Читать книгу Aufwachstory - Anatol Flug - Страница 6
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Es waren ungewöhnlich viele Leute auf der Straße. Einige wollten wohl nicht gleich den ganzen Abend zu Hause bzw. in ihren Zimmern oder Apartments bleiben mit der Aussicht, die ganze Zeit im Dunkeln oder bestenfalls im Kerzenschein zu sitzen. Die Öffentlichkeit hatte in dieser Situation aber auch etwas Anziehendes, man fühlte sich in der Menge irgendwie doch sicherer. Es gab ja nicht wirklich Gefahr, aber man konnte ein wenig sehen, wie die anderen mit der Situation umgingen, und vielleicht gab es ja auch neue Informationen.
Die kleinen Gasthäuser und Restaurants hatten sich schon auf die Situation eingestellt – alle Kerzen zusammengetragen, die sie kriegen konnten, die Getränke in kaltem Wasser so gut wie möglich gekühlt, eine einfache Fischsuppe oder ein kleines Fleischgericht am Propangasherd zubereitet.
Die aus den Gasthäusern scheinende Kerzenbeleuchtung war auch die einzige Lichtquelle in den Gassen. Die Atmosphäre hatte etwas Gespenstisches, weil einerseits alle Leute auf der Straße waren, als wäre heute der wichtigste Festtag des Jahres. Gleichzeitig war es sehr ruhig, weil alle sehr bedächtig gingen, um nicht im fast vollständigen Dunkel über eine kleine Unebenheit oder über einen der ansonsten den Straßenrand säumenden Gegenstände – von kleinen Tischchen, Sesseln für die Siesta im Schatten bis zu Maurerkübeln – zu stolpern.
Ich hatte mir in einer Bar eine Flasche Bier gekauft, für eine Weile die Leute beobachtet und ging nun etwas in Gedanken versunken und gleichzeitig langsam und vorsichtig in Richtung der kleinen Strandpromenade, die eigentlich nur ein Sträßchen war, an dem es ein Gasthaus und zwei kleine Cafés gab.
Ich hatte den Stromausfall bemerkt, als ich am späteren Nachmittag vom Strand zurück in mein Zimmer kam und mein Mobiltelefon – meine einzige Uhr – an das Ladegerät anschloss, bevor ich in die hinter dem Kasten etwas versteckte improvisierte Dusche stieg. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass das zu so einem kleinen Ausnahmezustand führen könnte, und erinnerte mich erst langsam wieder daran, als ich mich beim Spaziergang durchs Dorf wunderte, dass die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet wurde, und ich die ersten nur durch Kerzen beleuchteten Gasthäuser sah. Das Gerücht mit den 24 Stunden, das ich bald darauf aus der Unterhaltung eines englischen Tourist*innenpaares aufschnappte, beunruhigte mich dann ein wenig. Falls die Dunkelheit wirklich die Nacht über andauerte, wusste ich nicht recht, wie ich zurück in mein Zimmer kommen und dort zu Bett gehen könnte. Ich hatte mich nicht rechtzeitig darum gekümmert und es sah auch nicht so aus, als ob man im Dorf noch irgendwo eine Taschenlampe oder andere windsichere Lichtquelle bekommen konnte. Der Weg zurück führte in einem Bogen am kleinen Sandstrand vorbei und ich hatte in den zwei Tagen, die ich jetzt hier war, nach dem Strand immer eine Abkürzung über ein paar Felsen genommen und konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo der ebene Weg verlief. Wenn ich das mit Hilfe des sehr matten Mondlichts schaffte, hatte ich auch im Zimmer dann kein Licht, und mein Verhältnis zu den Vermieter*innen war auf ein wenig Smalltalk bei der Anmeldung beschränkt geblieben und nicht wirklich die Voraussetzung, um sie in der Nacht zu wecken und nach einer Taschenlampe zu fragen. Sollte ich doch für die alte Holzhütte eine Kerze klauen?
Ich hatte also das Bedürfnis, den Moment, an dem ich beschließen würde müssen, dass ein Einschalten des Stroms nicht mehr zu erwarten war und ich mich im Dunkeln auf den Heimweg machen müsse, so weit wie möglich hinauszuschieben und hatte mir – man schätzt da auch die Zeit falsch ein, es war gerade erst zweiundzwanzig Uhr – noch ein Bier gekauft.
Die Atmosphäre war sehr angenehm. In der ungewöhnlichen Situation waren die Leute emotional näher aneinandergerückt, das vorsichtige leise Gehen in der Dunkelheit, die weichen Konturen der Schatten, das Ineinanderfließen der fast flüsternden Stimmen. Zum ersten Mal in den zwei Tagen fühlte ich mich nicht ausgeschlossen. Dazu die Meeresluft und das leise Rauschen des Ozeans, als ich an der Strandpromenade ankam. Ich ging ein paar Schritte auf die Kaimauer hinaus. Der kühle Wind war sehr angenehm, der Ozean wirkte nicht dunkler als die Straßen und Häuser. Ich ging in die Hocke, setzte mich leicht auf meine Fersen, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, und sah auf den Ozean hinaus. Und plötzlich war die Einsamkeit wieder da, die Illusion zusammengebrochen, und die Melancholie kam um vieles verstärkt wieder zurück. Ich weiß nicht, wie lange ich dort so hockte. Ich hatte das Bier ausgetrunken und die leere Flasche am Kai abgestellt. Der Kopf, der Blick hatte sich zu Boden gesenkt. Irgendwann hatte ich wohl auch die Augen geschlossen, vielleicht sogar geweint. Als ich mich zum Dorf zurückdrehte, waren wieder Lichter zu sehen, die Straßenbeleuchtung, noch eine Bar, in der aufgeräumt wurde, die Gassen ansonsten menschenleer. Ich machte mich auf den Heimweg.