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Erklärungen und Ketwurst

Berlin, 5. August 2014

»Slip und BH können wir erst mal bis auf Weiteres wieder weglassen, oder?«, fragte der Chef Beate, die dabei war, einen Wintermantel um die Schaufensterpuppe zu drapieren.

Kurzgeschichte von Ralf und Cora auf Passion and Joy

»Moin Steffi«, sagte Jan, als er kurz vor dem Mittagsansturm das Geschmackszentrum betrat. Obwohl er schon vor dem Mauerfall nach Berlin gezogen war, hatte er den Gruß, der überall in Norddeutschland zu jeder Tageszeit üblich war, nie abgelegt. Das Lebensmittelgeschäft für hochwertige regionale Produkte mit integriertem Imbiss gehörte Lisa und ihm. Sie betrieben es gemeinsam mit ihrer Angestellten Stefanie, genannt Steffi. »Wie geht es dir? Irgendwas Neues in Sachen Partner?«

»Hallo Jan«, antwortete die angesprochene schlanke Frau mit schulterlangen braunen Haaren, »du wirst es nicht glauben, aber ja, da gibt es neuerdings wieder einen Mann.«

»Ach, tatsächlich? Wie ist es denn dazu gekommen?«, fragte Jan ungläubig.

»Du tust ja beinah so, als ob es ein Wunder wäre oder so was«, sagte Steffi ein wenig eingeschnappt in ihrem fränkischen Akzent.

»Na ja, mein Informationsstand ist der Eklat in Herberts Asia Lounge mit dem Typen, der sein Besteck und die Gläser vor dem Essen desinfiziert hat«, erinnerte sich Jan und spielte auf ein Ereignis an, das zwei Monate zurücklag.

»Genau, und Lisa hat mir damals deutlich gemacht, dass ich möglicherweise falsch suche. Und das habe ich jetzt geändert«, sagte Steffi.

»Ach ja, und was hat sie dir geraten? Wo ist sie eigentlich?«, fragte Jan.

»Die ist nur kurz weg, weil sie Thomas Pumpe eine Ladung Bouletten vorbeibringt«, informierte Steffi ihren Chef.

»Seit wann sind wir denn Lieferservice? Das haben wir ja noch nie gemacht«, sagte Jan erstaunt.

»Stimmt, aber seine Baustelle ist um die Ecke. Und da hat sie ihm versprochen, das Catering kurz vorbeizubringen. Sie meinte, er sei einer der wenigen mit Sonderrechten«, erklärte Steffi stellvertretend für Lisa.

»Das ist allerdings richtig«, bestätigte Jan.

»Die hat er aber bisher nicht genutzt, oder ich habe das nicht mitbekommen?«, fragte sie.

»Nein, Thomas würde das nicht von sich aus anfragen, da bin ich sicher, obwohl er in der Vergangenheit eine Menge für uns getan hat. Daher kann ich Lisa schon verstehen«, sagte Jan.

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Das mag daran liegen, weil du erstens nicht alles wissen musst und es zweitens lange vor deiner Zeit hier war. Da ich aber erahne, dass du uns sowieso löchern wirst, kann ich es dir auch gleich erzählen«, versprach Jan, als die Ladentür aufging und zwei Kunden eintraten. Wie sich zeigte, waren es Mittagsgäste, und sie machten sich an die Arbeit. Kurz nacheinander kamen weitere Gäste, und an Unterhaltung war nicht zu denken. Lisa, die zwischenzeitlich wiedergekommen war, kümmerte sich um die Bistrotische draußen. Erst als gegen halb drei der Mittagsansturm verebbte, verabschiedete sich Steffi.

»Unsere Angestellte hat mir übrigens gesagt, dass du ihr Suchtipps für Männer gegeben hast«, stellte Jan förmlich fest.

»Ja, habe ich. Schließlich sollten wir uns um unsere Mitarbeiterin kümmern. Betriebsklima und so, weißt du?«, gab Lisa schlagfertig zurück. »Wie kommst du darauf?«

»Sie hat mir heute eröffnet, dass sie einen Mann gefunden hat, und das wiederum soll wohl maßgeblich mit Tipps von dir zu tun gehabt haben. Und da wollte ich genauer nachfragen, aber durch den Hochbetrieb bin ich nicht dazu gekommen«, erklärte Jan.

