Читать книгу "Die Rheinnixen" contra "Tristan und Isolde" an der Wiener Hofoper - Anatol Stefan Riemer - Страница 7
ОглавлениеVorrede
Auch gut 200 Jahre nach Jacques Offenbachs Geburtstag am 20. Juni 1819 ist die Forschung zu Richard Wagners deutsch-französischem Antipoden des Musiktheaters des 19. Jahrhunderts noch immer geprägt von einem Übergewicht an Untersuchungen zu seiner Biographie und zu den Libretti seiner Opern. Genuin musikwissenschaftliche Ansatzpunkte, wie beispielsweise quellenkritische Studien oder die analytische Beschäftigung mit Offenbachs Musik, sind deutlich unterrepräsentiert.1 Dies liegt zum einen in der überwiegend desolaten Quellenlage begründet, zum anderen in dem mangelnden Interesse der Musikwissenschaft an der – vornehmlich mit Blick auf Harmonik und Satztechnik – vermeintlich anspruchslosen musikalischen Sprache Jacques Offenbachs.
Die Ausnahme von der Regel bilden Les Contes d’Hoffmann (1881): Das häufig als »einzige ernsthafte Oper« Offenbachs interpretierte Spätwerk findet seit jeher in der musikwissenschaftlichen Forschung besondere Beachtung – und dies trotz oder gerade wegen seiner ausgesprochen komplizierten Quellenlage. Die gewonnenen analytischen Erkenntnisse werden jedoch in der Regel nicht auf das übrige Schaffen Offenbachs übertragen, sondern als Alleinstellungsmerkmal von Offenbachs Opéra fantastique geradezu konserviert. Egon Voss weist wiederum darauf hin, dass zahlreiche Elemente von Offenbachs Opéras bouffes in Les Contes d’Hoffmann Eingang gefunden haben und sich die Materialverwandtschaften über die Opéras comiques bis hin zur Großen romantischen Oper Die Rheinnixen (1864) erstrecken.2 Peter Hawig prognostiziert:
»Kluge Kenner des offenbachschen Œuvres haben schon immer dem kitschig-vordergründigen Versuch widersprochen, Offenbachs sogenannte ›Operetten‹ von Hoffmanns Erzählungen zu scheiden. Würde man den Beweis musikwissenschaftlich endlich einmal antreten wollen, einen einheitlichen Kompositionsstil Offenbachs zu verifizieren, man würde sicherlich Erfolg haben.«3
Die vorliegende Publikation setzt an dieser Stelle an. Sie hat zum Ziel, anhand ausgewählter analytischer Betrachtungen einen Beitrag zur Definition stilistischer Merkmale von Offenbachs Kompositionstechnik zu leisten und damit eine nach wie vor bestehende Forschungslücke zu verkleinern.
Als Ausgangspunkt hierfür bieten sich die am 4. Februar 1864 an der Wiener Hofoper uraufgeführten Rheinnixen in besonderem Maße an: Der Umfang einer Großen Oper erlaubt es Offenbach, bestimmte kompositorische Techniken – wie beispielsweise die Erinnerungsmotivik – erheblich intensiver einzusetzen, als es in seinen Opéras bouffes und erst recht in den einaktigen Opérettes formbedingt möglich wäre.4 Des Weiteren lässt sich gerade in der Großen romantischen Oper mit ihrer signifikanten Stilmischung Offenbachs Verwendung von Elementen der Opéra comique, der Grand Opéra, der Féerie sowie der Romantischen Oper auf engstem Raum nachvollziehen und deren gegenseitige Durchdringung sichtbar machen.5 Und schließlich können von den Rheinnixen ausgehend Querbezüge in das übrige Schaffen in einem Umfang nachgewiesen werden wie bei kaum einem anderen Werk Offenbachs.
Die Rheinnixen verdrängen Richard Wagners »Handlung in drei Aufzügen« Tristan und Isolde, deren Uraufführung wegen der Überforderung des für die Titelpartie vorgesehenen Tenors Alois Ander (1821–1864) nach 77 Proben im Jahr 1863 endgültig abgesagt wird, vom Spielplan der ersten Bühne Österreichs. Wagner muss sich schließlich noch zwei weitere Jahre gedulden, bis sein bereits 1859 vollendetes Werk am 10. Juni 1865 in München uraufgeführt werden kann. Mit den Rheinnixen und mit Tristan kreuzen sich in den Jahren 1863/1864 nicht nur die musikalischen Lebenswege von Offenbach und Wagner an einem der weltweit führenden Opernhäuser. Offenbachs Große romantische Oper beschreibt auch denjenigen Punkt in seinem Schaffen, der sich – freilich ohne dies zu intendieren – am stärksten der musikalischen Sprache in den Romantischen Opern Richard Wagners bis zum Tristan annähert.
