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Kapitel 4

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Marlene saß mit Elena, ihrer besten Freundin, auf der Terrasse. Das Sonnensegel spendete Schatten und die Luft war geschwängert vom betörenden Blumenduft der zahlreichen Rabatten.

Elena nippte an ihrem alkoholfreien Drink. „Ein Paradies hast du dir hier erschaffen, ich kann es nicht oft genug betonen. Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich jeden Tag in deinem Garten verbringen.“

„Und was nützt mir das? Anfangs habe ich daran festgehalten, weil Marie die Blumen so liebte, aber inzwischen bin ich der vielen Arbeit kaum noch gewachsen. Die Hoffnung schwindet, sie je wiederzusehen, und ich frage mich, ob das Ganze überhaupt noch einen Sinn macht?“ Marlenes Blick wurde dunkel.

„Willst du endgültig aufgeben?“, fragte Elena vorsichtig.

„Nein, aber ich habe das Gefühl, mich immer tiefer hineinzureiten. Franks Vorwürfe haben mich schwer getroffen. Ich hatte wirklich angenommen, dass Mia den Vormittag in der Schule verbringt.“

„Wer kann es dir verübeln, ich würde schließlich genauso handeln. Frank hat sich eindeutig für den leichteren Weg entschieden, aber Männer ticken halt anders. Seine neue Familie hält ihn auf Trab und vertreibt die bösen Gedanken, mit denen du dich herumquälen musst.“

„Es tut mir gut, dass du wenigstens Verständnis aufbringst.“ Dankbar legte Marlene ihre Hand auf Elenas Schulter.

„Ich muss dich etwas fragen und ich hoffe, dass du mir darauf eine ehrliche Antwort gibst.“ Elenas Stimme hatte einen ernsten Ton angenommen. „Bist du nach wie vor der festen Überzeugung, dass Marie lebt?“

„Die Träume von ihr sind so intensiv, sie verblassen einfach nicht. Ich meine, nach all den Jahren müssten sie sich doch abschwächen?“

„Vielleicht willst du einfach nicht loslassen?“

„Das mag wohl zutreffen.“ Marlene schluckte. „Mehr als einmal habe ich schon darüber nachgedacht, ob ich meinen Kummer nicht indirekt auf Mia übertrage.“

„Wie meinst du das?“, hakte Elena nach.

„Es ist schwer zu erklären.“ Marlene holte tief Luft. „Mia verschließt sich mir aus irgendeinem Grund, den ich nicht nachvollziehen kann. Sie träumt viel intensiver von Marie und du weißt ja, was über die Bindung von eineiigen Zwillingen behauptet wird. Hin und wieder frage ich natürlich nach, aber sie weicht mir aus. Es ist schwierig für Mia, gar keine Frage, aber manchmal wünsche ich mir, dass sie zu Marie eine Verbindung aufbaut und vielleicht träumt, wo sie steckt.“

Elena suchte ihren Blick. „Hast du je darüber nachgedacht, einen Privatdetektiv einzuschalten?“

„Selbstverständlich! Das Ganze ist nur an Franks Dickkopf gescheitert. Es hat einige Pannen bei der Suche nach Marie gegeben, die sich weder die Polizei noch Frank eingestehen wollten. Nur eine Woche später wurde ein weiteres Zwillingsmädchen entführt und man konnte ja wohl kaum von einem Einzelfall sprechen. Sicher, die Orte lagen fünfhundert Kilometer auseinander, aber für mich war das definitiv eine heiße Spur, der niemand nachgegangen ist. Zumindest nicht mit dem nötigen Ehrgeiz.“

„Und wie denkst du momentan über die Sache?“

„Elena, ich habe doch schon erwähnt, dass wir damals einen Fehler begangen haben.“

„Das meine ich nicht. Warum engagierst du keinen Privatdetektiv?“

Marlene schnaubte belustigt. „Wovon soll ich den denn Bitteschön finanzieren? Ich hätte da noch ein paar Hosenknöpfe im Angebot. Aber jetzt mal im Ernst, Frank muss mir nichts mehr zahlen, weil ich allein für meinen Unterhalt sorge. Aber es reicht gerade so, um über die Runden zu kommen. Sämtliche Ersparnisse sind aufgebraucht, da am Haus ständig Reparaturen anfallen. Ich müsste mich an Mias Sparbuch vergreifen, und das wäre ein riesiger Vertrauensbruch.“

„Wie wäre es mit einem Kredit? Könnten dir deine Eltern vielleicht unter die Arme greifen?“

„Nimm es mir nicht übel Elena, wenn ich mich wundere, aber wieso kommst du ausgerechnet heute auf dieses Thema zu sprechen?“

„Eine Kollegin von mir kennt einen Detektiv, der ihre verschollen geglaubte Tochter wieder aufgespürt hat. Das Mädchen war vor zwei Jahren von zu Hause ausgerissen und hat in Berlin auf der Straße gelebt. Seine Erfolgsquote ist überdurchschnittlich hoch.“

„Ich weiß nicht so recht. Was, wenn Frank recht behält und ich mich wieder einmal in eine Sache verrenne? Die Enttäuschung würde ich nur schwer verkraften.“

„Das mag wohl sein. Aber möchtest du dich weiterhin Tag für Tag mit der Frage quälen, was mit Marie geschehen sein könnte? Du bist immer noch eine attraktive Frau und verwehrst dir seit Jahren das Glück durch dein Singledasein.“

„Ich will Mia keinen Stiefvater vor die Nase setzen, sie hatte unter unserer Scheidung schon genug zu leiden.“

„Aber ich merke doch, wie sehr dir eine starke Schulter zum Anlehnen fehlt und wie traurig du frisch verliebten Pärchen hinterher schaust“, beharrte Elena.