»Ich habe Steffi lediglich darauf hingewiesen, dass ihr Suchschema möglicherweise nicht ganz passend ist. Ich meine, sie ist alleinerziehend mit einem kleinen Kind. Das ist so ungefähr die schlechteste Ausgangsposition, um einen Partner zu finden«, führte Lisa aus.

»Das sehe ich genauso«, nickte Jan zustimmend.

»Und deshalb habe ich ihr angeraten, es vielleicht mal bei alleinerziehenden Männern zu versuchen, denn davon dürfte es hier vermutlich eine Menge geben. Und das hat sie wohl gemacht. Mehr weiß ich auch nicht dazu. Da musst du sie schon selbst fragen.«

In dem Moment öffnete sich die Ladentür, und herein kam ein mittelgroßer Mann mit blondem Stoppelhaarschnitt. Er hatte zwei Servierplatten dabei.

»Ach, der Herr Pumpe, ich habe bereits gehört, dass meine Frau jetzt Lieferservices für Handwerksbetriebe übernimmt«, wurde er von Jan begrüßt.

»Dit stimmt. Und weil sie dit so jekonnt jemacht hat, hab ick sie ooch jleich an meene Kollejen weiterempfohlen«, sagte der Angesprochene mit Berliner Akzent. Dabei grinste er so breit, dass seine Augen sich verengten und das Meerblau der Iris kaum noch erkennbar war. Die Lachfalten ließen sein Gesicht wie das Relief einer Tundra in einer sibirischen Modellbahnlandschaft erscheinen, »Du wirst dich wohl von ihr verabschieden müssen.«

»Nur über meine Leiche«, sagte Jan, »sie bleibt schön hier.«

»Jan, wem wäre genützt, wenn du tot wärst?«, fragte Thomas. »Aber Scherz beiseite. Ich wollte euch die Platten zurückbringen und Lisa noch mal ganz herzlichen Dank sagen. Ich hätte es heute nicht geschafft, die Bouletten abzuholen. Es war total stressig.«

»Habe ich wirklich gerne gemacht. Ist ohnehin eine Idee, über die wir mal nachdenken können, was meinst du Jan?«, fragte sie.

Bevor Jan antworten konnte, sagte Thomas Pumpe: »Und denn könnt ihr auch gleich Pferdewurst liefern.«

»Wie bitte?« Jan war verwirrt.

»Das habe ich Lisa schon mal vor drei oder vier Monaten vorgeschlagen, und sie meinte, dass ich das mit dir besprechen soll«, kam Thomas, dessen weit geöffnetes Hemd ausgeprägte Brustmuskeln und eine üppige blonde Behaarung erkennen ließen, auf eine Unterhaltung im April zurück.

»Du bist aber wirklich hartnäckig«, sagte Lisa und erinnerte sich an den Tag, als er ihr vorschlug, Pferdewurst zu verkaufen. Sie hatte mit Hinweis auf die Klientel im Prenzlauer Berg abgewunken und letztlich ausweichend gesagt, er möge das Jan vortragen.

»Moment, ich komme da gerade nicht mit. Können wir das mal strukturiert zusammenfassen? Es soll einen Lieferservice für Bouletten und einen für Pferdeprodukte geben?«, fragte Jan.

»Nee, ein Service für alles wäre ausreichend«, sagte Thomas.

»Na gut, darüber bin ich ja bereit nachzudenken, aber wo kommt jetzt die Pferdewurst her?«, wollte Jan wissen.

»Na ja, früher war das hier normal, da gab es Pferdeschlachter, und das Fleisch wurde auch gern gekauft«, erklärte Thomas, als Lisa ihn unterbrach.

»Und ich habe ihn lediglich darauf hingewiesen, dass wir hier im Prenzlauer Berg sind, wo vermutlich jedes Mädchen reitet. Daher müssten wir mit folgenden Konsequenzen rechnen: die Ächtung und damit einhergehend die Pleite des Ehepaars Lorenzen. Und sicher würde Nina kein Wort mehr mit uns reden und ausziehen«, fasste Lisa ihre Bedenken zusammen.

