieder in ihr Zimmer.

Kurze Zeit später kamen sie wieder hervor und meine Mom wollte mir einen Kuss auf die Stirn geben. Ich wand mich aus ihrem Griff. Sie hatte damit allerdings schon gerechnet und wuschelte mir stattdessen durch die Haare. Ich hatte meine Haare zwar noch nicht gerichtet, allerdings mochte ich das Verwuscheln nun auch nicht allzu sehr. Ich war ja kein Kind mehr.

„Mom!“, maulte ich sie an. „Lass das doch bitte mal. Bin ich ein Baby?“

„Für mich wirst du es immer bleiben.“

Sie ging zur Tür und verabschiedete sich noch einmal. Mein Vater folgte ihr.

Als die Tür ins Schloss fiel, streckte ich meine Beine aus. Gemütlich stellte ich den Fernseher an.

„Und was haben wir heute vor?“, fragte ich Josey, die wieder neben mir saß.

„Wie wär's heute mal mit einem entspannten Tag? Wir haben doch bisher immer so aufregende Sachen gemacht. Heute mal nicht, ja?“

Ich nickte verständnisvoll, da sie auch mal eine Pause gebrauchen konnte, und gab ihr noch einen Kuss auf die Nase.

„Okay, versteh ich.“

***

Eine Tür schloss sich leise hinter mir. Ich löste meinen Blick von der Duschwand und stellte das Wasser aus. Schnell seifte ich mich ein, duschte mich erneut ab und stieg aus der Dusche.

Ich wickelte mir ein Handtuch um und ging vor den Spiegel.

Ich sah wirklich müde aus. Mit der Haarbürste, die am Waschbeckenrand lag, kämmte ich mir noch die Haare, bevor ich sie föhnte und mit etwas Haargel stylte.

Für ein Bewerbungsgespräch sollte man ja nicht wie gerade aufgestanden aussehen, weshalb ich noch in den Keller ging, um mir meinen alten, aber noch brauchbaren Anzug aus dem ehemaligen Schrank meiner Eltern zu holen.

Geschwind zog ich ihn mir über.

Ich öffnete verstohlen die Tür zu meinem Schlafzimmer, in dem Amy noch schlief. Sie sah so friedlich aus, also holte ich Stift und Papier und fing an zu schreiben.

Wieder schloss ich die Tür und schlich zur Wohnungstür.

Meinen Autoschlüssel schnappte ich mir hastig aus der Schale, wo er immer lag, und sprintete aus der Tür. Ich war eh schon viel zu spät.

Doch wie sollte es anders sein, natürlich staute sich die Straße. Heute wollte einfach nichts so laufen, wie es von mir ursprünglich geplant war. Seufzend rollte ich mit den Augen. Ich blickte auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, dann wäre ich zu spät an Ort und Stelle gewesen. Ich blickte auf die Rücksitze. Kontrollierend ließ ich meinen Blick über die Polster schweifen. Meine Aktentasche mit Zeugnis, Stift und Papier lag dort bereit. Etwas aufgeregt war ich schon. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich die Luft eingezogen und nicht mehr herausgelassen hatte. Dies holte ich jetzt nach und legte meine Stirn auf das Lenkrad. Dieser heutige Tag hing mit meiner restlichen Zukunft zusammen. Ich brauchte diesen Job so dringend. Er war nicht nur gut bezahlt, sondern verschaffte mir auch neue Möglichkeiten. Bisher hatte ich nur in einem Fischladen gearbeitet, trotz Abitur und Ausbildung zum Hotelfachmann. Doch bis vor wenigen Monaten hatte ich dafür einfach noch keine Zeit gehabt. Ich musste mich um meine schwerkranke Oma kümmern. Ich arbeitete deshalb auch nur halbtags. Doch nach ihrem unerwarteten, aber vorauszusehenden Tod hatte ich es in meiner alten Heimat einfach nicht mehr ausgehalten. Sie war nicht weit weg von der Stadt hier, doch ich brauchte einen Neuanfang. Fernab von Erinnerungen und Gefühlen. Ich entschied mich schließlich für dieses Dorf inmitten von Pennsylvania. Nach mehreren weiteren Wochen des Planens konnte ich dann endlich mein neues Heim betreten. Ich wollte mir gerade einen neuen, besseren Job verschaffen, als Amy plötzlich aufgelöst neben mir stand.

