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ОглавлениеPferde und Bolognese
Berlin, 22. August 2014
Jetzt ist genug, dachte sie, als sie spürte, wie sich die Wellen in ihrem Körper fortsetzten, die Feuchtigkeit an ihren Schenkeln herunterperlte, und so riss sie das Ruder der Jolle herum, um die Wende einzuleiten.
Kurzgeschichte von Ralf und Cora auf Passion and Joy
»Ich habe beschlossen, ab jetzt vegan zu leben«, verkündete Nina, als sie nach Hause kam. Sie war Jan wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre braunen, gestuften Locken kringelten sich in ihrem Nacken, die braunen Augen hatte sie provozierend auf ihre Mutter gerichtet. Es war kurz nach zwei nachmittags, und Lisa war gerade in der Küche und bereitete einige Dips vor, die zu den Bouletten gehörten, die sie im Geschmackszentrum als Imbiss servierten, denn am heutigen Montag war dort Ruhetag.
Lisa ließ ihren Blick über die junge Frau gleiten, die ihre sportliche Figur mit der schmalen Hüfte und ihre festen Brüste unter Jeans und ein T-Shirt verbarg. Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete. »Aha, und woher kommt dieser Sinneswandel?«
»Wegen des Schulpraktikums, das ich jetzt mache.«
»Aber das ist doch in diesem Second Hand Laden. Wie kommst du da auf vegan?« Lisa war ehrlich erstaunt.
»Das ist nicht nur Second Hand, da geht es um Ressourcenschonung, Upcycling und einen insgesamt nachhaltigen Lebensstil. Und da gehört Veganismus eben dazu.«
»Nina, ich will dir da nicht reinreden, denn ich denke, du bist alt genug für eine solche Entscheidung. Aber dann werden wir, oder in dem Fall wirst du, als zukünftige Minderheit hier im Haushalt, verstärkt beim Einkaufen mithelfen. Schließlich wirst du ja am besten wissen, was du essen willst und was nicht.«
»Aber wieso, ihr könnt doch einfach mehr Gemüse und so was kaufen. Da muss ich doch nicht mit.«
»Du willst vegan leben, wir nicht. Schon vergessen? Also übernimmst du die Verantwortung dafür! Ich gehe überdies davon aus, dass du geeignete Regeln für die Kühlung aufstellst. Schließlich sollen deine Produkte vermutlich nicht mit tierischen Bestandteilen kontaminiert werden, nicht wahr«, sagte Lisa, wobei sie ‚kontaminiert‘ in einem leicht angewiderten Tonfall herausbrachte.
»Aber kann das nicht einfach wie bisher weiterlaufen? Ich meine, das meiste ist doch in Boxen abgepackt. Das ist doch voneinander getrennt«, sagte Nina nörgelig.
»Ja, das meiste schon, aber eben nicht alles. Da ich keinen Konflikt haben will wegen deiner Entscheidung, vegan zu leben, hast du alles dafür zu tun, einen solchen zu vermeiden, sprich, dass nicht vegane und vegane Lebensmittel keine Berührung zueinander haben. Gerade dein Herr Bruder ist da vermutlich wenig sorgfältig. Alternativ dazu kannst du dir auch einen eigenen Kühlschrank zulegen und bei dir ins Zimmer oder in den Keller stellen.«
»Aber dafür habe ich doch kein Geld«, kam die Antwort kleinlaut.
»Wieso das nicht? Du hast dein Kleidergeld«, stellte Lisa klar.
Jan und sie hatten eingeführt, dass die Jugendlichen einen Gesamtbetrag pro Monat bekamen, der Taschen- und Kleidergeld beinhaltete. So waren sie von der Notwendigkeit befreit, mit den Kindern Klamotten kaufen zu gehen, und die wiederum lernten mit ihrem Geld hauszuhalten. Vor allem Ben hatte im letzten Winter erfahren, dass warme Schuhe insbesondere dann nützlich sein können, wenn man welche hat. Da er leider nichts dafür zurückgelegt hatte, war es für ihn eine Zeit lang ziemlich kühl an den Füßen gewesen. Schließlich hatte sich Lisa erbarmt und ihm einen Vorschuss auf zukünftiges Kleidergeld gegeben.
»Ja, aber das ist für Kleider und nicht für Kühlschränke.«
»Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt. Es müssen Regeln für die gemeinsam genutzte Kühlung her. Entweder das, oder du musst dir was anderes einfallen lassen. Ich beabsichtige jedenfalls nicht, weil meine Frau Tochter sich mit einem Mal zur Veganerin entwickelt, meinen Lebensstil zu ändern. Ist das angekommen?«, fragte Lisa erbost.