»Tja, mein lieber Thomas, und da hat sie absolut recht. Ich persönlich kann mir das zwar vorstellen, weil es das bei uns früher auch mal gab. Das war ja in Westdeutschland mit dem Rheinischen Sauerbraten nun so ungewöhnlich nicht, aber hier darfst du das getrost vergessen. Ich forciere doch vorsätzlich keine Pleite«, beschied Jan den Vorschlag abschlägig.

»Sehr schade, ich habe nämlich sogar schon einen Werbeslogan für euch. Wollt ihr mal hören?«

»Und was ist, wenn ich Nein sage?«, gab Lisa zurück.

»Ich erzähl ihn trotzdem«, verkündete er seinen Einfall, »und zwar – tata! Gestern geritten, heute geschnitten.«

Sie und Jan stutzten einen Moment und brachen dann in Gelächter aus.

»Pumpe, du bist ja noch wahnsinniger, als ich bisher angenommen hatte«, meinte Jan hin- und hergerissen zwischen Abneigung und Faszination.

»Hammer, oder?«, sagte Thomas vollkommen begeistert. »Das ist doch eingängig. Und ich habe übrigens auch schon weitergedacht.«

»Also, lass hören.« Jan wirkte leicht resigniert.

»Ihr wisst, dass das jetzt mit diese Foodtrucks immer mehr wird«, begann er mit seinem Businessplan, vorgetragen im zerkauten Berliner Akzent.

»Ja, das ist uns nicht entgangen«, stellte Lisa fest, »und auch die Streetfood-Festivals haben wir zur Kenntnis genommen.«

»Genau, nur ihr macht keinen Foodtruck, sondern einen Anhänger mit Küche und allem, was man so braucht drinnen«, sagte Thomas und kam in Fahrt. »Aber jetzt kommt der absolute Kracher. Das ist ein umgebauter Pferdeanhänger. Na, ist das ’ne gute Idee oder ist das ’ne gute Idee?«

Erneut konnten Lisa und Jan sich das Lachen nicht verkneifen.

»Und außen steht drauf, am besten so in Fünfziger-Jahre-Schrift und schräg: Gestern geritten, heute geschnitten, richtig? Vielleicht sollten wir dazu noch Bilder malen lassen von Pferden auf Weiden und kleinen Mädchen und Jungs mit Pausbacken, die darauf reiten«, schlug Jan vor, und er und Lisa brachen wieder in Lachen aus.

»Gar nicht schlecht, gar nicht schlecht«, stimmte Thomas Pumpe zu, »das hört sich doch nach einem Superplan an.«

»Ja, mag sein, wenn man das in einem Land macht, wo das Essen von Pferden heute noch zur Kultur gehört, dann würde ich der ganzen Sache sogar eine Chance geben, vielleicht nicht gerade mit den Bildern. Hier allerdings ist das die beste Möglichkeit, sich als Marktteilnehmer zu verabschieden«, erteilte Jan ihm die finale Absage. »Da du nun so viel Mühe aufgewandt hast, lade ich dich auf einen Kaffee ein, okay?«

»Den nehme ich gerne. Ich finde es ja nur schade, dass dadurch wieder ein Stück Osten weg ist«, sagte Thomas bedauernd.

»Ja, da stimme ich dir als Wendeteilnehmer der ersten Stunde zu, aber mal im Ernst, du bist ja nun nicht auf deine alten selbstständigen Tage zum Ostalgiker geworden, oder?«, fragte Jan, während er an der Kaffeemaschine zugange war.

»Nee, nee, ich gehör nun nicht zu denen, die der DDR Krokodilstränen nachweinen. Dazu haben wir wirklich zu viel Ärger mit unserem Betrieb zu Ostzeiten gehabt. Ist eben nur traurig, dass solche Sachen verschwinden«, sagte Thomas.

»Ich finde es auch schade, aber andererseits kommen ja einige wieder, wie zum Beispiel Ketwurst«, gab Jan zu bedenken.

