Читать книгу Zwillingsschmerz - Ana Dee - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеDie durchscheinenden Vorhänge bauschten sich auf, als eine sanfte Brise durch das Fenster ins Innere des Zimmers strich. Marlene wälzte sich stöhnend auf dem Laken.
„Marie, Liebes, komm zurück ...“, murmelte sie im Schlaf und rollte sich auf die andere Seite. Versunken im Traum streckte sie ihre zitternde Hand nach der Dreijährigen aus, doch das kleine Mädchen mit den Engelslocken und der glockenhellen Stimme löste sich allmählich in nichts auf.
„Mariiieeee!“
Marlenes verzweifelter Schrei hallte durch das Haus und sie fuhr erschrocken hoch.
„Mama? Alles in Ordnung?“ Mia stand in der Tür und musterte ihre Mutter besorgt. „Hattest du wieder einen dieser Träume?“
Beschämt senkte Marlene ihren Blick und flüsterte: „Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Marie sucht mich jede Nacht heim und mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass sie angeblich nicht mehr am Leben ist.“
„Du weißt doch Mama, dass wir da anderer Meinung sind.“
„Aber sicher. Komm her meine Maus und lass dich umarmen.“
Marlene drückte ihre Tochter fest an sich und trotz der Trauer durchflutete sie ein Glücksgefühl. Sie hütete Mia wie einen kostbaren Schatz, obwohl sie wusste, dass dieses Verhalten für das Mädchen manchmal zur Belastung wurde.
Mia löste sich behutsam aus der Umklammerung ihrer Mutter und umrundete das Bett. Wie selbstverständlich lupfte sie die Decke und nahm auf der leeren Seite des großen Doppelbettes Platz. Dann kuschelte sie sich eng an ihre Mutter, so wie sie es schon seit Jahren tat.
Marlene fuhr sanft durch Mias blonde Locken und hörte erst auf, als sie die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Tochter vernahm. Voller Bitterkeit erinnerte sie sich an die zurückliegenden Jahre, an die Scheidung von Frank und ihr persönliches Trauma.
Ihm war es irgendwann zu viel geworden, ihre Besessenheit von Marie und die Suche nach ihrer gemeinsamen Tochter. Sie konnte und wollte nicht akzeptieren, dass Marie nicht mehr am Leben sein sollte. Fünf Jahre war Frank noch an ihrer Seite geblieben, bis er sich getrennt und eine neue Familie gegründet hatte. Er war ein attraktiver Mann, damals wie heute, und Juliane, seine Neue, hatte ihm noch ein Mädchen geschenkt.
Marlene hatte ihm einmal an den Kopf geworfen, dass er Marie einfach ersetzen wollte. Natürlich war dem nicht so, es hätte genauso gut ein Junge werden können. Aber sie fühlte sich im Stich gelassen, auch wenn er sich nach der Trennung ausgesprochen großzügig verhalten hatte. Das Haus durfte sie behalten und ebenso den Wagen, aus dem inzwischen eine alte, rostige Kiste geworden war.
Vor dem morgigen Tag graute ihr besonders, denn sie würde Frank mit seiner Familie notgedrungen ertragen müssen. Mia wurde siebzehn und sie wollten diesen Geburtstag gebührend feiern. Erst im Kreise der Familie und anschließend hatte Mia geplant, mit ihren Freundinnen tanzen zu gehen.
Marlene stöhnte leise. Mias Geburtstag war der schönste und schlimmste Tag zugleich. Am liebsten würde sie sich verkriechen, auswandern, einfach nicht da sein. Aber das ließ sich nicht vermeiden und schon Mia zuliebe musste sie durchhalten.
Für sie waren es Höllenqualen, nur einem Mädchen Geschenke zu überreichen, dabei hatte sie an diesem Tag zwei Kinder zur Welt gebracht – die Zwillinge Mia und Marie. So wie jedes Jahr würde ein herzliches Lächeln ihre Lippen umspielen, während in ihrem Innersten ein erbitterter Kampf tobte.