Zur Hinführung an den analytischen Hauptteil des Buches wird zunächst die dreiteilige Untersuchung Zum Verhältnis Offenbach – Wagner (Kapitel 1) vorangestellt: Im ersten Schritt kommen Stimmen aus der Literatur zu einzelnen Aspekten der Beziehung der beiden Komponisten zueinander zu Wort, die hinsichtlich musikalischer Fragestellungen vom Allgemeinen zum Besonderen angeordnet sind. Anschließend folgt eine Auswahl der in den schriftlichen Zeugnissen von Offenbach und Wagner enthaltenen Äußerungen über den jeweils anderen Musikdramatiker. Einer dieser unmittelbaren Berührungspunkte dient schließlich als Ausgangsbasis für die Beschreibung der Ereignisse um die Absetzung von Tristan und Isolde und der Uraufführung der Rheinnixen an der Wiener Hofoper, die sowohl für Richard Wagner als auch für Jacques Offenbach besondere Bedeutung besitzen und anhand dessen sich verschiedene Aspekte des Verhältnisses der beiden Antipoden pointiert herausarbeiten lassen.
Daran schließt sich der ebenfalls dreiteilige Abschnitt Zur Analyse von Offenbachs Musik (Kapitel 2) an: In der »Problemstellung« werden die Umstände skizziert, die zu einer Vernachlässigung der analytischen Beschäftigung mit Offenbachs Musik in der Fachwelt geführt haben und die insbesondere auch für die Rezeption der Rheinnixen ausschlaggebend waren. Hieraus wird der gemeinsame Ausgangspunkt für die im Hauptteil der Arbeit zusammengeführten Einzelstudien abgeleitet. Es folgt ein »Literaturüberblick«, der in drei Stufen den Stand der Forschung zunächst im Allgemeinen, dann bezogen auf die Kompositionstechnik Offenbachs sowie schließlich zu den Rheinnixen beschreibt. Der letzte Abschnitt »Methodisches Vorgehen« besteht aus einer kurzen Beschreibung des analytischen Verfahrens sowie dessen spezifischen Anpassungen, die mit Blick auf die verschiedenen Fragestellungen in den vier folgenden Einzelstudien vorgenommen werden.
Diese befassen sich zum einen mit den technischen Aspekten der Erinnerungsmotivik (Kapitel 3) sowie der Chorbehandlung in den Rheinnixen (Kapitel 4). Zum anderen wird die Rollendarstellung der »Bösewichte« (Kapitel 5) in verschiedenen Werken Offenbachs untersucht sowie das Verhältnis und die Wechselwirkung von Parodistischem und Wahrhaftigem (Kapitel 6) seiner Musiksprache herausgearbeitet.
Im abschließenden Resümee und Ausblick (Kapitel 7) werden die durch die Analyse der Bühnenwerke Offenbachs gewonnenen Ergebnisse nochmals zusammengefasst und Ansatzpunkte für mögliche weitergehende Studien aufgezeigt.
Die Kapitel 2–5 sowie Kapitel 7 entstammen der 2019 im Fachbereich 2, Lehrämter, Wissenschaft und Komposition der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main angenommenen kumulativen Inauguraldissertation »Ausgangspunkt Rheinnixen. Untersuchungen zur Kompositionstechnik Jacques Offenbachs«. Für die vorliegende Publikation wurde das Kapitel Zum Verhältnis Offenbach – Wagner neu verfasst und zudem der Aufsatz Parodie und Wahrhaftigkeit hinzugefügt. Die vier analytischen Studien (Kapitel 3–6) wurden bereits zuvor an verschiedenen Orten einzeln publiziert. Um ihren eigenständigen Charakter und die thematische Abgeschlossenheit beibehalten zu können, lassen sich im vorliegenden Buch vereinzelt auftretende inhaltliche Überschneidungen nicht vermeiden.
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Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Peter Ackermann, der mich mit dem weit über hundert Einzelwerke umfassenden Bühnenschaffen Jacques Offenbachs vertraut gemacht hat, sowie dem Zweitbetreuer der Dissertation, Prof. Dr. Matthias Brzoska, auf den maßgeblich mein Interesse für das französische Musiktheater des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Das vorliegende Buch hätte zudem ohne die zahlreichen inhaltlichen Anregungen und Hilfestellungen des Offenbach-Kenners Dr. Peter Hawig nicht verfasst werden können, wofür ich ihm herzlich danken möchte. Für die Unterstützung bei der Sichtung von Quellenmaterial sowie für die Erlaubnis zur Verwendung zahlreicher Notenbeispiele in Kapitel 3 bedanke ich mich sehr bei Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes / Bote & Bock, Berlin ebenso wie bei Dr. Ann Kersting-Meuleman von der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main für die Genehmigung zum Abdruck mehrerer Auszüge aus dem Partiturautograph der Rheinnixen. Großer Dank gebührt zudem Dr. Ulrich Brand, dem Herausgeber der Bad Emser Hefte, für die Erlaubnis zum Wiederabdruck der Aufsätze zur Chorbehandlung, zu den »Bösewichten« und zu Parodie und Wahrhaftigkeit sowie dem Verleger Burkhard Muth für die Genehmigung zur Wiederverwendung des Textes zur Erinnerungsmotivik im vorliegenden Kontext. Für nützliche thematische und konzeptionelle Hinweise, für die Durchsicht der Texte sowie für weitere unverzichtbare Unterstützung jeglicher Art danke ich Lisa Sophie Beck, Prof. Christopher Brandt, Prof. Dr. Albert Gier, Dr. Alexander Grün, Prof. Dr. Hermann Hofer, Prof. Ernst August Klötzke, Prof. Angelika Merkle, Suzanne Reeber, Laure Reßing, Bernhard und Christa Riemer, Ute Christina Riemer, Prof. Christoph Schmidt, Dr. Dieter David Scholz, Dr. Ralf-Olivier Schwarz, Prof. Dr. Alfred Stenger, Prof. Susanne Stoodt sowie Laura Annemarie Weinhofer.