Und nun stehe ich im Stau, auf dem Weg zum wohl wichtigsten Abschnitt meines Lebens.

Als ein Auto hinter mir zu hupen begann, schnellte ich vom Lenkrad hoch. Ich streckte entschuldigend meine Finger aus dem Fenster und holte die entstandene Lücke vor mir wieder auf. So ging das noch weitere Minuten, bis ich am Horizont die Ursache für die Autoschlange fand. Ein Lastwagen war umgekippt und die Polizei bemühte sich um Ruhe und Ordnung. Wachtmeister lenkten die Autos um, bedeuteten ihnen, in die andere Schlange zu fahren. Natürlich tat ich es ihnen nach.

Ab dort an ging alles viel schneller. Tatsächlich war ich innerhalb kürzester Zeit an meiner vielleicht bald neuen Arbeitsstelle angekommen. Ich stieg hektisch aus dem Auto aus. Wie sehr wünschte ich mich jetzt in meine Jugendjahre zurück. Alles war so unproblematisch, so leicht, einfach. Hier vor diesem riesigen Gebäude zu stehen, führte mir nur einmal mehr vor Augen, dass ich erwachsen geworden war. Ich hatte Verantwortung. Für mich und andere Menschen, die ich liebte.

Ich drückte auf den Sperrknopf an meinem Autoschlüssel und hörte das vertraute Tuten, als ich bereits meinem Auto den Rücken zugekehrt hatte und gen Gebäude ging.

Eine Frau erwartete mich bereits. Sie zeigte auf eine Gruppe Menschen, die in einem provisorisch mit Stühlen zusammengewürfelten Wartezimmer Platz genommen hatten. Ich setzte mich neben eine blonde, etwas korpulentere Frau und wartete darauf, dass man meinen Namen aufrief.

Doch lange Zeit passierte nichts. Die Menschen vor mir kamen und gingen. Ich hatte bereits Angst, dass ich mich bei dem Bestätigungsbrief verlesen hatte und in Wirklichkeit eine Absage anstelle einer Einladung auf dem Papier prangte. Nervös fummelte ich an meiner Tasche herum. Vor Aufregung bekam ich sie nicht auf. Ich brauchte diesen Job. Wenn ich mich nun wirklich verlesen hatte, waren die letzten Wochen harter Arbeit für die Katz gewesen.

Endlich sprang der Verschluss auf und ein Berg an verschiedensten Blättern flog mir entgegen. Die Überraschung war nicht nur mir, sondern auch allen anderen im Raum ins Gesicht gezeichnet.

Verlegen blickte ich zu Boden und machte mich daran, die Papiere einzusammeln. Ein beeindruckender Stapel ergab sich daraus. Brauchte man so viel für ein Bewerbungsgespräch? Die meiste Zeit wurden einem doch nur Fragen gestellt, die man schlau und geschickt beantworten sollte.

Während ich die Papiere wieder zusammensuchte, hielt ich Ausschau nach meinem Bestätigungszettel, der von dem Haufen überdeckt und verborgen wurde. Natürlich war er der unterste im Stapel. Ich bemerkte nicht, wie sich beim Aufräumen das Wartezimmer langsam, aber sicher leerte.

Als ich den Briefumschlag öffnete, zog ich den Zettel heraus und faltete ihn auf. Glücklicherweise war kein Abgelehnt gedruckt, sondern ein sogleich viel schöner aussehendes Angenommen. Erleichtert hob ich den Kopf und blickte direkt in die Augen eines Mannes, die mich erwartungsvoll anstarrten. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er zu mir gelaufen kam, geschweige denn, wie er meinen Namen aufgerufen hatte. Entschuldigend erhob ich mich und reichte ihm die Hand, doch der Mann machte keinerlei Anstalten, sie entgegenzunehmen. Stattdessen schob er sich an mir vorbei in den Raum, in den alle Leute hineingegangen waren, wenn sie aufgerufen wurden und aus dem sie auch wieder herauskamen, wenn sie fertig waren.

Ich folgte ihm und stand kurz darauf vor drei Personen. Eine Frau und zwei Männer. Der Mann, welcher mich geholt hatte, gehörte ebenfalls zu ihnen. Verlegend räuspernd stellte ich meine Tasche auf den Boden. Kein guter erster Eindruck!

Einer der Gesprächsführer blickte auf einen Zettel mit sehr, sehr vielen Namen darauf.