Vorsichtig drehte sie sich auf die andere Seite, um Mia nicht zu wecken, und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit Wehmut erinnerte sie sich an den Tag, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte ...
„So, ihr Hübschen, dreimal Zuckerwatte für die süßesten M&M’s.“
Frank reichte seiner Frau und seinen beiden Töchtern die Nascherei. Marie, die ungeduldigere der beiden Zwillinge, griff mit ihren kleinen Patschehändchen sofort in die fluffige rosafarbene Zuckerwatte und stopfte sich eine große Portion in den Mund.
Marlene rollte mit den Augen und wischte mit einem Taschentuch Maries Wangen sauber. „Unsere kleine Naschkatze lernt es wohl nie“, seufzte sie mit einem Lächeln.
„Von wem sie das wohl hat?“ Frank strahlte sie an und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Was willst du mir damit sagen?“ Gespielt entrüstet knuffte sie ihn in die Seite, bevor sie Hand in Hand über den Kirmesplatz schlenderten.
Die Zwillinge in ihren geblümten Kleidchen steuerten das nächste Fahrgeschäft an und klatschten begeistert in die Hände, während ihre Zöpfe fröhlich auf und ab wippten. Frank spendierte ihnen drei Fahrten und vergnügt jauchzend winkten Mia und Marie ihren Eltern zu.
Die Liebe und die Harmonie standen der kleinen Familie ins Gesicht geschrieben. Die Sonne strahlte vom Himmel und machte das Glück perfekt.
„Marlene, ich hole mir dort drüben am Stand eine Bratwurst, dieser ganze Süßkram ist nichts für mich.“
„Ja, mach nur, ich kümmere mich derweil um unsere Mäuse.“
Frank gesellte sich zu der kleinen Menschentraube vor dem Imbissstand, während Marlene mit Mia und Marie die bunten Buden bestaunte. An einem Verkaufsstand für Schmuck blieb sie stehen und betrachtete die Auslagen. Ihr Blick blieb an einem Paar silberner Ohrstecker hängen, die würde sie sich auf dem Rückweg gönnen.
„Mia, Marie, weiter geht’s.“ Ihre suchende Hand griff ins Leere. „Mia, wo ist Marie?“
„Luftballon!“ Mia deutete auf einen Mann, der im Clownkostüm bunte Ballons verkaufte.
„Oh nein.“
Marlene rannte los und zerrte die weinende Mia hinter sich her. Sie drängte sich durch die Menschenmenge und rief verzweifelt den Namen ihrer Tochter. Dann stand sie endlich vor dem Mann im Clownkostüm.
„Entschuldigen Sie bitte, haben Sie meine Tochter gesehen?“, fragte sie völlig außer Atem. Ihre Worte hatten einen flehenden Ton angenommen.
„Wie sieht sie denn aus?“
Marlene wehte eine leichte Alkoholfahne entgegen. „Das ist ihre Zwillingsschwester.“ Sie zeigte mit einer fahrigen Handbewegung auf Mia. „Sie trug das gleiche Kleidchen, die gleiche Frisur ...“ Nur mit Mühe konnte sie ein Schluchzen unterdrücken.
„Neee, die ist hier nicht entlanggekommen.“ Er wandte sich ab und kümmerte sich weiter um den Verkauf seiner Luftballons.
„Aber meine Tochter behauptet, dass Marie zu Ihnen gelaufen ist“, beharrte sie.
„Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe Ihren Knirps nicht gesehen und damit basta.“
Ein Arm legte sich um Marlene. „He, wo wart ihr denn? Ist etwas passiert?“ Franks Blick irrte suchend umher.
„Marie, sie ist einfach so verschwunden.“ Marlenes Stimme überschlug sich regelrecht.
„Ich verstehe kein Wort, bitte hilf mir auf die Sprünge.“ Frank musterte sie eindringlich.