„Ertappt.“ Marlene lächelte schüchtern.

Elena legte eine Visitenkarte auf den Tisch und schob sie mit zwei Fingern zu ihr hinüber. „Für deinen inneren Frieden. Ich wünsche mir von Herzen, dass er eine Spur findet, und vielleicht sollten wir beide ganz fest an ein Wunder glauben.“

Zaghaft griff Marlene nach der Karte und las die geschwungene Schrift. Thomas Fields, Privatdetektiv.

„Ich muss erst einmal darüber nachdenken und wenn ich mich dafür entschieden habe, werde ich Mia einweihen.“

„So ist es richtig.“ Elena hielt ihr leeres Glas hoch. „Also wenn du noch so einen leckeren Drink hättest, ich wäre dabei ...“


Seit zwei Tagen grübelte Marlene, ob sie sich mit dem Privatdetektiv treffen sollte. Ihr Herz schrie förmlich danach, doch ihr Verstand fürchtete sich vor den Konsequenzen. Die Visitenkarte war schon völlig zerknittert. Ständig nahm sie die Karte in die Hand und drehte und wendete sie nervös zwischen ihren Fingern.

Mia hatte sich wieder einmal in ihrem Zimmer verbarrikadiert, um mit ihrem neuen Freund zu skypen. Marlene war der Neue noch nicht vorgestellt worden und sie war gespannt, in wen sich ihre Tochter diesmal unsterblich verliebt hatte.

Nervös schritt sie auf und ab, um sich gleich darauf wieder zu setzen. Schließlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie lief in die obere Etage und klopfte zaghaft an Mias Zimmertür.

„Jetzt komm schon rein, Mama.“

Die Tür schwang einen Spaltbreit auf und Marlene steckte den Kopf ins Zimmer. „Nanu, ich dachte, du wolltest mit deinem Freund reden?“, fragte sie verwundert.

„Schön wär’s. Seine Eltern machen ihm Druck, damit er fürs Abi lernt“, entgegnete Mia.

„Tja, was soll ich dazu sagen? Ich schlage mich natürlich auf die Seite der Eltern.“ Ein warmherziges Lächeln umspielte Marlenes Lippen, dann wurde ihr Blick wieder ernst. „Ich denke, wir müssen uns über eine wichtige Sache unterhalten“, wagte sie einen Vorstoß.

„Mama, das mit den Blümchen und Bienchen hatten wir doch schon.“

„Du machst es mir nicht gerade leicht.“ Marlene griff nach der Hand ihrer Tochter und drückte sie sacht.

„Ist etwas mit Papa passiert?“, fragte Mia betroffen.

„Nein, nichts dergleichen.“ Eine zarte Röte zeigte sich auf Marlenes Wangen. „Elena hat mir die Adresse eines hervorragenden Privatdetektivs gegeben.“

„Was willst du denn mit dem? Will sie dich wieder verkuppeln?“

„Um Gottes willen Mia, wo denkst du denn hin!“ Entrüstet sah sie ihre Tochter an. „Es geht um Marie.“

„Und was soll dieser Detektiv richten können? Die Polizei hat doch schon alles unternommen? In der Realität ziehen dir diese Typen das Geld aus der Tasche und in Büchern torkeln sie meist sturzbetrunken durch die Gegend.“

„Und du weißt natürlich genauestens darüber Bescheid, weil du so belesen bist, nicht wahr?“

„Ach Mama ...“ Mia rollte genervt mit ihren Augen.

„Bitte Mia, ich muss dich das fragen.“ Marlene atmete noch einmal tief ein. „Du träumst doch auch von Marie, und widersprich mir bitte nicht. Wie erscheint sie dir in deinen Träumen, gibt es da eine Verbindung zwischen euch?“

„Du weißt doch ganz genau, wie ungern ich darüber spreche.“

„Aber warum? Was ist so schlimm daran?“

„Ich will keine falschen Hoffnungen wecken, denn ich weiß genau, wie Papa auf das Thema reagiert. Ich hasse es, wenn ihr euch streitet.“

„Aber es ist wirklich wichtig für mich. Wenn der Detektiv keine Spur findet, dann kann ich nach all den Jahren endlich abschließen. Denkst du, ich spüre nicht, wie sehr dich das belastet? Du bist meine Nummer eins, aber manchmal habe ich trotzdem das Gefühl, dass Marie zwischen uns steht. Das soll sich endgültig ändern.“

Marlene stand auf und lief zum Fenster. „Ich möchte in unserem Garten eine kleine Feier veranstalten und Familie und Freunde dazu einladen. Mit Himmelslaternen und all unseren guten Wünschen möchte ich Marie Lebewohl sagen. Wir werden in alten Fotos stöbern, uns erinnern und Abschied nehmen.“

In Mias Augen glitzerten Tränen. „Mama, das ist die beste Idee, die du je hattest.“

„Danke, mein Schatz.“

Mutter und Tochter lagen sich in den Armen.

„Du kannst mein Sparbuch plündern“, flüsterte Mia ihrer Mutter ins Ohr. „Aber wehe, dieser Kerl rührt auch nur einen Tropfen Alkohol an.“

Marlene lachte unter Tränen. „Ich bin so stolz auf dich, danke für dein wirklich großzügiges Angebot. Aber mach dir bitte keine Sorgen, ich habe schon mit meiner Bank gesprochen, um einen Kredit aufzunehmen.“

„Dann vereinbare einen Termin und triff dich mit diesem Detektiv.“

„Das werde ich tun, Liebes. Und es würde dir übrigens nichts schaden, wenn du deine Nase mal wieder in ein Schulbuch steckst.“

„Typisch Mütter“, maulte Mia.

„Typisch Töchter“, erwiderte Marlene erleichtert.

Zwillingsschmerz

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