»Ketwurst?«, fragte Lisa, »kenne ich gar nicht.«

»Die Ostantwort auf den Hotdog«, sagte Thomas, »kannste hier in der Nähe kaufen. Da ist ein Schlachter an der Greifswalder, der verkauft die seit ein paar Jahren wieder.«

»Und was ist das genau?«, fragte Lisa.

»Da wird eine Bockwurst in ein Brötchen gesteckt, das vorher von innen mit einem Heizstab erwärmt wurde. Entweder wird dann die Wurst in Ketchup gewendet und ins Brötchen reingesteckt oder man tunkt das Brot mit der Wurst in Ketchup oder beides. Kann man das so ungefähr sagen, Thomas?«, fragte Jan.

»Ich hätte es nicht präziser erklären können. Aber unter uns gesagt, mir schmeckt ein richtiger Hotdog besser, Osten hin oder her«, antwortete Pumpe und fügte hinzu: »Das ist doch das Gleiche mit Grilletta. Den Westen kopiert, aber eben nicht erreicht. Überholen, ohne einzuholen«, ergänzte er mit leichter Häme eine der hohlen Phrasen aus dem real existierenden Sozialismus der DDR.

»Ich lebe jetzt seit 1998 hier im Osten Berlins und kenne weder Ketwurst noch Grilletta. Warum hast du mir das vorenthalten?«, fragte Lisa ihren Mann gespielt entrüstet.

»Ich habe bis heute gar nicht dran gedacht, muss ich gestehen, weil ich es genauso sehe wie Thomas. Beides ist nun nicht so wahnsinnig lecker, geschweige denn kulinarisch anspruchsvoll. Da gibt es wirklich Besseres aus dem Osten, zum Beispiel Würzfleisch oder eine gut gemachte Soljanka«, meinte Jan und Thomas nickte bestätigend.

»Ja, das kenne ich, und manchmal finde ich das auch ganz gut, vor allem in Landgasthöfen«, stimmte Lisa zu.

»Ich mach dir einen Vorschlag: Wenn wir montags unterwegs sind, dann radeln wir mal in die Greifswalder und holen eine Ketwurst und danach zum Alex zum zweiten Gang, Grilletta. Ist doch richtig, dass es da einen Imbiss gibt, der die hat, oder, Thomas?«, fragte Jan.

»Ja, das stimmt. Deren Würzfleisch und Soljanka sind wirklich gut, bei der Grilletta haben sie allerdings schon darauf geachtet, das so hinzukriegen wie damals im Osten. Probieren sollte man es, aber einmal reicht«, bestätigte er.

Die Ladentür öffnete sich, und es kamen zwei Kundinnen herein, denen sich Lisa und Jan zuwandten. Thomas Pumpe verabschiedete sich.

Gegen fünf verließ sie den Laden, um für die Kinder ansprechbar zu sein. Jan blieb bis Ladenschluss um acht Uhr abends. Manchmal änderten sie in letzter Zeit die Schichten, da Ben und Nina mittlerweile keine Betreuung mehr benötigten.

»Guten Tag, Jan«, sagte eine großgewachsene, schlanke, rothaarige Mittvierzigerin leise in einer überraschend tiefen Altstimme, als sie das Geschmackszentrum eine knappe Stunde vor Feierabend betrat.

»Hallo Annabell, wie geht es dir. Warum so förmlich? Ich habe dich ja nun bestimmt schon zwei Monate nicht gesehen. Warst du verreist?«, erkundigte Jan sich.

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragte die Angesprochene und wich seinem Blick aus.

»Nein, wieso sollte ich?«

»Mach es mir bitte nicht so schwer. Hat ohnehin schon viel Überwindung gekostet, wieder herzukommen«, sagte sie verlegen.

»Ach, du meinst wegen dem, was im Club passiert ist?« Jan spielte auf ein sehr explizites Erlebnis auf einer Spielwiese in dem Swingerclub an, den er und Lisa sich für ihren ersten Besuch ausgesucht hatten.

»Na ja, was denn sonst?«, sagte sie leicht eingeschnappt.

