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Szene 2: Das Huhn
ОглавлениеMUTTER GASCOYNE
Victor?
VICTOR
Ja, Mama?
MUTTER GASCOYNE
Du bist schon wieder ohne Schal außer Haus gegangen.
VICTOR
Ja, Mama.
MUTTER GASCOYNE
Eines Tages wirst du noch deinen Kopf irgendwo liegen lassen.
VICTOR
Ja, Mama. Verzeih bitte.
MUTTER GASCOYNE
Du weißt, wie empfindlich deine Gesundheit ist.
VICTOR
Ja, Mama. Verzeih bitte. (will abgehen, zögert) Mama?
MUTTER GASCOYNE
Ja?
VICTOR
Benjamin hat gesagt, wir können nicht adelig sein, weil wir kein Schloss haben. Sind wir adelig?
MUTTER GASCOYNE
Aber ja, mein Junge.
VICTOR
Wo ist dann unser Schloss?
MUTTER GASCOYNE
Victor, ganz gleich, was die anderen sagen: Wir sind aus dem Hause Gascoyne, einer der ältesten englischen Adelsfamilien. Doch die Familie des Grafen Gascoyne hat es mir nie verziehen, dass ich mich in deinen Vater verliebte und ihn geheiratet habe. Und als er dann viel zu früh von uns ging, waren wir auf uns allein gestellt. So leben wir nun statt in einem Schloss in diesem Haus und haben statt eines Butlers einen Untermieter.
VICTOR
Was hatten sie gegen Papa?
MUTTER GASCOYNE
Nun ja … weißt du, er war ein einfacher Musiker.
VICTOR
Aber Papa war doch ein berühmter schottischer Dudelsackspieler im Londoner Symphonie-Orchester!
MUTTER GASCOYNE
Nicht ganz. Er war –
Ein Mexikaner mit großem Mexikanerhut und Guitarrón wird sichtbar.
MEXIKANER
(spielt und singt mexikanisch) La cucaracha, la cucaracha, Ya no puede caminar; Porque no tiene, porque le faltala patita principal!
VICTOR
Papa war Straßenmusiker?
MUTTER GASCOYNE
Er war begnadet, mein Junge!
MEXIKANER
Olé!
MUTTER GASCOYNE
(aus dem Bauch) Begnadet.
VICTOR
Ein Mexikaner?
MUTTER GASCOYNE
Von ihm hast du deine schönen, schwarzen Locken. (seufzt) Doch seit seinem Tod ist ein Huhn an Feiertagen wie heute ein äußerst rarer Leckerbissen.
VICTOR
(zum Henker) Verstehen Sie mich nicht falsch: Unnötige Grausamkeit hat mich schon als Kind abgestoßen. Doch dabei zuzusehen, wie meine Mutter ein Huhn schlachtete, und zu beobachten, wie lange es sich noch rührt, war ein Schauspiel, das seine Wirkung auf meine empfängliche Kinderseele nicht verfehlte.
HENKER
Auch Benjamin schaute mir immer gerne bei der Arbeit zu.
MUTTER GASCOYNE
Was ist der Unterschied zwischen einem toten, gerupften Huhn und einem lebendigen, Victor?
VICTOR
Das tote, gerupfte ist einen Sixpence mehr wert als das lebendige, Mama.
MUTTER GASCOYNE
Was machen wir daher?
VICTOR
„Seine Seele befreien“, Mama?
MUTTER GASCOYNE
Ganz recht.
HENKER
Jetzt wird’s spannend. War die Schneide auch schön scharf?
VICTOR
Mutters Beil war unter den Hühnern das gefürchtetste in ganz Clapham. Benjamin und ich feuerten Mutter an.
HENKER
Ganz der Papa …
VICTOR
Und ssssst – war der Kopf ab.
HENKER
Feine Sache, das.
VICTOR
Doch dann: Im Augenblick des Todes kam nochmal Leben in das Huhn. Kopflos stieg es Meter um Meter in die Höhe, der vermeintlichen Freiheit entgegen, um im nächsten Augenblick –
(Aus dem Schnürboden fällt der Mutter pfeifend ein Huhn in den Schoß. Sie beginnt es zu rupfen.)
Sinnlos, aber unterhaltsam. Ich habe mich oft gefragt, was wohl dem Kopf währenddessen durch den Kopf geht –