„Shawn Persey?“ Er blickte mich bereits mehr als nur etwas genervt an, weshalb ich es vermied, meinen Nachnamen zu verbessern. Offensichtlich war er gestresst und hatte wohl schon viel zu viele Gespräche geführt. Den anderen beiden schien es im Gegensatz zu ihm noch recht gut zu gehen. Sie blickten mir noch halbwegs freundlich entgegen. Die Frau schien noch deutlich jünger als der Mann in der Mitte. Ich denke, dass sie sich eventuell mit anderen abwechselten, damit sie sich zwischendurch etwas erholen konnten.

Ich nickte. „Ja, das bin ich.“ Ich zeigte auf mich und reichte ihnen dann nacheinander die Hand. Noch hatte ich mich nicht hingesetzt. Ich hatte mal gehört, dass man erst auf die Aufforderung der Gesprächspartner warten und dabei den Vor- und Zunamen sagen sollte, doch da sie diese schon kannten, hielt ich es nicht mehr für notwendig.

Die Frau zeigte auf den Stuhl vor ihnen und ich setzte mich schließlich.

„Also Mister Persey. Wieso haben Sie sich ausgerechnet für diese Stelle beworben?“ Der Mann in der Mitte sprach meinen Namen mit so einer großen Abscheu aus, dass es mich leicht erschaudern ließ. Die Kühle in seiner Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken, ließ meine Haare zu Berge stehen. Seine abstoßende Haltung mir gegenüber erweckte in mir einen Trieb, den ich noch nie zuvor in solchem Ausmaß gefühlt hatte. Ich wollte weglaufen. Doch mein innerer Ehrgeiz hielt mich an Ort und Stelle. Ich wollte hier arbeiten. Das war meine Traumstelle.

Zögerlich öffnete ich den Mund, um ihm zu antworteten, doch heraus kam nur eine eingeschüchterte Stimme, die nicht mir gehörte. Als würde ich nicht mehr Herr über meine Stimmbänder sein. Als stünde ich außerhalb meines Körpers und hörte eine andere Person für mich reden.

„Ich habe dieses Stellenangebot auf Ihrer Internetseite gefunden und mich direkt in das Anwesen verliebt. Es sieht so idyllisch und vertraut... heimisch aus, dass ich mich prompt bewerben musste.“

„Gibt es noch andere Gründe, außer das Aussehen, weshalb Sie sich hier beworben haben?“, fragte nun die Frau.

„Na ja, ich brauche einen Job...“, antwortete ich verlegen, meinte es aber ernst. Das schienen die Gesprächsführer auch zu bemerken, denn sie machten keine Anstalten, weiter nachzufragen.

Der Mann neben dem älteren Mann fragte dann: „Haben Sie schon Erfahrungen mit dieser Art von Beruf?“

„Meine Ausbildung habe ich zum Hotelfachmann gemacht. Aber ich habe bisher in einem Laden gearbeitet, in dem man sich sehr viel mit Menschen unterhalten musste. Mir hat das immer sehr viel Spaß gemacht und ich habe sehr viel von ihnen lernen können.“

„Was war das für ein Beruf, in dem Sie gearbeitet haben?“

Ich zögerte, wollte die Leute aber auch nicht belügen, da, falls die Wahrheit ans Licht kommen sollte, das einen falschen Eindruck von mir vermitteln und ich als Lügner abgestempelt werden würde.

„Ich habe in einem Fischladen gearbeitet.“

„Und wieso haben Sie nicht einen dieser Jobs gesucht oder angenommen?“ Die Frau machte eine Bewegung mit den Armen durch den ganzen Raum und meinte damit, wieso ich nicht in einem Hotel gearbeitet hatte und mich stattdessen für einen Fischladen entschieden hatte.

„Ich musste mich um meine Großmutter kümmern. Sie... ist... an...“ Ich unterbrach und korrigierte mich, „…bei besseren Menschen.“ Der jungen Dame musste wohl auffallen, dass ich mich unwohl fühlte, und so wechselte sie das Thema.