»Also Annabell, was immer dort passiert ist, ist dort passiert, und wenn es nach mir und Lisa geht, bleibt es auch dort. Daher gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Und solltest du wegen Götz und Barbara besorgt sein oder ein schlechtes Gewissen haben, dann ist das deine Sache, aber das hat mit uns nichts zu tun. Abgesehen davon ist mein Verhältnis zu Frau Schwartz ohnehin relativ abgekühlt«, teilte Jan gereizt mit.

»Ich wollte es trotzdem erklären, damit es nicht unausgesprochen zwischen uns steht. Immerhin hat es sich um eine sehr intime und ziemlich peinliche Situation gehandelt«, sagte sie und blickte Jan aus ihren grünen Augen direkt an.

»Nun, da du schon dabei bist und wir hier alleine sind im Laden, kannst du mir dein Herz auch ausschütten«, ermunterte er sie.

»Also gut, wie fange ich am besten an?«, fragte sie zögernd.

»Nimm doch einfach eine Stelle, die dir gerade einfällt, und wir können das ja als Patchwork zusammenbauen«, motivierte Jan sie.

»Okay, also … du erinnerst dich vielleicht, als ich dir von Götz erzählt habe«, begann sie.

»Ja, das war auch an einem Abend vor zwei Monaten oder so. Ich weiß noch, dass es unter anderem darum ging, dass er normalerweise keinen Ehering trägt«, sagte Jan.

»Ganz genau. Unsere Affäre hat angefangen, als er meinen Schmuckladen umgebaut und gestaltet hat. Ich muss im Nachhinein sagen, dass diese Beziehung sich eher auf wenige Stunden und ab und zu mal eine Nacht bei mir beschränkt hat. Er hat nie was davon gesagt, dass er verheiratet ist und ich, das gebe ich ja auch ehrlich zu, habe es gar nicht wissen wollen. Aber an dem Abend hast du mir ja klar gemacht, wie die Situation wirklich ist, und dann gab es die Begegnung mit seiner Frau, von der ich bis dato nichts wusste«, erinnerte sich Annabell. Damals war sie im Geschmackszentrum einkaufen gewesen, und kurz vor Ladenschluss war die Ehefrau von Götz Schwartz, Barbara, hereingestürmt, um noch schnell was zu kaufen. Sie hatte von Jan erfahren, wer das war.

»Jedenfalls habe ich ihn am nächsten Tag zur Rede gestellt und war entschlossen, es zu beenden. Aber du hast ja gesehen, dass es anders gekommen ist. Er hat mich eingelullt. Seine Frau sei frigide, und er würde ihre ganze Geltungssucht nicht mehr ertragen und überhaupt sei die Tochter ja nun auch in einem Alter, in dem sie eine einvernehmliche Trennung aushalten könne. Und na klar, beide seien natürlich finanziell großzügig abgesichert. Du kennst ihn ja, er kann überzeugend wirken«, sagte Annabell.

»Allerdings. Das ist sicher einer der Gründe für seinen Erfolg. Bestimmt nicht nur die begnadeten Fähigkeiten als Architekt«, meinte Jan säuerlich.

»Und dann hat er vorgeschlagen, dass wir doch einen Swingerclub besuchen könnten. Ich war noch nie in einem, aber er anscheinend schon mehrfach. Und was er erzählt hat, hat mich neugierig gemacht. Als ich ihn gefragt habe, ob er die vorigen Male mit seiner Frau da gewesen wäre, hat er gesagt, die würde nichts davon wissen. Und da ja die Trennung anstünde, sei das ja auch nun nicht mehr wichtig«, sagte Annabell.

»Hast du ihn denn mal gefragt, mit wem er schon Swingerclubs besucht hat?«, fragte Jan.

»Klar. Er hat behauptet, er sei manchmal allein auf Geschäftsreisen da gewesen, aber noch nie zusammen mit einer Frau«, vertraute sie ihm an.

»Tja, mag sein oder auch nicht«, sinnierte Jan.

»Ach weißt du, ich wollte das ja glauben, so habe ich es gar nicht weiter hinterfragt«.