»Ja Mama«, sagte Nina kleinlaut. »Ich fahre dann zum Reiten und bin gegen sieben wieder da.«
»Jetzt bin ich überrascht. Dir ist schon klar, dass zum Veganismus gehört, keine Tiere in irgendeiner Form auszubeuten, oder?«
»Das schon, aber reiten ist ja kein Ausbeuten. Das gefällt den Pferden«, sagte Nina voller Überzeugung.
»Es gefällt ihnen also, sagst du. Und das weißt du woher genau? Hast du sie darüber befragt? Durften sie das selbst entscheiden? Wollten sie dafür gezüchtet werden, damit Mädchen aus dem Prenzlauer Berg auf ihnen reiten? Ich bin keine Biologin, aber das Wenige, was ich von Pferden weiß, ist, dass sie ursprünglich asiatische Steppentiere waren und schon länger als Menschen existieren. Kam mal im Fernsehen. Damit würde ich ausschließen, dass sie zum Reiten geschaffen worden sind. Ergo, Reiten und Veganismus schließen sich aus. Oder bist du jetzt vielleicht keine Veganerin mehr?«, fragte Lisa scharf.
Statt einer Antwort verließ Nina wortlos die Küche, und kurz darauf war das laute Schlagen einer Tür zu hören.
Kaum verklungen, kam Jan herein.
»Was ist denn hier los?«
»Deine Tochter ist Veganerin geworden und hat damit offenbar Probleme«, sagte Lisa immer noch sauer.
»Tut mir leid, aber da komme ich nicht mit. Kannst du mir dabei auf die Sprünge helfen?«, fragte er.
Lisa schilderte ihm, was passiert war.
»Tja, was soll ich sagen? Ich sehe es genau wie du. Ich denke aber auch, Nina ist da jetzt in einer Findungsphase. Sie begeistert sich heute für Veganismus und morgen vielleicht für was anderes. Ich glaube nicht, dass ihr die Konsequenzen genau klar sind, wie sich ihr Leben dadurch ändern würde. Ich rede mal mit ihr, okay?«
»Ja, bitte mach das. Ich habe dazu momentan nämlich überhaupt keine Lust.«
Jan ging zur Zimmertür von Nina und klopfte an. »Ich bin es. Kann ich reinkommen?«
»Ja«, kam eine muffige Stimme von drinnen.
»Mama sagt, du bist jetzt Veganerin«, startete er.
»Ja, und sie will, dass ich nicht mehr reite«, erwiderte Nina sauer.
»Hat sie das denn so gesagt?«
»Sie hat gesagt, Veganer reiten nicht, weil sie die Tiere nicht ausnutzen sollen.«
»Das hört sich aber anders an als ein Verbot. Ich glaube, du darfst ruhig reiten gehen von Mama aus. Sie sieht da bloß einen Widerspruch. Du siehst den aber nicht, oder?«, fragte Jan vorsichtig.
»Ich habe im Internet in Veganerforen was über Reiten nachgelesen, und da gehen die Meinungen auseinander, das stimmt schon. Aber einige machen es und einige nicht«, sagte Nina. »Was ich gefunden habe, ist, dass sich alle einig sind, dass Wettkämpfe und so nicht gehen, weil da die Tiere kommerziell ausgenutzt werden. Das sehe ich genauso. Aber das mache ich ja nicht.«
»Weißt du, ich finde, du musst dir deine Meinung selber bilden. Dein Entschluss ist ja noch ganz frisch. Ich glaube, Reiten ist gar nicht das, was am drängendsten ist, oder?«
»Nein, ist es auch nicht. Ich meine, ich habe mich schon damit mal beschäftigt, aber heute im Praktikum, das war so cool, dass ich es wenigstens mal probieren will. Und die Ideen mit Nachhaltigkeit und Tierwohl und weniger Fleischverbrauch und so finde ich ja auch total gut. Und mir gefällt, dass da jeden Tag gekocht wird. Ich bin übrigens auch diese Woche noch dran.« Ninas Frust war verflogen.
»Dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich zeige dir mal ein Rezept für eine vegane Bolognese, die ich früher so ähnlich in einem Restaurant gemacht habe. Damit kannst du bestimmt punkten, und es ist gar nicht so schwer. Du müsstest bloß einkaufen dafür. Hast du Lust?«
»Ja, total.«
»Gut, dann gebe ich dir die Zutaten«, sagte er und zählte auf, was alles dazu gehörte. Nina schrieb in ihrem Smartphone mit.