„Und wieso sollten wir ausgerechnet Sie anstellen? Sie haben ja außer der Ausbildung eher geringfügige Erfahrungen.“

„Ich...“ Darauf wusste ich jetzt so schnell keine wirkliche Antwort. „Ich bin sehr engagiert. Ich liebe es, mit Leuten zu arbeiten. Besonders eben mit Gästen oder Mitarbeitern, da es mir selbst das Gefühl gibt, erwachsen zu sein. Ich habe auch während meiner Schulzeit mehrere Praktika gemacht und so denke ich, bringe ich schon etwas Erfahrung mit. Auch wenn das vielleicht nicht so viel ist wie andere Bewerber vorweisen können. Für mich wäre der Job auch ein guter Schritt, endlich selbstständig zu werden. Nicht unbedingt mit einem eigenem Hotel, aber es ist dennoch besser, als in einem Fischladen zu arbeiten. Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Und niemand sagt, dass ich nach einem Jahr die Stelle hier kündigen werde. Vielleicht gefällt es mir hier ja so gut, dass ich bis zu meiner Rente, die ja noch ziemlich lange hin ist, hier Angestellter sein werde, wenn ich das darf.“

„Das heißt, Sie würden uns lange erhalten bleiben, Mister...“ Der Mann in der Mitte schaute erneut auf das Blatt mit all den Namen. „Mister Perley.“ Er schien gerade erst bemerkt zu haben, dass mein Name nicht Persey war.

Ich nickte.

„Gut. Dann wären wir hier soweit fertig. Haben Sie noch spezifische Fragen? War irgendetwas unklar?“, fragte der jüngere Mann.

Ich überlegte kurz. Zwar machte es einen guten Eindruck, wenn man noch Fragen stellen würde, doch ich hatte keine. So schüttelte ich nur den Kopf. Sie reichten mir die Hand und wir verabschiedeten uns.

Jetzt hieß es warten.

Auf dem Flur jedoch gab es kein Halten mehr und ich sprang glücklich in die Luft. Das lief doch besser als erwartet. Gar nicht mal so schlecht.

Als ich auf dem Hof stand, war es bereits später Nachmittag. Die Sonne verschwand in dunklen, rot- orangenen Schwaden hinter den großen Birken, die auf dem Parkplatz wuchsen. Es war ein Moment wie im Bilderbuch. Ich sog scharf die Luft ein. Man konnte riechen, dass es langsam Herbst wurde.

Eine Gänsehaut jagte mir über den Rücken. Es wurde etwas frisch. So zog ich meine Jacke enger um mich und knöpfte die Knöpfe bis unter mein Kinn zu.

Ich war fast am Auto angekommen, als ich in meine Aktentasche greifen wollte, um den Autoschlüssel hervorzuziehen. Doch ich tastete ins Leere. Ich schien sie im Sprechzimmer vergessen zu haben.

Erneut lief ich den Weg zum Gebäude entlang. Beinahe rannte ich. Ich stolperte über zwei Treppen am Fuße des Eingangs gleichzeitig und fiel förmlich mit der Tür ins Schloss.

Mit einem Rums sprang die Tür auf. Alles lag bereits im Dunkeln. Nur noch ein Licht brannte, welches die Form eines Türrahmens am Boden abzeichnete. Das Sprechzimmer. Erleichtert ließ ich die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen. Ich stürzte auf die Tür zu, doch bevor ich hineinplatzen konnte, schnappte ich vereinzelte Gesprächsfetzen auf.

„... gar nicht so schlecht.“

„Etwas verträumt vielleicht, aber sehr nett und sympathisch“, erkannte ich die Stimme des älteren Mannes.

Ich musste leicht lächeln, aber als ich realisierte, dass sie auch andere meinen könnten, räusperte ich mich nur still und hielt meine Freude zurück.

„Ich fand den auch sehr überzeugend. Der weiß, was er will. So einen können wir gebrauchen“, meinte die Frau.

Ich überwand mich dazu, an die Tür zu klopfen. Nicht, dass die Herrschaften dann darauf kämen, ich könnte gelauscht haben.

„Entschuldigung, dass ich noch einmal stören muss, aber ich habe meine Tasche vergessen“, entschuldigte ich mich sogleich. Sie sahen mich einfach nur stumm an. Ich schnappte mir meine Tasche und verschwand rückwärts aus dem Türrahmen:

„Tut mir nochmals leid.“

Dann saß ich kurz darauf in meinem Auto, schaltete den Motor an und drehte das Radio lauter.

Gut gelaunt fuhr ich über den Highway zurück zu mir nach Hause.

Verfolgt von der Vergangenheit

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