Dass die vorliegende Arbeit als Band 3 der Frankfurter Wagner-Kontexte erscheinen und damit einer der Berührungspunkte zwischen Offenbach und Wagner fokussiert dargestellt werden kann, ist auf das große Engagement und auf die Weitsicht von Dr. Sven Hartung und Dirk Jenders aus dem Vorstand des Richard-Wagner-Verbandes Frankfurt am Main e. V. zurückzuführen. Ihnen, dem Richard-Wagner-Verband Frankfurt am Main sowie Tamara Kuhn vom Tectum Verlag danke ich vielmals für die zuteilgewordene Unterstützung.
Frankfurt am Main, im Juli 2020
Anatol Stefan Riemer
1 Vgl. hierzu beispielsweise die Feststellung von Robert Didion: »Zwar wurde viel geduldiges Papier mit Meinungen zu Jacques Offenbach bedruckt, aber nur wenige Autoren unternahmen den ernsthaften Versuch, Offenbachs Musik zu analysieren.« (siehe ders., »À la recherche des Contes perdus. Zur Quellenproblematik von Offenbachs Oper«, in: Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen. Konzeption – Rezeption – Dokumentation, hrsg. von Gabriele Brandstetter, Laaber 1988 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, 9), S. 131–292, hier S. 174 f.) oder den Befund von Michael Klügl mit Blick auf Orphée aux Enfers (1858): »[Dieses Werk] ist zugleich das vielleicht bedeutendste Beispiel für die Divergenz zwischen der Wirkung einer Komposition und deren musikwissenschaftlicher Beachtung. Eine ergiebige Analyse des Orphée existiert bislang nicht« (siehe ders., »Zweimal Orphée«, in: Jacques Offenbach und seine Zeit, hrsg. von Elisabeth Schmierer, Laaber 2009, S. 221–237, hier S. 221). – Vgl. mit Blick auf das Werk Richard Wagners hierzu auch Carl Dahlhaus, »Die Musik«, in: Richard-Wagner-Handbuch, unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hrsg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 197–221, hier S. 221: »Die Musiktheorie ist Wagner – immer noch – Entscheidendes schuldig geblieben und zusammen mit der Theorie auch die Geschichtsschreibung, die ständig und nahezu zwangshaft dazu neigt, dem Musikalischen, durch das ›der Rest‹ überhaupt erst Bedeutung erhielt, bei der Analyse und Interpretation auszuweichen, als wäre das, worauf es in der Wirklichkeit ankommt, für die Reflexion eine Verlegenheit, der sie aus dem Wege zu gehen sucht.«
2 Egon Voss, »Der Realismus der phantastischen Oper ›Hoffmanns Erzählungen‹«, in: Jacques Offenbach. Hoffmanns Erzählungen. Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 9–36, hier S. 9 f. – Vgl. hierzu auch Laurent Fraison, »Exception ? Non: continuité !«, in: L’Avant-Scène Opéra: Les Contes d’Hoffmann, No 25, durchgesehene und aktualisierte Neuausgabe Paris 1993, S. 126–130. In der unter der No 235 im Jahr 2006 erschienenen revidierten Ausgabe ist dieser Aufsatz nicht mehr enthalten.
3 Siehe hierzu Peter Hawig, Die Kunst der Uneigentlichkeit. Jacques Offenbach und das Hoffmanneske, Bad Ems 2003 (Bad Emser Hefte, 230), S. 20.
4 Allgemeine Aussagen zu Offenbachs erinnerungsmotivischen Verfahren ohne Einbeziehung der gleichsam paradigmatischen Anwendung in den Rheinnixen müssen daher unvollständig bleiben.
5 Die Gattungsmischung, maßgeblich postuliert von E. T. A. Hoffmann, zählt bereits in der frühen Romantischen Oper zu deren »Grundkonstanten« (vgl. hierzu Thomas Betzwieser, »Spielarten der deutschen Opernästhetik um 1800. Denkfiguren im Spannungsfeld von Gattungsreflexion und Bühnenkonvention«, in: Oper im Aufbruch. Gattungskonzepte des deutschsprachigen Musiktheaters um 1800, hrsg. von Marcus Chr. Lippe, Kassel 2007 (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft, 9), S. 27–43, hier S. 29). Die Stilmischung in den Rheinnixen erreicht durch Offenbachs zusätzliche Verwendung typischer Form- und Strukturmodelle aus verschiedenen französischen Operngattungen eine besonders große Dimension.