„Ich war nur für einen winzigen Moment unaufmerksam und plötzlich war Marie wie vom Erdboden verschluckt. Mia meinte, sie wäre zu dem Stand mit den Luftballons gelaufen.“ Marlene konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
„So, mein Freundchen“, Frank warf die Bratwurst in einen Papierkorb und umklammerte den Unterarm des Mannes mit einem festen Griff. „Jetzt erzählst du mir bitte haargenau, wo ich meine Tochter finden kann.“
Die Antwort fiel anders aus, als erwartet, denn nur einen Atemzug später taumelte Frank zurück. Die Faust des Mannes hatte sein Kinn getroffen.
„Jetzt reicht es!“
Frank war außer sich und stürzte sich auf ihn. In wildem Gerangel wälzten sich die Männer auf dem Boden und wirbelten jede Menge Staub auf.
„Schluss jetzt!“ Ein Ordnungshüter mischte sich ein und zerrte die Männer auseinander. „Worum geht es eigentlich?“
Frank klopfte seine Hose sauber. „Unsere Tochter ist verschwunden, genau an dieser Stelle.“
„Stimmt das?“
Der stämmige Mann von der Security drehte sich zu dem Mann im Clownkostüm, doch der zuckte nur mit seinen Schultern.
„Hier kommen am Tag zig Leute vorbei, da kann ich nicht auf jeden einzelnen Besucher achten.“
„Bitte, was wird denn nun?“
Marlene hatte das Gefühl, allmählich durchzudrehen. Das Blut rauschte in den Ohren und ihr Puls raste.
„Wie konnte das überhaupt passieren?“, stellte der Securitymitarbeiter die Gegenfrage.
„Ich weiß es nicht ... plötzlich war meine Tochter verschwunden, einfach so.“ Marlene war erneut den Tränen nahe. Ihr schlimmster Albtraum schien sich zu verselbstständigen.
„Wie sieht das Mädchen aus?“
„Genauso wie unsere zweite Tochter, sie sind Zwillinge.“
Der stämmige Typ hielt sich das Funkgerät an die Lippen und forderte seine Mannschaft sofort dazu auf, das gesamte Gelände nach Marie zu durchkämmen.
„Wenn Ihre Tochter nicht auftaucht, müssen Sie die Polizei verständigen.“
Marlenes Herzschlag setzte für eine Schrecksekunde aus. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sicher, die Mädchen waren oft quirlig und hatten ihren eigenen Kopf, aber noch nie war eine von ihnen fortgelaufen. Mia und Marie waren eineiige Zwillinge und hingen meist wie Kletten aneinander.
Frank fand als Erster die Sprache wieder. „Wir sollten Marie suchen und nicht länger unsere Zeit vertrödeln.“
Er nahm Mia auf den Arm und eilte voraus, während Marlene ihm wie in Trance folgte. Sie liefen den Weg, den sie bisher genommen hatten, mehrmals auf und ab, bevor sie sich hinter den Ständen umschauten.
Nach einer Stunde schweißtreibender Suche gaben sie auf und informierten die Polizei. Marlene zitterte und schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper, als sie am Straßenrand auf die Beamten warteten.
Irgendjemandem hätte das kleine Mädchen doch auffallen müssen, aber es gab nicht die geringste Spur. Marlene konnte förmlich spüren, wie Marie um Hilfe schrie, sich nach ihrer Mutter und ihrer Schwester sehnte. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein netter älterer Herr, der Marie ein Kätzchen versprach, wenn sie ihm folgte. Schluchzend warf sie sich in Franks Arme.
„Schhhh ... alles wird gut mein Schatz. Die Jungs in Uniform werden sie finden“, versuchte er sie zu beruhigen.
Mit verquollenen Augen schaute sie zu ihm auf. „Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, Marie ist etwas Schreckliches zugestoßen.“
Sie löste sich beinahe trotzig aus seiner Umarmung und atmete auf, als zwei Streifenwagen neben ihnen hielten. Die Befragung ging rasch vonstatten und am Ende schoss einer der Beamten noch ein Foto von Mia.
„Wir durchsuchen jetzt das gesamte Areal. Es wäre das Beste, wenn Sie nach Hause fahren und abwarten, schon ihrer kleinen Tochter zuliebe.“ Er nickte in Mias Richtung, die sich verstört an Frank klammerte.