»Ich gehe gleich los. Gibt es doch bestimmt im Bioladen, oder?«, fragte sie.
»Da bin ich sicher. Hier hast du dreißig Euro. Das sollte für uns vier reichen, und dann essen wir das heute Abend zusammen und du hast schon einmal geübt, wenn du mit Kochen im Laden dran bist. Du wirst sehen, dass das sehr lecker ist.«
»Danke Papa.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und war verschwunden.
»Ich denke, wir sollten ihr ein bisschen Zeit geben in dieser Phase. Sie kann ja nicht sofort hundert Prozent vegan sein, wenn sie noch nicht mal genau weiß, was das alles bedeutet«, sagte Jan, als er in die Küche zurückkam.
»Ja, stimmt. Ich habe ein wenig überreagiert. Gut, dass du das glätten konntest. Und wie seid ihr jetzt verblieben?«, fragte sie.
Jan erzählte kurz von dem Gespräch.
»Oh, da bin ich ja gespannt, was das gibt. Mit Tofu hast du bisher noch nie was gemacht. Offenbar gibt es noch dunkle Punkte in deiner Vergangenheit, die du mir bisher verschwiegen hast.«
»Wieso dunkle Punkte? Ich war ja auch in Kneipen in Kreuzberg, wo schon vor vielen Jahren Vegetarier und Veganer hingekommen sind. Zwar wenige, aber doch ausreichend viel, um sie zu beachten. Und da hatten wir so ein paar Standardgerichte, die günstig waren und guten Anklang fanden. Zugegeben, mein Rezept für Nina ist ein bisschen verbessert im Vergleich zu dem, was wir damals serviert haben. Immerhin gab es da noch keine Kräuterseitlinge.«
»Mal sehen, was daraus wird. Ich denke, das ist so ein Spleen von ihr«, sagte Lisa zweifelnd.
»Und wenn schon, sie soll das einfach ausleben. Dann weiß sie, wie das ist. Die Einschränkungen treffen ja sie und nicht uns. Das wird sie schnell begreifen«, stellte Jan nüchtern fest. »Ich muss noch ein bisschen Buchhaltung machen, bevor sie wieder da ist.«
»Und ich mach die Dips fertig«, sagte Lisa.
In dem Moment klingelte Jans Smartphone.
»Lorenzen«, meldete er sich.
Am anderen Ende wurde anscheinend gesprochen, denn Jan hörte zu.
»Das ist ja super, Papa, wann können sie loslegen?«
Wieder lauschte er.
»Das würde bedeuten, dass Mitte Dezember alles fertig ist. Dann schlag ich vor, wir verbringen Weihnachten da. Mit Wellness und allem.«
Lisa wurde hellhörig.
Er hörte wieder zu und sagte dann: »Schickst du uns bitte Bilder vom Fortgang per WhatsApp?«
Pause.
»Vielen Dank, Papa. Das hilft uns sehr. Grüß Mama von uns. Tschüss.«
»Weihnachten in Nordfriesland. So viel habe ich verstanden«, sagte Lisa.
»Ja, mein Vater hatte gerade die Anlaufbesprechung mit den Handwerkern. Die fangen Mitte September an, und er übernimmt auch die Bauleitung. Er geht davon aus, dass sie bis Mitte Dezember fertig werden.«
»O Jan, das ist klasse. Darauf freu ich mich schon. Das war doch eine gute Idee, das Haus auszubauen.«
Als sie im vergangenen Osterurlaub ein luxuriöses Feriendomizil gemietet hatten, beschlossen sie, ihr eigenes Ferienhaus in Nordfriesland ebenfalls durch einen ausgedehnten Wellnessbereich zu erweitern. Sie hatten dieses Objekt als Teil ihrer Altersvorsorge im Jahr 2009 gekauft und ließen es über eine Agentur warten und vermieten. Denn ihnen war bewusst, dass sie als Selbstständige für ihre Rente eigenverantwortlich vorsorgen mussten. Jans Vater, der in der Nähe von Hamburg wohnte, hatte angeboten, den Bau zu koordinieren und zu überwachen. Als ehemaliger Leiter des Services eines großen Landmaschinenhandels hatte er ein gutes Händchen im Umgang mit Handwerkern und einen scharfen technischen Sachverstand, sodass Lisa und Jan das sehr gerne angenommen hatten.