»Wusstest du übrigens, dass er an dem Pfingstwochenende vorhatte, gemeinsam mit Barbara und Tochter auf den Darß in ihr Ferienhaus zu fahren?«, fragte Jan.

»Nein, und er hat es mir auch anders erzählt. Er hätte seiner Frau gesagt, dass er am Samstag noch einen wichtigen Abendtermin habe und daher erst später an die Ostsee kommen könne«, sagte sie. »Und woher weißt du das?«

»Emily, die Tochter der Schwartzens, und Nina, unsere Tochter, sind befreundet. Manchmal nehmen sie sie mit auf den Darß, so auch an dem Freitag vor Pfingsten«, informierte Jan Annabell. »Da war die Überraschung natürlich ziemlich groß auf der Spielwiese, wie du dir denken kannst.«

»Erinner mich bloß nicht daran. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken«, flüsterte sie mit niedergeschlagenen Augen. »Dass ihr uns ausgelacht habt, hat es nicht gerade besser gemacht. Und das vor allen Leuten.«

»Also da muss ich aber mal widersprechen, wir haben weder über dich noch Götz gelacht, sondern es war eher die völlige Absurdität der Situation. Und dann kommt ja auch die Vorgeschichte dazu«, stellte Jan richtig.

»Welche denn?«, fragte Annabell.

»Kurz vor unserem Besuch hat Barbara Schwartz mich verdächtigt, mit dir eine Affäre zu haben, und sie hat Lisa damit total getroffen«, teilte Jan mit.

»Wie bitte?« Sie war entrüstet.

»Sie hat uns anscheinend an dem Abend beobachtet, nachdem ich den Laden abgeschlossen hatte, und gesehen, wie wir uns zum Abschied umarmt haben. Und daraus hat sie gleich am nächsten Tag diese Verdächtigungen konstruiert, weswegen mein Verhältnis zu ihr sich seitdem noch stärker abgekühlt hat, falls das möglich ist«, sagte Jan.

»Also das ist ja die Höhe«, echauffierte Annabell sich.

»Lisa und ich konnten das schnell aus der Welt schaffen, aber du wirst dir vorstellen können, dass ein gewisses Maß an Genugtuung bei uns mitschwang, als wir im Club sahen, dass wohl Barbara die Betrogene ist. Daher handelte es sich eher um ein befreites Lachen, leider zu deinen Lasten, das gebe ich zu.«

»Ja, das war schon verletzend und der weitere Abend war ein Albtraum. Götz wollte doch tatsächlich danach bleiben, und ich wusste vor Scham nicht wohin. Ich hatte den Eindruck, dass alle gesehen hatten, was passiert war. Ich musste einfach weg. Und da hat er mir gesagt, wenn ich jetzt gehen würde, müsste er auch den Club verlassen, weil einzelne Männer am Paareabend nicht zugelassen seien, und das wolle er nicht. Ich könne mich ja an die Bar setzen und warten, und später könnten wir dann gemeinsam zurückfahren. Ich machte ihm aber sehr deutlich, dass mir das ziemlich egal sei und dass mir seine Egozentrik und sein Narzissmus auf die Nerven gehen würden, und bin gegangen. Ich habe ein Taxi nach Hause genommen und seitdem weder was gehört noch gesehen von ihm. Und ich bin auch nicht traurig drum«, sagte sie, wobei ihr Gesichtsausdruck etwas anderes andeutete.

»Ja, der Götz ist nicht der netteste Mensch auf dieser Welt«, murmelte Jan in sich hinein. »Komm, du bekommst jetzt erst mal einen Schnaps, was hältst du davon?«

»Ach, warum nicht. Ich hatte zwar vor, dir das zu sagen und dann zu gehen, weiß aber auch nicht mehr so genau, weshalb«, sagte Annabell, während Jan zwei Grappagläser füllte.