„Ich kann hier nicht weg“, flüsterte Marlene mit tonloser Stimme. „Marie braucht mich, dass kann ich deutlich spüren.“
„Bitte Marlene, wir machen uns doch nur verrückt. Die Männer werden schließlich wissen, was zu tun ist. Stell dir vor, sie finden Marie und wir sind nicht zu Hause?“
„Du machst es dir wie immer leicht.“ Ihre Stimme klang schrill und vorwurfsvoll.
„Das ist nicht wahr und das weißt du auch“, erwiderte Frank entrüstet. „Oder kannst du mir sagen, wie lange Mia noch durchhält?“
Marlene gab sich geschlagen. Widerwillig trottete sie ihm zum Wagen hinterher, ständig nach Marie Ausschau haltend, ob sie das Mädchen nicht doch noch irgendwo entdeckte. Frank hielt ihr die Autotür auf und sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Noch immer zitterte sie unkontrolliert, als sie sich anschnallte und die eingegangenen Nachrichten auf ihrem Smartphone kontrollierte.
Frank steuerte den Wagen schweigsam zurück. Er wusste genau, dass jedes tröstende Wort an Marlene abprallen würde. So aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt. Aber auch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er die Wahrheit ebenso wenig akzeptieren wollte.
Nachdem sie das schmucke Einfamilienhaus erreicht hatten, ließ er den Wagen achtlos in der Einfahrt stehen und begleitete Marlene und Mia ins Haus.
„Was hältst du davon, wenn ich uns einen Kaffee aufsetze?“ Frank schaute sie fragend an.
„Gute Idee“, antwortete Marlene abwesend.
Sie griff nach Mias Hand und lief die Stufen hinauf ins Kinderzimmer. Ungestüm drückte sie die Klinke herunter und ein traumhaftes Märchenland aus Rosa öffnete sich ihr. Doch in ihrem jetzigen Zustand hatte Marlene keinen Blick dafür.
Sie zerrte das geblümte Kleid über Mias goldgelocktes Köpfchen und schleuderte es in eine Ecke. Es war für sie unerträglich, diesen Anblick weiterhin vor Augen zu haben. Stattdessen zog sie Mia ein leichtes Shirt und eine kurze Hose über und lief mit ihr wieder nach unten.
„Darf ich ein Eis haben?“, fragte Mia und schaute sie mit ihren großen blauen Augen bittend an.
Marlene war in dieser Beziehung recht streng und achtete sehr auf eine gesunde Ernährung, doch heute drückte sie Mia wortlos das Eis in die Hand. Dann setzte sie sich zu Frank an den Küchentisch und nippte am Kaffee.
„Wie wird es jetzt weitergehen?“, murmelte sie verzweifelt.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, gestand ihr Frank mit trauriger Miene.
Inzwischen hatte eine großangelegte Suche stattgefunden, doch Marie blieb weiterhin verschwunden und die Fahndung wurde ausgeweitet. Nach einer schlaflosen Nacht saßen sich Frank und Marlene erneut gegenüber. In ihren Gesichtern spiegelte sich das blanke Entsetzen und mit jeder anbrechenden Stunde wuchs die Hoffnungslosigkeit.
Frank waren die beruhigenden Worte ausgegangen und inzwischen bereute er zutiefst, nicht auf Marlene gehört zu haben. Vielleicht hätten Sie Marie gefunden, wenn sie dageblieben wären? Doch er wollte seinen Fehler vor Marlene nicht eingestehen und kümmerte sich stattdessen aufopferungsvoll um Mia und den Haushalt.
Marlene hingegen fühlte sich wie in einem Vakuum, sie war zu nichts mehr fähig. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und sie wirkte kränklich. Teilnahmslos saß sie am Tisch und hing ihren Gedanken nach. Frank machte sich große Sorgen und wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, würde er um psychologische Hilfe bitten müssen.
Der schrille Klingelton des Telefons zerriss die Stille. Marlene sprang auf und umklammerte den Hörer, sodass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.