»Dein Vater ist so eine Seele. In solchen Momenten werde ich immer neidisch.«
»Das ist mir gar nicht so bewusst, denn das ist bei uns in der Familie ganz normal. Nur weil meine Eltern in Rente sind, heißt es ja nicht, dass sie nichts mehr tun könnten. Papa hat gerne solche Aufgaben, da geht er richtig drin auf. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er auch über die Altersgrenze hinaus im Betrieb weiter gearbeitet.«
»Ich weiß das alles, aber diese Selbstverständlichkeit kenne ich nicht aus meinem Elternhaus. Mein Vater jedenfalls würde das nicht machen.«
»Na ja, der ist Jurist. Daher wäre er sicher nicht der Richtige für so was. Und außerdem ist er ja nach wie vor berufstätig und würde auch keine Zeit haben.«
»Er würde aber nie von selbst darauf kommen, so was anzubieten«, sagte Lisa resigniert.
»Aber er würde, wenn du darum bittest, vermutlich einen Bauaufseher bezahlen.«
»Ja, wahrscheinlich würde er das machen. An Großzügigkeit mangelt es nicht, eher an gelebter Zuneigung.«
»Ach Lisa, dein Vater ist nicht so kaltherzig, wie du ihn darstellst. Männer in seiner Position sind ganz oft reserviert, weil sie sich keine Blöße vor anderen geben wollen. Wenn ich mir überlege, was für eine Verantwortung er trägt, dann kann ich das schon verstehen, auch wenn ich es nicht gut finde.«
»Die Kinder mögen auch nicht so gerne bei meinen Eltern sein.«
»Das stimmt, aber das ist ja wohl verständlich. Wir beide sind uns ja einig darin, dass Kinder nervig sein können. Außerdem sind sie hemmungslose Egoisten. Zumindest so lange sie nicht in der Pubertät sind. Dann sind sie verrückte, hemmungslose Egoisten, und das ganz schön oft. Und meine Eltern verwöhnen sie und gehen auf die beiden ein, deine eben nicht. Zwar finde ich es ganz angenehm, dass wir sie, wenn es nötig ist, zu meiner Mama und meinem Papa schicken können. Aber andererseits finde ich es nicht so gut, dass sie da alles dürfen. Und deine Eltern sind da eben anders. Aber damit sind sie nicht schlechter, nur weniger bequem für die Dame Nina und den Herrn Ben.«
»Stimmt auch wieder. Es ist eben manchmal nur so, dass ich mir auch so eine Zusammengehörigkeit in der Familie gewünscht hätte.«
»Verstehe ich gut, aber das kann ich leider nicht ändern. Trotzdem kannst du davon profitieren, dass meine Eltern so sind, wie sie sind. Und sie haben dich und die Kinder doch ins Herz geschlossen.«
»Das weiß ich, und das macht mich glücklich. Sie sind ja fast mehr Familie für mich als meine eigenen Eltern«, fand Lisa.
»Sag doch nicht so was. Auf ihre hanseatische spröde Art haben dich deine Eltern sehr lieb, und ich empfinde schon lange keinerlei Abneigung oder gar Zurücksetzung mehr. Ich finde, sie haben diesen Standesdünkel, wie du es nanntest, der ja am Anfang wirklich da war, abgelegt. Jedenfalls merke ich davon nichts mehr«, stellte Jan fest.
»Ja, das ist wahr. Das liegt vermutlich mit daran, dass sie sich in den letzten Jahren mehr und mehr auch in sozialen Projekten engagieren, oder sagen wir mal richtiger: dafür Geld zusammenbringen.«
»Das ist auch eine Form des Engagements, und nicht die schlechteste«, sagte Jan, »denn deine Eltern haben ein Umfeld, in dem es viel Geld gibt, das man nur richtig anzapfen muss. Und das können sie, vor allem dein Vater. Das finde ich schon sehr gut, zumal sie es ja freiwillig und mit viel persönlichem Einsatz machen.«
»Du siehst die Welt immer positiv, selbst meine Eltern. Das liebe ich an dir so sehr«, sagte Lisa und gab ihm einen Kuss. »Aber die Welt wird sicher noch besser, wenn ich jetzt die Dips fertig mache, denn danach brauchst du ja mit Nina die Küche, so wie ich es verstanden habe.«
»Das ist wahr. Sobald sie zurück ist, fangen wir an.«