»Williams-Christ-Birne aus Werder.« Er reichte ihr ein Glas und stieß mit ihr an. »Wohl bekomms.«

»Danke Jan.« Beide tranken etwa jeweils die Hälfte des Inhalts. »Weißt du, eigentlich bin ich sexuell gar nicht sehr erfahren, deshalb war ich ja so gespannt auf den Abend. Ich hatte mir natürlich vorher schon Berichte darüber angesehen oder gelesen, aber die reichen überhaupt nicht an die Realität heran.«

»Ja, das kann ich bestätigen. Das ging uns auch so.«

»Ach so, ich dachte, ihr seid da routinierter, es sah jedenfalls für mich so aus.« Annabell war erstaunt.

»Nein, nein, nein, das war unser erstes Mal, aber wir haben ziemlich schnell alle Hemmungen verloren. Das lag bestimmt auch an dem Paar, mit dem wir zuerst auf der Spielwiese waren. Da wart ihr noch gar nicht da, soweit ich mich erinnere.«

»Nein, wir sind erst gegen halb zehn gekommen, weil Götz meinte, vorher sei meistens gar nicht richtig was los.«

»Das kann ich so nicht bestätigen«, antwortete Jan mit einem vielsagenden Lächeln und trank den Rest aus seinem Glas. Sie tat es ihm gleich.

»Noch einen?«

»Ja, gerne«.

Jan schenkte nach. »Was wirst du jetzt machen?«, fragte er und prostete ihr zu, was sie mit einer Geste erwiderte. Sie leerten ihre Gläser in einem Zug.

»Meinst du in Bezug auf Götz oder auf Swingen?«

»Eigentlich beides«, sagte Jan.

»Also der ist für mich erledigt. Nach diesem Abend gehe ich auch davon aus, dass er seine Geschichten ständig irgendwelchen Frauen erzählt, die ihm gerade über den Weg laufen und die er ins Bett bekommen will. Ich bin auf ihn reingefallen, ja, das muss ich wohl einsehen, ich werde mir das eine Lehre sein lassen«, sagte sie resolut. »Swingen würde ich schon gerne noch mal probieren, aber sicher nicht in dem Club. Ich möchte mir diese Szene trotzdem genauer ansehen. Da gibt es ja bestimmt viel mehr zu erleben als so einen Reinfall, und es ist erregend. Komisch eigentlich, dass ich das hier so offen sagen kann.«

»Nun, wir sind ja sozusagen unter uns, quasi Eingeweihte.«

»Ja, das fühlt sich irgendwie so an«, bestätigte sie, als sich die Ladentür öffnete und ein Mann hereinkam.

»Ich bin gleich wieder bei dir«, sagte Jan. »Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«

Der Kunde entschied sich für Käse und Wurst. Beim Wein, den er ebenfalls kaufen wollte, benötigte er eine Beratung, was längere Zeit in Anspruch nehmen würde.

»Jan, ich komme später wieder«, verabschiedete sich Annabell, die es bemerkt hatte.

»Ja, ist gut. Tschüss«, grüßte Jan, aber sie hatte die Tür schon hinter sich geschlossen und hörte es nicht mehr.

Als Jan um halb neun nach Hause kam, hatte Lisa einen kleinen Imbiss fertiggemacht.

»Oh, das ist ja großartig. Das haben wir auch schon länger nicht mehr gegessen«, stellte er begeistert fest.

»Ich weiß doch, wie gern du das isst, und da habe ich auf dem Heimweg noch ein wenig Rind eingekauft.«

»Und fleißig geschnippelt und geklopft, wie ich sehe.«

»So wie du es am liebsten magst.« Sie goss ihm einen leichten, gekühlten Weißwein ein. Sie setzten sich an den Küchentisch.

»Prost, mein Liebster«, sagte Lisa.

»Prost, meine Liebste. Ist übrigens mal wieder sehr lecker«, stellte er fest.

»Vielen Dank. Ist ja auch mit Liebe und Ingwer bereitet.«

»Und genauso schmeckt es. Sind die Kinder eigentlich nicht da. Ich höre gar nichts?«

»Nein, Nina übernachtet heute bei Emily und Ben bei Jona«, sagte Lisa.

»Witzig, die gleiche Konstellation wie vor unserem ersten Club-Besuch«, erinnerte sich Jan. »Ist auch schon recht lange her. Übrigens war Annabell heute wieder mal da.«

»Dass die sich noch traut«, sagte sie ärgerlich.