„Nein, es gibt keine Neuigkeiten, tut mir leid. Wir melden uns, sobald Marie wieder wohlbehalten bei uns ist, aber jetzt brauchen wir eine freie Leitung, entschuldige bitte.“ Mit einem traurigen Gesichtsausdruck legte sie den Hörer zur Seite. „Deine Mutter“, erklärte sie schroff.
„Bitte Marlene, sie kann doch nichts dafür. Sie macht sich genauso verrückt wie wir.“
„Aber ich habe ihr doch schon etliche Male gesagt, dass wir uns melden, sobald sich an der Situation etwas ändert.“
„Wir sollten jetzt nicht über das Thema Schwiegermütter streiten. Meine Mutter ist ebenfalls an ihrem seelischen Limit angekommen, genau wie du. Sie liebt ihre beiden Enkeltöchter abgöttisch.“
„Entschuldige bitte.“ Marlene senkte schuldbewusst den Kopf.
Frank beugte sich zu ihr herunter und küsste zärtlich ihren Nacken. „Wir schaffen das, wir sind stark. Bestimmt hat sich Marie nur irgendwo verkrochen ...“
Tröstend legte er seinen Arm um ihre Schultern, doch Marlene schüttelte ihn ab.
„Das glaubst du doch selbst nicht!“ Ihre Augen funkelten zornig.
„Ich will es aber glauben und ich will mir meine Hoffnung nicht zerstören lassen.“ Frank klang wie ein trotziges Kind.
„Ich habe mir die Statistik angesehen und die ist nicht sonderlich berauschend, wenn es um vermisste Kinder geht.“
„Warum musst du immer alles schwarzsehen? Die meisten Kinder tauchen wieder auf.“
„Weil ich es als Mutter fühlen kann, verdammt noch einmal!“
Marlene machte eine ausholende Handbewegung und fegte die Kaffeetassen vom Tisch. Kleine braune Kaffeelachen breiteten sich zwischen den Scherben aus. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihren Körper und sie eilte in das Badezimmer.
„Papa, streitet ihr wieder?“
„Komm her mein Mäuschen.“ Frank hob seine Tochter hoch und strich ihr liebevoll durch die blonden Locken.
„Seid ihr wegen Marie traurig?“
„Ja, das sind wir.“ Er drückte Mia fest an sich. „Aber die Polizei wird sie finden, da bin ich mir ganz sicher.“
Tag für Tag verging ohne eine positive Nachricht über den Verbleib ihrer gemeinsamen Tochter. Inzwischen begann auch Franks fester Glaube zu bröckeln, dass Marie wohlbehalten zu ihnen zurückkehren würde.
In ihrer grenzenlosen Verzweiflung hatten sie in der näheren Umgebung Flugblätter verteilt und in den sozialen Netzwerken einen Hilferuf gestartet. Doch brauchbare Ergebnisse waren ausgeblieben. Auch ihre Ehe schien die ersten Risse davonzutragen. Jeder driftete in eine andere Richtung, aus dem vorherrschenden Wir wurde ein einsames Ich.
Während sich Frank nach und nach mit dem Unvermeidlichen abfand, begann für Marlene die eigentliche Suche. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich sogar an ein Medium. Diese Frau hatte ihr glaubhaft versichert, dass Marie noch am Leben sei, dass sie nur entführt wurde, um einem höheren Zweck zu dienen.
Marlene klammerte sich an diesen Strohhalm, was Frank überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Sie stritten sich nur noch, bis die Fetzen flogen, und selbst eine Paartherapie konnte die tiefen Risse nicht mehr kitten. Frank wollte damit abschließen, wollte wieder nach vorn schauen. Auch er litt Höllenqualen, sobald er an Marie dachte, aber er brauchte seinen inneren Frieden.
Fünf Jahre später kam es zur Trennung.
Während Marlene einsam zurückblieb, verliebte sich Frank neu. Die Hochzeit mit Juliane, die darauffolgende Schwangerschaft, alles ging so rasend schnell. Diesen Umstand konnte sie ihm nie verzeihen. Die Suche nach Marie war für sie zur Obsession geworden.