»Wieso nicht? Außer uns weiß doch keiner Bescheid …«, fing Jan an.

»Trotzdem, ich sehe es nicht gern, wenn sie wieder bei uns einkauft«, beharrte sie.

»Also Lisa, jetzt bitte ich dich. Barbara hat mir eine Affäre mit Annabell angedichtet, obwohl nichts dran war. Dann rechne bitte mit Frau Schwartz ab und nicht mit einer Kundin, die nichts damit zu tun hat«, stellte Jan ärgerlich klar.

»Na gut. Du hast ja recht. Eigentlich hat Annabell eher den Schaden gehabt, das gebe ich zu. Was mich wohl am meisten nervt, ist, dass Barbara Schwartz nichts davon weiß, wie sie hintergangen wird, uns aber geschadet hat.«

»Ich habe dir ja schon gesagt, von mir aus kannst du sie rausschmeißen.«

»Ja, und ich habe dir gesagt, dass ich das nicht will, weil Emily und Nina befreundet sind«, konterte sie gereizt.

»Vorschlag zur Güte. Ich erzähle dir, was Annabell mir erzählt hat, und dann sehen wir weiter, was wir machen. Was hältst du davon?«

Lisa stimmte zu, und nachdem Jan fertig war, sagte sie: »Okay, das ist sehr aufschlussreich für mich. Dieser miese Arsch.«

»Nicht wahr, der Herr Schwartz ist schon ein richtiges Herzchen. Ich muss allerdings sagen, dass es mir nicht die Tränen in die Augen treibt, wenn ich an Barbara denke«, sagte Jan.

»Nein, mir auch nicht. Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendwann rauskommt, und dann wird Emily die Leidtragende sein, oder zumindest die, deren Schicksal mich berührt.«

»Aber Emily wird nun sechzehn, und selbst wenn es zur Scheidung kommt, wird sie gut versorgt sein. So wie ich das sehe, ist sie schon recht selbstständig und wird das nutzen, wenn sie mehr finanzielle Zuwendung bekommt«, sagte Jan.

»Ja, materialistisch ist sie. Kein Wunder bei den Eltern. Ich will aber eigentlich nicht über die Schwartzens reden.«

»Ist mir auch lieber. Wir waren doch ohnehin gerade beim angenehmen Thema Swingerclubs. Wir könnten ja mal schauen, ob Cora und Ralf irgendwelche Dates eingetragen haben.«

»Gute Idee. Ich seh mal schnell nach«, sagte Lisa und rief auf dem auf dem Küchentisch liegenden Tablet die Seite von Passion and Joy auf.

»Oh, interessant, die haben tatsächlich einen Clubbesuch geplant.«

»Ach, und wann und wo?«, fragte Jan.

»Am dreißigsten August. Der Club heißt Arizona in Leipzig.«

»Das können wir gut hinbekommen. Die Kinder dürfen sich an dem Wochenende mal hier alleine verlustieren, denke ich«, sagte Jan.

»Ja, das werden die schon hinkriegen. Übrigens hat der Club auch einige Gästezimmer, sehe ich gerade. Da könnten wir doch eines buchen«, meinte Lisa.

»Och wieso, ist doch warm. Ich würde sagen, wir übernachten im Bus. Da sind wir auch flexibler, oder was meinst du?«, fragte er.

»Hast eigentlich recht. Gut, dann melde ich uns an und schreibe den beiden, dass wir auch kommen.«

»Genau, und du mehrfach«, fügte Jan lüstern hinzu.

»Ganz bestimmt. Alleine wenn ich an den Film der beiden denke, werde ich nass.«

»Das sollten wir ausnutzen, immerhin sind wir ja heute Abend allein. Bei Nässe fällt mir übrigens ein, dass ich noch einen Kaffee vertragen könnte, sonst schlafe ich gleich ein.«

»Aber gerne. Ich mache uns einen. Mit Milch?«, fragte Lisa.

»Komisch, wo du gerade Milch sagst, muss ich an den Juni ´99 denken.«

»Liegt bestimmt daran, dass wir beide heute noch so geil sind wie damals«, meinte Lisa.

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